Außerhalb von Lübeck ist er kaum bekannt, aber Hans Kemmer (1495-1561) war ein achtbarer Künstler, der unter anderem bei Lucas Cranach dem Älteren gelernt hatte und zum bedeutendsten Maler des protestantischen Lübecks aufstieg – auch deshalb, weil er sowohl für katholische als auch für evangelische Kunden arbeitete.
Es klingt heute etwas unglaubwürdig, aber Lübeck war einmal eine wirklich bedeutende Stadt, die ihr „lübisches Recht“ im ganzen Ostseeraum verbreitete, fettes Geld verdiente, andere Städte anzündete und sich überhaupt so unbeliebt wie möglich machte. Ausgangs des Mittelalters waren in dieser Metropole des Ostseeraumes nicht nur die Pfeffersäcke, sondern noch zusätzlich diverse Künstlerwerkstätten ansässig, so dass die Stadt nicht allein Fisch oder Salz exportierte, sondern auch Kunst – gelegentlich sogar große Kunst.
Nach 1531 war alles anders. Denn 1530/31 hielt die Reformation in Gestalt des Wittenberger Predigers Johannes Bugenhagen Einzug in Lübeck, und wenngleich die Lübecker nicht zu Bilderstürmern mutierten und keinesfalls Bilder oder Altaraufsätze vernichteten – das tat man schon des lieben Geldes wegen nicht –, so sank die Bedeutung der sakralen Kunst doch dramatisch. Vorher gab es ungefähr dreißig bis vierzig Bildschnitzerwerkstätten und zwanzig Goldschmiede, und Lübeck war die Heimat von Bernt Notke, einem im ganzen Ostseeraum tätigen Künstler, an den bis heute das große Triumphkreuz im Dom erinnert. Danach aber fanden sich nur noch ganz wenige Werkstätten, und von einem zuvor angesehenen Meister weiß man, dass er sich als schlichter Anstreicher durchschlagen musste.
Die Reformation war Malern wie Bildhauern nicht sehr günstig gesonnen. Für Luther war Christi Reich ein hör Reich, nicht ein sehe Reich«, wie es in seiner Schrift „Über Bilderbücher“ heißt. Aber der Reformator war längst nicht so bilderfeindlich wie Huldrych Zwingli in Zürich oder wie Luthers Widerpart Andreas Karlstadt in Wittenberg, der gegen alle Künste wütete: „Das geschnitzte und gemahlte Olgotzen uf den altarien stehnd ist noch schadelicher und Teufelischer.“
Auch wenn die Bilderfeindlichkeit nicht überall ausgeprägt war, so fielen doch die Kirchen und Klöster als Auftraggeber fast ganz aus, und viele Künstler verfielen der Armut – natürlich auch in Lübeck. Aber nicht Hans Kemmer, der in Lübeck der erste Künstler am Platz wurde und sich in seinen letzten Lebensjahren sogar ein schönes Haus in der Königstraße leisten konnte. Im St. Annen-Museum ist er schon seit langem gut vertreten, und jetzt hat dieses Haus seiner ohnehin schon beträchtlichen Sammlung von acht seiner Bildnisse ein neuntes hinzufügen können. Es hängt in den spätgotischen Räumen – der Ort könnte besser nicht gewählt sein! – neben zwei kleinen Arbeiten von Cranach, die Martin Luther und Philipp Melanchton zeigen.
Bildnis Christoph Tiedemann, 1556, Malerei auf Holz, 58,7 x 37,7 cm. Foto: St. Annen Museum, Lübeck. Fotoarchiv
Das Bild wurde 1560 angefertigt – 1565 sollte Kemmer sterben, bereits 1561 der von ihm porträtierte Christoph Tiedemann, der jüngere Bruder des letzten katholischen Bischofs von Lübeck und selbst seit 1556 Domdekan. Kemmer, Schüler des wichtigsten protestantischen Künstlers dieser Zeit, malte also einen hohen altgläubigen Geistlichen. Eine schöne Stellung muss der eingenommen haben! Seine ganze Haltung zeugt von Selbstbewusstsein und Reichtum, und sein etwas feistes Gesicht mit dem zweigeteilten Bart erinnert an Heinrich VIII. von England. Wie dieser trägt er einen Pelz. (Ist es verkehrt, das Bild das protestantische Porträt eines katholischen Geistlichen zu nennen?) Im Hintergrund stehen zwei Eidechsen einander auf der Fensterbank gegenüber, was als Symbolisierung der Kirchenspaltung gedeutet wird, und dahinter erstreckt sich eine voralpine Landschaft, die nicht wirklich an die sanften Endmoränen Schleswig-Holsteins erinnert.
Sofort ins Auge fallen Tiedemanns Hände, die viel zu groß sind und, obzwar gepflegt – dieser Mann brauchte nicht mit seinen Händen zu arbeiten! –, ziemlich grob. Ganz merkwürdig ist es, wie sie gefaltet sind, denn während sich doch, wenn ein Mensch seine Hände faltet, die Finger der einen mit denen der anderen abwechseln, liegen hier kleiner Finger und Ringfinger der linken Hand direkt neben- oder übereinander, ohne dass sich ein Finger der anderen, der rechten Hand dazwischengeschoben hätte. Ist das nur ein Fehler des Künstlers, oder kommt der Lage dieser beiden Finger eine symbolische Bedeutung zu?
2007 wurde das Bild bei Sotheby’s in New York an einen Privatsammler versteigert, von dem es jetzt, nachdem es bereits vor zwei Jahren in der großen Kemmer-Ausstellung in Lübeck gezeigt worden war, mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder erworben wurde. 2012 hatte Annette Kranz, als Künstler Hans Kemmer in einem Aufsatz identifiziert, und eine spätere Infrarotuntersuchung, bei der die Vorzeichnung sichtbar wurde, hat diese Zuschreibung bestätigt. Es ist eine schöne Ergänzung der ohnehin ganz wunderbaren Sammlung dieses Museums.
Bildnis Christoph Tiedemann
Porträt des Lübecker Domherrn Christoph Tiedemann, erkennbar an dem Wappen an der Wand hinter ihm. Der Dargestellte ist nach links gewandt in einem Interieur dargestellt. Er trägt einen Bart und ein Gewand aus Samt und Pelz, dazu ein schwarzes Samtbarett. In den gefalteten Händen hält er ein Taschentuch mit den darauf gestickten Initialen "Y" und "M" und trägt sieben goldene Ringe (einer davon ein Siegelring, mit dem gleichen Wappenschild wie oben geschmückt). Links sind zwei Eidechsen auf der Fensterbank, die den Blick auf eine Festung in einer Landschaft freigibt.
- Weitere Informationen (St. Annen Museum)
- Weitere Informationen (Kulturstiftung der Länder)
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