Die kleine Stadt Naumburg im Süden von Sachsen-Anhalt lockt mit einer spektakulären Ausstellung „Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen“.
Auf einer Ausstellungsfläche von 2.500 Quadratmetern werden etwa 800 Exponate davon 300 Leihgaben präsentiert. Zentraler Mittelpunkt ist der Dom St. Peter und St. Paul mit der Marienkirche und der Domklausur. Das Schlösschen am Markt, das Stadtmuseum Hohe Lilie, die Johannes- und Aegidienkapelle sowie der rekultivierte Domgarten komplettieren die Ausstellung thematisch. Wer war dieser Meister, der Mitte des 13. Jahrhunderts die Bildhauerkunst revolutionierte? Dieser Frage versucht die Ausstellung anhand detaillierter Beispiele nachzugehen.
Mit der Verlegung des Bischofsitzes von Zeitz nach Naumburg, dem Sitz der Markgrafen von Meissen, entstand Mitte des 11. Jahrhunderts der erste romanische Dom in Naumburg. Gut 100 Jahre später entsprach dieser Dom nicht mehr dem modernen Zeitgeist. In Frankreich war ein neuer Stil in der Kirchenbaukunst entstanden, der zu Beginn des 12. Jahrhunderts innovative Veränderungen in Architektur, Plastik, Malerei sowie der Glasfensterkunst hervorbrachte. Von der französischen Region Île-de-France ausgehend, trat dieser gotische Architekturstil seinen Siegeszug durch Europa an. Dem konnten und wollten sich die ehrgeizigen Naumburger Bischöfe und das Domkapitel nicht verschließen. Man plante den Umbau des alten sowie einen Neubau des Domes im gotischen Stil: Eine kreuzgratgewölbte dreischiffige Pfeilerbasilika mit Querhaus, Ost- und Westchor, Kapellen und vier Türmen sowie einem Kreuzgang und einer Domklausur entstand. Bauplastische Dekore schmücken die Architektur von Mauerwerk und Portalen. Das Stufenportal der südlichen Vorhalle zeigt eingestellte Säulen mit ornamentierten Kapitellen, die ihre Fortsetzung in den Archivolten finden. Das Tympanon schmückt ein Relief des segnenden Christus in einer Mandorla, die Gesetzestafeln haltend. Er wird flankiert von zwei schwebenden Engeln. Das Portal gewährt Einlass in den inneren Kirchenraum. Die in bunten Farben gehaltenen Fensterflächen vom Langhaus und den Seitenschiffen sowie die hohen Spitzbogenfenster der beiden Apsiden tauchen den Innenraum in ein geradezu „überirdisches“ Licht. Das von Kreuzgratgewölben überspannte Langschiff ist von zwei Lettnern gegliedert, die früher der Trennung von Geistlichkeit und Laiengemeinde dienten. Vor dem östlichen Chor liegt der aus romanischer Zeit stammende Lettner.
Mitte des 13. Jahrhunderts gab der damalige Bischof Dietrich II. von Wettin die Ausstattung des Westchores mit Lettner und zwölf Stifterfiguren in Auftrag. Er wurde vom „Naumburger Meister“ – dem Protagonisten dieser Ausstellung – ausgeführt. Die architektonische Formensprache des Westlettners erinnert an gotische Kirchenfassaden. Das zweibogige, dreieckige Stufenportal weist im Giebelfeld einen Vierpass auf, welcher die gemalte Darstellung Christi als Weltenrichter umrahmt. Der Eingangsbereich thematisiert die Kreuzigung. Der Trumeau-Pfeiler ist geschmückt mit der Figur des Gekreuzigten. Pfeiler und Türsturz ahmen das hölzerne Kreuz nach. In die Gewände des Portals sind Skulpturen der Gottesmutter Maria und des Apostel Johannes eingestellt. Das Tympanon über dem Eingang zeigt zwei Engel mit den Marterwerkzeugen Christi. Oberhalb der seitlichen Architekturdarstellungen überspannt ein Relief die gesamte Front. Eingebettet in eine gotisierende Scheinarchitektur sind acht Szenen aus der Passionsgeschichte dargestellt.
Nach dieser Beschreibung muss die unglaubliche Plastizität von Figuren und Ornamentik hervorgehoben werden. Fries und Kapitelle weisen eine filigrane, detailgetreue Wiedergabe der einheimischen Kräuter- und Pflanzenwelt auf. Erwähnt seien Weinreben, Blätter der Haselnuss, des Feldahorns oder des Beifuß. Die Personen der Reliefs zeichnen sich aus durch eine lebhafte Mimik sowie eine dynamische Körperhaltung, welche die Dramatik des Passionsgeschehens unterstreichen. Die lebensgroßen Figuren der Gottesmutter und die des Johannes belegen in Körperhaltung, Mimik und Gestik den inbrünstigen Schmerz und die tiefe Verzweiflung über den leidenden Christus. Die langen faltenreichen Gewänder akzentuieren ihre trauernde Haltung.
Das narrative Bildprogramm des Lettners führte den des Lesens unkundigen mittelalterlichen Gläubigen die dramatische Leidensgeschichte Christi vor Augen. Auch heute üben die skulpturalen Darstellungen eine enorme Faszination aus und involvieren den Betrachter in das biblische Geschehen.
Nach Durchschreiten des Portals eröffnet sich dem Besucher ein quadratischer, mit einem Kreuzrippengewölbe überspannter Chor mit polygonaler Apsis. Fünf, etwa 17 Meter hohe Fenster mit in Blei gefasster Glasmalerei thematisieren die Darstellung mittelalterlicher Heiligen sowie Episoden aus dem Alten und Neuen Testament. Eine Reihe aus Säulen und spitzbogigen Arkaden erhebt sich über den Chorstühlen. Hier sind die lebensgroßen Stifterfiguren von Gerburg und Konrad sowie Gepa und Dietrich eingestellt. Am Übergang vom Chorquadrat zur Apsis stehen auf Höhe der südlichen Säulenreihe das Stifterpaar Markgraf Hermann und seine Frau, Markgräfin Reglindis. Vis à Vis ist Markgraf Ekkehard II. und seine Gemahlin, Markgräfin Uta positioniert. Die Grafen Dietmar, Syzzo, Wilhelm und Thimo sind vor die Säulen der Apsis platziert. Alle Skulpturen sind bekrönt durch Baldachine mit Miniaturarchitektur. Des weiteren stehen alle Skulpturen im Kontrapost, was zu einem kaskardenartigen Faltenwurf der Gewänder führt unter dem sich schemenhaft die Körperteile abzeichnen. Die zeitgenössische Kleidung der Stifterfiguren entspricht der Mode des Hochadels und unterstreicht den hohen Status ihrer Träger. Die männlichen Stifter, mit Unterkleid und Mantel bekleidet und ausgestattet mit Schwert und Dreieckschild, symbolisieren den Ritterstand. Alle zeigen eine individuelle Haltung und Physiognomie sowie eine variantenreiche Mimik. Völlig anders skulpiert sind die weiblichen Figuren. Sie formulieren das Idealbild der verheirateten höfischen Frau. Liebreizend anzuschauen, grazil und würdevoll in Körperhaltung und Mimik präsentieren sich die weiblichen Skulpturen dem Betrachter. Unter dem drapierten Mantel ist das Kleid sichtbar; das Haar ist züchtig unter dem Gebende, einer unter dem Kinn gebundenen Kopfbedeckung, versteckt; Kronen sowie zahlreiche Schmuckstücke deuten einen materiellen Reichtum an. Aus dem Rahmen der Frauengestalten fällt die verschmitzt lächelnde Reglindis. Dagegen beflügelt die kühle, aristokratische Schönheit der Uta bis heute die männliche Fantasie. So schwärmte der italienische Historiker und Autor Umberto Ecco: ,,Wenn Sie mich fragten, mit welcher Frau in der Geschichte der Kunst ich gerne essen gehen und einen Abend verbringen würde, wäre da zuerst Uta von Naumburg.“
Wer den Stifterfiguren „face to face“ gegenüber treten möchte, sollte das Stadtmuseum Hohe Lilie besuchen. Hier stehen im Spiegelsaal die kolorierten Abgüsse der Figuren. Ob die Stifterfiguren der Realität entsprechen, erscheint spekulativ, denn die Skulpturen entstanden etwa 200 Jahre nach dem Tode der Stifter.
Der Naumburger Meister hat mit dem Westchor ein Ensemble geschaffen, das durch eine facettenreiche Gestaltung und eine unglaubliche Lebendigkeit der Skulpturen besticht. Obwohl der Meister namentlich nicht fassbar ist, geht die moderne Forschung davon aus, dass er als Bildhauer und Architekt an der 1211 begonnenen Kathedrale in Reims, an den Kathedralen von Noyon und Metz sowie am Schloss von Coucy tätig war. Da die Bauhütten und ihre Werkstätten mit einem Tross von spezialisierten Arbeitern von Dombau zu Dombau zogen, erstreckte sich der Wirkungskreis der französischen Architekten und Bildhauer bald auf jenseits des Rheins liegende Dome. Am Dom zu Mainz, in Naumburg und in Meißen ist der Naumburger Meister aufgrund der einheitlichen Bildsprache vieler Skulpturen identifizierbar. Die ihm zugeordneten Heiligen- und Stifterfiguren von Kaiser Otto dem Großen und seiner Gemahlin Adelheid im Meißner Dom erinnern in ihrer lebendigen Ausstrahlung an die Naumburger Stifterfiguren.
Die umfangreiche Naumburger Ausstellung belegt mit zahlreichen Exponaten und Leihgaben aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Großbritannien und den USA die innovative Bildhauerkunst des 12. Jahrhunderts. Prominentes Beispiel ist der „Bamberger Reiter“ (Abguss). Die in den unteren und oberen Räumen der Domklausur ausgestellten Exemplare geben Einblick in den mittelalterlichen Transfer von Kunst und Kultur, wie der Buch- und Glasmalerei, der Bildhauerei oder der höfischen Kultur des herrschenden Adels. Neben den bereits erwähnten Ausstellungsorten, ist der rekultivierte Domgarten sehenswert. Hier wird die heimische Pflanzenwelt gezeigt, welche die Bildhauer als Vorlage für die Ornamentik an Friesen und Kapitellen benutzten.
Die Frage, wer der Meister war, bleibt weiter spekulativ. Die Identität dieses Bildhauers liegt im Dunkel der Geschichte verborgen. Die kunsthistorische Fachwelt wird sich weiterhin mit dem Notnamen „Der Naumburger Meister“ begnügen müssen.
Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen
Die sehenswerte Ausstellung läuft bis zum 2. November 2011.Anlässlich der Landesausstellung Sachsen-Anhalts 2011„Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen“ erscheint im Verlag Michael Imhof ein zweibändiger Katalog:
Der Naumburger Meister
Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen
Im Auftrag der Vereinigten Domstifter zu Merseburg, Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz
Hrsg. von Prof. Dr. Hartmut Krohm und Dr. Holger Kunde
Gesamtredaktion: Guido Siebert
2 Bände
Erscheinungstermin: 29.06.2011
1568 Seiten, ca. 800 Abbildungen
Hardcover, ca. 22 x 28 cm
2011, Michael Imhof Verlag, Petersberg
ISBN 978-3-86568-600-8
68,00 € (Buchhandelsausgabe), 49,95 € (Museumsausgabe)
Landesausstellung
06618 Naumburg
Öffnungszeiten: Samstag bis Donnerstag: 10.00-19.00 Uhr, Langer Freitag: 10.00-22.00 Uhr
www.naumburgermeister.eu
Abbildungsnachweis:
Header: Ausstellungsbanner
Galerie: Alle Fotos von M. Rutkowski
1. Naumburg, Dom St. Peter und St. Paul, Westchor, Stifterfiguren Markgraf Ekkehard und seine Frau Markgräfin Uta, 1243-1249, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
2. Naumburg, Dom St. Peter und St. Paul, Westchor, Stifterfiguren Markgraf Hermann und seine Frau Reglindis, 1243-1249, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
3. Naumburg, Dom St. Peter und St. Paul, Westlettner, 1243-1249, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
4. Naumburg, Dom St. Peter und St. Paul, Westlettner, Blattkapitelle an der Blendarkatur, 1243-1249, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
5. Bassenheim am Mittelrhein, Relief mit dem Heiligen Martin in der Pfarrkirche, Naumburger Meister, vor 1243. © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
6. Meißen, Dom St. Johannis und St. Donatus, Kopf der Figur Kaiser Otto des Großen Naumburger Meister, vor 1268, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
7. Meißen, Dom St. Johannis und St. Donatus, Kopf der Figur Kaiserin Adelheids, Naumburger Meister, vor 1268, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
8. Meißen, Dom St. Johannis und St. Donatus, Achteckbau, Jungfrau mit Kind, Naumburger Meister, vor 1268, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
9. Noyon, Kathedrale Notre-Dame, Westportale, Atlantenfigur, um 1230 dem Naumburger Meister zugeschrieben, © Bildarchiv der Vereinigten Domstifter.
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