Meinung

Denke ich an Hans-Georg Rappl, dann fällt mir als erstes die Zigarettenmarke Roth-Händle – auch Toth-Händle oder Roter Tod benamst – ohne Filter ein. Als zweites erinnere ich mich lebhaft daran, dass der leicht korpulente Mann mit dem nach hinten gekämmten, glatt anliegenden und noch vergleichsweise vollen, dezent ergrauten Haupthaar ein begnadeter, sozusagen klassischer, Orator gewesen ist.

 

Er war ein Genussmensch der freien, ausnahmslos fehlerlosen, gemächlich fließenden und unterbrechungslosen Rede, der, weil zu der Zeit, über die ich spreche – also die Mittachtziger des letzten Jahrhunderts – das Rauchen in den Seminarräumen langsam außer Mode kam, alle halben Stunden aufstand, sich unentwegt sprechend zur Tür begab, sie öffnete, eine Zigarette in Brand steckte und, mit leicht abgewandtem Kopf seine auf eine sanfte Art intonierten und dabei trotz allem markig-kraftvollen Worte weiter an das Auditorium richtete.

 

Hans Georg Rappl Die Wortkunsttheorie von Arno Holz DissertationHans-Georg Rappl (1927-2001), dies noch kurz zu seiner akademischen Vita, hat mit der relativ schmalen Arbeit Die Wortkunsttheorie von Arno Holz am 17.12.1955 den Doktortitel erworben. (Hochschulschrift: Köln, 1957)

Er hatte die Angewohnheit, im sitzenden Sprechen den Stuhl leicht nach hinten zu kippeln, so dass die reale Gefahr bestand, dass, dem Gewicht seines Körpers geschuldet, aus dem unwillkürlich ausbalancierten fragilen Gleichgewicht ganz schnell ein drastisches Ungleichgewicht mit fatalen Folgen hätte werden können; wozu es, jedenfalls in meiner Gegenwart, nie gekommen ist…

 

Hans-Georg Rappl war ein streitbarer Geist, und in seiner Freude am auch immer wieder sich zuspitzenden Disput ganz eindeutig eine Respektsperson. Er schätzte die Klarheit des denkenden Kopfes über alles, was freilich, umgekehrt, bedeutete, dass, eventuell durch das Vornehm-Furchteinflößende seines souveränen Auftretens eingeschüchtert, manch einem Kommilitonen die Angst des Versagens vor den gehobenen Ansprüchen des Lehrkörpers eingeflößt wurde. Was Denk- und daraus resultierende Sprechhemmungen zur Folge hatte.

 

Dabei war es ihm eine erkennbare Freude, wenn er auf seinen wortgewaltigen literarisch-theoretischen Streifzügen auf Widerstand bei den Studiosi stieß. Will heißen, unentwegt mit dem Kopf nickende Jasager – „wer immer nur mit dem Kopf nickt, wird bald einschlafen“ – hatten bei ihm keinen leichten Stand. „Wer sich nur dem Zug des Vorstellens überläßt, kommt wenig weit. Er sitzt nach kurzem in einer allgemeinen Gruppe von Redensarten fest, die sowohl blaß wie selber unbeweglich sind. Die Katze fällt auf ihre Füße, aber der Mensch, der nicht denken gelernt hat, der aus den kurzen, den üblichen Verbindungen des Vorstellens nicht herauskommt, fällt ins ewig Gestrige. Er wiederholt, was andere wiederholt haben, er treibt im Gänsemarsch der Phrase. (…) Was aber bei der Sache sich befindet, indem es mit der Sache geht, auf ihren unausgetretenen Wegen, wird mündig, kann endlich Freund und Feind unterscheiden, weiß, wo das Rechte sich anbahnt. Trott am Gängelband ist bequem, aber energischer Begriff ist mutig, gehört zur Jugend und zu Männern.“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, st., 1972, S. 17f.) So in etwa mag auch Rappls Credo, in Anlehnung an den gleichfalls wortgewaltigen Pfeifenraucher und knorrigen Theoretiker der docta spes, gelautet haben.

 

Den Mutigen gehört die Welt, auch wenn einiges an Entschlusskraft dazu gehörte, sich auf ein Gedankengefecht mit diesem erzgescheiten Germanisten einzulassen. Es konnte dann ganz schnell zu einem Spitz auf Knopf-Szenario kommen, das dem oder der Entschlussfreudigen höchste geistige Konzentration beim Debattieren abverlangte.

 

Aber darum geht es, oder sollte es jedenfalls gehen, im akademischen Disput seinen Verstand zu schärfen, um aus der Debatte, bestenfalls, gescheiter herauszukommen, als man hineingegangen ist. Will heißen, und auf Hans-Georg Rappl angewandt, dass dieser 2001 verstorbene Gelehrte sich darum verdient gemacht hat, in den Köpfen der ihm Lauschenden – sofern sie nicht unter seiner hochgradigen Präsenz zerbrachen oder, alternativ und im Sinne des Selbstschutzes, die Flucht ergriffen – den Willen zu tagheller Geistespräsenz wachzurufen. So dass die Gefahr, sich ein X für ein U vorzumachen, bei einigen, die damals seiner Rede folgten und/oder sich in Streitgespräche verwickeln ließen, relativ gering (gewesen) ist oder (gewesen) sein dürfte. Hans-Georg Rappl jedenfalls hat alles dafür getan, dieser Gefahr der geistigen Verödung und der Blödheit des Kopfes bei den Seminarteilnehmern entgegenzuwirken.

 

Ich mutmaße, dass sein exzessiver Tabakkonsum ihm letztlich zu Beginn dieses Jahrtausends zum finalen Verhängnis geworden ist. Denn mein Kontakt zu ihm – ich hatte mir in der zweiten Hälfte der Achtziger angewöhnt, immer wieder einmal für ein halbes Stündchen für einen Klönschnack bei seiner Sekretärin vorbeizuschauen, zu dem er sich ab und an, und wenn es sich zeitlich einrichten ließ, dazugesellte – ist irgendwann, ohne dass ich mir darüber Rechenschaft abgelegt hätte und also unmerklich, eingeschlafen.


„Dr. Hans-Georg Rappl, Professor für Neuere deutsche Literatur am früheren Fachbereich Germanistik, ist am 19. Mai nach langer Krankheit im Alter von 73 Jahren verstorben. Nach dem Studium promovierte er 1955 an der Universität Köln, wurde dort Assistent Wilhelm Emrichs, dem er 1960 an die Freie Universität Berlin folgte. Kolleginnen und Kollegen, Schüler und Freunde trauern um den eloquenten, debattierfreudigen und stets hochmotivierten Hochschullehrer, dessen Seminare zur Poetik und Ästhetik der Aufklärung und des Idealismus großen Zuspruch fanden, und sie gedenken der hochschulpolitisch engagierten Persönlichkeit. Noch heute ist die germanistische Lehre an der Freien Universität nachhaltig durch ihn geprägt: Das in den Grundkursen der einzelnen Fachrichtungen integrierte Tutorenmodell, mit dem nach wie vor große Lehr- und Lernerfolge erzielt werden, ist von Hans-Georg Rappl konzipiert und institutionalisiert worden. Wir nehmen Abschied vom Hochschullehrer, der sich um den Fachbereich Germanistik verdient gemacht hat.“ (FU-Nachrichten, Zeitung der Freien Universität Berlin, Ausgabe 6/2001)

 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.