Krimis kannten bereits die alten Griechen, auch wenn sie bei ihnen noch nicht so hießen. Das Genre existierte in dem Sinne noch nicht. Die Familiengeschichte rund um die liebliche Tochter des Agamemnon und der Klytämnestra, Iphigenie, bot Stoff genug für einen oder mehrere historische Krimis ganz großen Stils. Denn was hängt nicht alles daran?
Verrat, wirklicher oder vermeintlicher Mord unter Familienangehörigen, durch schlechtes Gewissen hervorgerufene geistige Zerrüttung, Schuld, Rache, Lug und Trug, Verschleppung, Diebstahl, und, nicht zu vergessen, ein veritabler Krieg, der auch nichts weiter als das Ergebnis einer, allerdings gewollten, in Liebe herbeigesehnten und folglich jedenfalls teilweise gutgeheißenen Entführung, eines Menschenraubs und einer Vereinigung ist. Doch gehen die Meinungen darüber, wie bekannt, auseinander.
Ein direkt von der schmählichen Tat Betroffener und Verratener, der Bruder Menelaos, sah das freilich ganz anders, verständigte sich mit dem Gatten Klytämnestras darauf, die Kräfte zu bündeln und mit einem Riesenheer Richtung Osten zu segeln. Was an Ort und Stelle, an der Küste Kleinasiens, in den Jahren zähen Ringens geschah, ist nicht allein des wüsten Blutvergießens wegen von hohem kriminalistischem Wert. Denn auch vor der schier uneinnehmbaren Stadt mit den hohen Mauern und den Palisaden geht es verräterisch und betrügerisch zu, derart, dass sich irgendwann keiner mehr auf keinen verlassen kann. Auf Verrat folgt Rache, auf Rache Verrat, und Blut wird vergossen nicht nur unter Feinden, so dass die heillos Involvierten hin und wieder selbst den Überblick verlieren und zwischen Freund und Feind nicht mehr zu unterscheiden wissen. Sie ziehen sich in den Schmollwinkel zurück oder fassen einen unglaublich abgefeimten Plan, der ein früher Gipfel an Hinterlist und Tücke ist.
Oder, ein anderes Beispiel, die, wie Schiller es nennt, tragische Analysis um den alten Rätsellöser Ödip, dem, auf der Suche nach dem elenden Mörder des Vaters und Vorgängers auf dem Thron Thebens Laios, schleichend und heimlich unheimlich ganz langsam bewusst wird und schwant, dass niemand anderer als er selbst nicht allein die schändliche Tat begangen hat, sondern zu allem Überfluss auch noch der Ehegemahl und Beischläfer seiner Mutter Jokaste ist. Dass er sich, ob dieser grausen Einsicht, blendet, und seine Mutter, die die (Groß-) Mutter seiner Kinder Polyneikes und Eteokles, Antigone und Ismene ist, sich erhängt, ist noch das Wenigste. Was nämlich ist schlimmer und vernichtender, als in nobler Absicht einem Verbrechen nachzuforschen, das nicht nur längst geschehen ist und sich andauernd vollzieht, sondern dass der Detektiv selbst begangen hat! Unschuldig schuldig geworden zu sein, mag das Erbarmungswürdigste und folglich Tragischste sein, was einem Menschen zustoßen kann. Also hat der unbeirrte Spurensucher unser Mitgefühl.
Sébastien Norblin, Antigone donnant la sépulture à Polynice, 1825, Paris, Ecole Nationale Supérieure des Beaux-Arts. Gemeinfrei
Mitgefühl und Mitleid sollten erregt werden auf der Seite der Rezipienten. Und was kann diese intensiven Gefühle besser hervorrufen als die Schuld eines Unschuldigen. Was ist verstörender als das Bewusstsein, dass alles für die Katz und umsonst ist, weil sich an der vergangenen Tat leider und sowieso nichts mehr ändern lässt. Geschehen ist geschehen, dem unerbittlichen Sog des in der Zeit Dahingeschwundenen lässt sich nichts abhandeln. Genau das ist’s: Zwingend und unerbittlich muss es zugehen in einem Krimi. Das Schicksal, vor dem kein Zufall standhält, muss blind walten und die dramatis personae, ob sie wollen oder nicht, mit sich fortreißen ins Verderben oder lösend erheben in ein nicht mehr für möglich gehaltenes, unverhofftes spätes Glück. So muss der Ton gestimmt sein, konsequent auf den einen Punkt gerichtet, wo sich alles klärt, indem es zusammenstürzt und den Fallenden mit sich reißt oder, Überraschung!, auch nicht.
So gesehen, was sind der Wilhelm Tell, die Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans und wie die Dramen und Schauspiele Schillers sonst alle noch heißen anderes als kriminalistisch unterlegte Staatsaffären. Man könnte auf den kühnen Gedanken kommen, dass schlichtweg alle Literatur von welthistorischem Rang zumindest mit kriminalistischen Ingredienzien und Elementen unterfüttert und ausstaffiert ist. Literatur dieses Kalibers hat stets etwas Bedrängendes und auf eine ängstigende Art Ziehendes auch und vor allem im Stilistischen und in der Grundfärbung des Tones. Er nämlich erzielt die höchste Wirkung dann, wenn mit kaltem Bedacht ein Sog erzeugt wird, den aufgeregtes, teilnahmsvolles Geplauder selbstredend nie zu erreichen imstande ist. Kalten Herzens will die Geschichte erzählt sein, so, als ob sie den, der sie zu Gehör bringt, überhaupt nichts anginge. Die Nemesis des Wortes verbürgt und steht ein für einen Tathergang, der so stattfinden musste und auf gar keinen Fall anders verlaufen konnte. Konsequenz des Tones und in der Komposition des Geschehens ist folglich alles. Sofern hier Meisterschaft waltet, stellt sich die atemlose Gebannt- und Gespanntheit auf der Seite des Lesers oder Zuschauers aller Voraussicht nach wie von selbst ein.
Aber noch anders kann diese intensive Wirkung erzielt werden. Und womöglich ist sie noch größer, weil sich eines Mittels bedient wird, das dem Ernst der Lage auf den ersten Blick gar nicht angemessen ist oder zu sein scheint. Das mitwisserische, auf Eingeweihtsein beruhende Schmunzeln über komödiantisch Verarbeitetes kann unverzichtbar und äußerst produktiv sein, soll der Leser auf eine unterhaltende Art mitgenommen werden. Den Stoff hierfür bietet natürlich das weite Feld der menschlichen Schwächen, die, auf ihre allerdings irgendwie immer leichtgewichtige Art, auch verheerende Folgen bei sich selbst und anderen zeitigen können. Der Ton freilich ist, zumindest vordergründig, leicht und beschwingt, unspektakulär und bescheiden, manchmal vornehm und dezent, jedoch immer auf dem Sprung, sich selbst spielerisch auf die Schippe zu nehmen. So bei Kleist, so aber auch in den so sehr sympathisch be- und anrührenden Romanen des Schweizer Gegenwartsautors Martin Suter, in Patrick Süßkinds Das Parfüm und in dem Hochalpenkrimi Tote Saison von O.P. Zier. Hier kommt freilich noch das explosive Gemisch der Gesellschafts- und Politikkritik hinzu, was die Sache eher noch brisanter macht.
Jeder dieser Autoren beherrscht auf jeweils ganz eigentümliche Art die Kunst, beschwingte Spannung zu erzeugen. Der eine, indem er das so offensichtliche Intrigantentum des Dorfrichters Adam, dieses Erzhalunken, leichthin dekuvriert. Der andere, indem er, mit psychologischem Tiefblick und Feingefühl in schwebend leichten, unscheinbaren und vornehm wirkenden Sätzen ein stets zu Herzen gehendes Schicksal oder gleich mehrere davon sich entfalten lässt. Der dritte mit seiner vornehm-leichten, dabei das Skurrile abwechslungsreich auslotenden (verbalen) Geruchsreise durch das aberwitzige französische 18. Jahrhundert mit seinen Windbeuteln, Betrügern, Hochstaplern, wirr-alternativen Heilssuchern, selbstzufriedenen Familienvätern und einer verwahrlosten Plebs. Schließlich der Autor von bissiger Gesellschaftssatire, der sprachlich souverän zwischen präzisestem, gestochen-scharfem und akademisch-gewählt klingendem Deutsch und mit spitzbübischem Gauditum augenzwinkernd versetztem Hochalpenjargon abzuwechseln weiß, wenn er den skrupellosen Wahnsinn staatspolitischen Treibens sarkastisch lächelnd entlarvt.
Eins aber eint sie alle: Sie und all diejenigen, die ungenannt geblieben sind, sind ausnahmslos große Psychologen und müssen dies sein, wenn sie die unbarmherzige Konsequenz der bösen Tat, des unbedarften Versehens, des ungewollten oder gewollten Wechsels der persönlichen Identität, oder was es sei so zu Gehör bringen, dass es den zunächst ganz und gar desinteressierten Rezipienten, den Leser, der seine allenfalls ein wenig neugierige Aufmerksamkeit den ersten Sätzen schenkt, packt und er widerstandslos mitgerissen wird und sich gerne mitreißen und entführen lässt.
Sie möchten ein Ihnen auf jeden Fall unbekanntes Beispiel für den zuletzt erörterten Fall einer beschwingten, launigen Spannung auf sich wirken lassen? Bitte schön. Diesem Bedürfnis kann abgeholfen werden. Denn von einem bislang unerkannten (!) Nachwuchsautor – oder ist er vielleicht doch weder ganz unbekannt noch so jung, wie es die Kurzgeschichte zunächst vermuten lässt? (das sind Fragen, die ein guter Krimi auch aufwerfen kann) –, also von einem Anonymus stammt die folgende Geschichte. Sie hat die vielversprechende Überschrift Der Einbruch oder: Spätes Glück und soll sich, wie man hört, unlängst irgendwo in Dithmarschen ereignet und folgendermaßen abgespielt und zugetragen haben.
Wappen des Kreises Dithmarschen und Regionalkarte
Zuvor jedoch, damit niemand sich direkt angesprochen und/oder womöglich beleidigt sieht oder auf den Schlips getreten fühlt – man weiß ja nie, und den Österreicher Zier plagten offenbar ähnliche Sorgen –, sei ausdrücklich das folgende vermerkt: Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind purer Zufall und auf gar keinen Fall beabsichtigt. Und damit erteile ich dem Ungenannten mit seinem mit einem Augenzwinkern unterlegten Grotesk-Kurz-Krimi das Wort: Die Zacken eines Blitzes geben für den Bruchteil einer Sekunde den Blick frei auf die sich ungeheuer auftürmende Wolkenfront, die sich von der Nordsee her unaufhaltsam der Kleinstadt nähert. Das ohrenbetäubende Krachen lässt die Scheiben in dem Gebäude erzittern. Das unablässige Heulen des wüsten Orkans verschluckt jedes andere Geräusch. Das rhythmische Blinken des Leuchtturms von Norderpiep ist da. Wie jede Nacht. Aber der vom Deutschen Wetterdienst für die kommenden Stunden angekündigte Jahrhundertsturm hat dort draußen längst alles absorbiert, was sich ihm in den Weg stellt. Der Tidenhub wird gewaltig sein. Bei allem Aufruhr ist es so, als ob jegliche Kreatur in Dithmarschen in dieser Nacht abduckte, den Atem anhielte und auf der Stelle verharrte. Im unendlich sich dehnenden Raum scheint die Zeit still zu stehen.
Ein Schatten huscht durch den Flur. Ein Scheinwerferkegel erhellt für einen kurzen Moment die vollkommene Dunkelheit im vierten Stockwerk des am Rande Wesselburens im Industrieviertel gelegenen ehemaligen NOKIA-Gebäudes. Hier hat seit gut eineinhalb Jahren die im Volksmund „Zur letzten Instanz“ benamste Zweigstelle des Jobcenters ihren Sitz. Die unansehnliche Verbundbetonkonstruktion mit beträchtlichem Gammelpotential ist der Ort, an dem die Wiedereingliederung arbeitslos gewordener Dithmarschener beiderlei Geschlechts in den ersten Arbeitsmarkt von emsig bemühtem, pflichtbewusstem Personal vorangetrieben wird.
Fortbildungskurse jeder erdenklichen Art, Bewerbungsschreibungs- und psychologisch gestützte Vorstellungsgesprächssymposien sind von kundigen Köpfen ersonnen worden, um den in die soziale Schieflage Geratenen einen Weg zu weisen. Wohin auch immer und voraussichtlich in die nächste Maßnahme.
Heute ist Zahltag, denkt der Eindringling mit dem Akku-Schrauber in der Linken und dem Stemmeisen in der Rechten. Symbolisch zwar. Aber immerhin. Ausnahmsweise mal in der Mitte des Monats. Sein Gesicht verzieht sich zu einer grinsenden Fratze. Die Vorfreude zeichnet ihre Spuren in die Visage des Hartz-IV-Empfängers Doktor Doktor Knuth Brinker. Er kennt sich aus. Schließlich hat er sich noch vor kurzem für ein Jahr lang hier die Finger wund geschrieben. Er, der gescheiterte Akademiker, war von seiner kernigen Sachbearbeiterin zusammen mit einem anderen auf hohem Niveau Gestrandeten dazu verdonnert worden, haarsträubende Geschichten von unzähligen Gemüsebauern des Umlandes zu protokollieren und dann in literarisch ansprechender Form und einwandfreiem Deutsch zu Papier zu bringen. Unter dem Motto „Mordskohl“ sollte eine Kriminalgeschichten-Anthologie erscheinen.
Gesponsert vom heute nicht mehr so genannten Arbeitsamt. Kultur quasi zum Nulltarif. Es kam nur, wie eigentlich immer, auf den richtigen Blickwinkel an. Der einst mit reichlich Vorschusslorbeeren bedachte Doppeldoktor der Germanistik war, ehe er sich’s versah, auf den Status eines namenlosen Ghostwriters herabgestuft worden. Seine Lebensplanung lag endgültig nicht mehr in seinen Händen.
Das hatte er nun davon. Warum hatte er nicht lieber Ingenieurswissenschaft, Landschaftsplanung, softwaregestützte Zukunftsforschung oder BWL studiert? Als er noch jung und folglich noch Zeit dafür gewesen war. Zu spät und wie auch immer. Ein absolut weltfremder Zweifachdoktorgermanist... Ja, ging’s noch? Dass seine Sachbearbeiterin das genauso sah, daraus hatte sie nie einen Hehl gemacht.
Jetzt jedenfalls sollte er aus dem uninspirierten Geschnacke der Kleinbauern des Landkreises halbwegs Spannung destillieren. Wofür? Für den erbärmlichen Hungerlohn von 1.50 €. Lachhaft! Das bisschen Ruhm würden die Kohlköpfe, wie er sie bei sich nannte, davontragen und das Geld für die verkauften Bücher ein Heider Kleinverlag, dessen Namen er noch nicht einmal kannte.
Heute Nacht, das Wetter ist günstig wie nie, will er sich schadlos halten für all die Demütigungen seitens der kulturbeflissenen, vollschlanken Cheflektorin, die die Fünfzig sicherlich bereits um ein gutes Stückchen überschritten hat. Wofür sie natürlich nichts kann. Zu ihren ehrrührigen Gehässigkeiten allerdings steht die, die hier das Sagen hat, wie eine Eins. Zu ihrem überheblichen Drangsalieren und permanenten Niedermachen. Dieses grausame Miststück hat ihm unzählige schlaflose Nächte bereitet und sogar die Freude darüber getrübt, dass sein Verein, der krisengeschüttelte HSV mit seinen elf und mehr Trainern in zehn Jahren, momentan an der Spitze der Tabelle der Zweiten Bundesliga steht. Der zweiten? Ja, genau der, da es sich doch um den, aus seiner Sicht, Traditionsverein schlechthin im deutschen Profifußball handelt.
Er fährt herum. War da nicht was? Ein Geräusch? Der flackernde Lichtkegel seiner Taschenlampe frisst sich durch den endlos langen Flur. Nein. Er muss sich getäuscht haben. Vermutlich ächzt das marode Gebäude unter dem Andrang des Elements. Im Dauerheulen des Sturms fühlt Knuth sich wie entrückt. Denn, so denkt er, was tut der hier, der ich einmal war?
Und da ist er wieder. Der Gedanke an diesen Anderen, den, dessen Namen er nicht mehr nennen will. Das Froschgesicht mit dem Irokesenschnitt oder der Glatze oder mit beidem gleichzeitig. Sofern das überhaupt möglich ist. Das selbstverliebte Würstchen mit der penetrant schlechten Laune und seiner ausgeprägten Neigung, dozierend daherzuschwadronieren über sein den Buddhistischen Mönchen abgelerntes sexuelles Karma. Über die friedfertigen Paarungsgewohnheiten Nepalesischer Glatzköpfe in orangefarbenen Gewändern rund um den weichhändigen Gutmenschen, den ewig grinsenden und ausnahmslos gutgelaunten Dalai Lama. Dieser aufdringliche Weltverbesserer aus Meldorf mit seinem Hang zu vergeistigter Gewalttat und quälend-langatmigem Belehren. Wurm, elender!
Knuth Brinker reißt sich von diesen trostlosen Erinnerungen mit einem unwilligen Kopfschütteln los. Denn Rache ist süß. Er ist zu Allem entschlossen. Wirklich, zu Allem! Er wird das Büro leerräumen. Die Festplatten plündern. Das Telefon samt Anrufbeantworter und das altertümliche Fax-Gerät aus dem Fenster auf den Hof schleudern. Damit diese Wunderwerke moderner Technik in tausend Teile zersplittern. So zersplittern, wie sein Leben im Laufe des letzten Jahres zersplittert ist. Er wird sämtliche Unterlagen durch den Schredder schicken, wie er es ab und an zwecks Entsorgung von ausgedruckten Rohentwürfen getan hat, als er in dem Kabuff dort hinten noch einer ordentlichen Tätigkeit nachgegangen ist. Aber was heißt schon ordentlich?! Ordentlich, da kann Knuth nur lachen. Ordentlich, hahaha!
Der doppelt Graduierte setzt das Stemmeisen an und beginnt mit allerhöchstem Kraftaufwand zu ziehen. Scheiße! Es rutscht ab und donnert mit metallischem Krachen auf den Boden. Das war laut. Oder auch nicht. Läppisch jedenfalls im Vergleich mit dem Donnerschlag, der in diesem Moment das Universum auseinanderzureißen droht. Die Posaunen des Jüngsten Gerichts erdröhnen. Jerichos Mauern machen Anstalten einzustürzen. Das Wetter dort draußen hat biblisches Ausmaß erreicht. Der Erlöser ist nah.
Er bückt sich. So ein verdammter Mist! Der Hexenschuss reißt ihm das Rückgrat entlang bis in die Schulterblätter. Er verharrt in gebeugter Haltung. Schweiß läuft ihm über die Stirn. Rinnt in kleinen Bächen bis zur Nasenspitze und tropft kaum hörbar auf den Boden. Bewegung war einmal. Jetzt heißt es, Kraft sammeln. Sich konzentrieren. Sich seelisch auf den Schmerz vorbereiten, der gleich seinen Körper schütteln wird. Er zählt ganz leise rückwärts: „Drei, Zwei, Eins...“ Und mit unglaublich konzentriertem Willen bewegt er sich zurück in die Vertikale. Ganz langsam. Wie in Zeitlupe...
Was soll er jetzt tun? Sich unverrichteter Dinge davon machen? Einfach so das Feld räumen? Was für eine Blamage! Alles, aber auch alles für die Katz’. Oder einen erneuten Versuch wagen? Auf die Zähne beißen, den Hexenschuss so weit wie möglich ignorieren und mit seiner kläglichen Restpower das Schloss sprengen?
Es hilft nichts! Er muss es tun. Allein der Rache wegen, die ihn endlich wieder wird schlafen lassen. Er muss mit sich ins Reine kommen. Also setzt er erneut an. Ziiiiieht... Und wirklich! Er traut seinen Ohren nicht. Das Metall gibt knirschend nach. Holz splittert. Die Tür fliegt krachend auf.
Geschafft! Nun rasch. Möglicherweise ist man in einem anderen Stockwerk auf sein heimliches Treiben aufmerksam geworden. Knuth kennt sein Ziel. Dort hinten, an den Fenstern, sieht man die Vierecke der Bildschirme im schwachen Gegenlicht. Er schiebt den Stecker in die Steckdose, fährt den PC hoch, gibt den Spitznamen seines Freundes, des verkrachten Photographen und Wartburgfahrers ein und beginnt mit der Eliminierung der digital verschlüsselten Daten, die innerhalb des letzten Jahres von ihm und dem nervtötenden Anderen in mühevoller Kleinarbeit eingegeben und pflichtschuldigst gespeichert worden sind.
Erledigt! Und jetzt noch schreddern. Wie hat ihm dieses scharfe, mit einem angenehmen Prickeln unter die Haut gehende Geräusch gefehlt, seit er hier zu wirken aufgehört hat. Dieses subtile, intensive Kreischen, ähnlich dem einer Kreissäge oder einer Katze, deren Schwanz man in den Schraubstock fixiert hat.
Vernichtung pur. Eliminieren!, denkt er. Alles muss eliminiert werden. Und Knuth eliminiert, wie er nie eliminiert hat. Ein ganzes Jahr muss vernichtet werden! Auf der Stelle! Sofort!
Doch was ist das? Doktor Doktor Brinker reißt seinen Kopf herum und starrt mit geröteten Augen zur Tür. Im Rahmen erkennt er mit nur einem Blick durch seine beschlagene Brille den rundlichen Umriss seiner Exchefin. Ihre Haare, die, der triefenden Nässe zum Trotz, wie eine toupierte Perücke wirken, ragen in die Höhe. Wie unter Strom. Und dann ist da noch... Neiiiin! Das kann, das darf nicht sein! Spielt ihm seine überanstrengte Phantasie einen bösen Streich? Knuth schlägt die Hände vors Gesicht. Wie ist das möglich? Wie kommt der, dessen Namen er nicht nennt, hierher? An die Seite seiner klitschnassen Vorgesetzten von einst? Seine Gedanken überschlagen sich. Panik ist ein zu harmloses Wort für das, was in dem Überforderten in diesem Moment vor sich geht. Namenloses Entsetzen...
Er hat keine Gewalt mehr über die schweißnassen Hände. Sie fallen wie etwas, das nicht mehr zu ihm gehört, herab und schlenkern unkontrolliert zu beiden Seiten seines jetzt plötzlich so wahnsinnig müden und ausgelaugten Körpers. Der gescheiterte Akademiker schlägt die Augen auf und sieht in zwei Augenpaare, die ihn, erleuchtet durch das grelle Licht eines niederfahrenden Blitzes, feindselig, triumphierend und spöttisch angrinsen. Das ist mal wieder typisch. Denn was immer den selbstgefälligen Quertreiber und Hochleistungsintriganten hierher, an die Seite dieser unsäglichen Kulturschickeriatante gebracht haben mag (oder verhält es sich gerade umgekehrt?), eins ist mal klar: Das lächerliche Froschauge passt wie kein anderer in diesen Raum. Er, der sich immer so angebiedert hat an diejenigen, die das Sagen haben. Der liebedienerte, um die mit dem ewig gleichen weißen Kostüm Angetane herumscharwenzelte und den fragwürdigen Wortbeitrag des bärtigen Großbauern und Bürgermeisters irgendeines Dithmarschener Kaffs sage und schreibe sieben Mal überarbeitet hat, bloß weil die, die sich im Augenblick in seinem Schlepptau befindet, es so haben wollte. Würstchen, nichtswürdiges!
Meldorf, Dithmarschen. Foto: Lapping
Jetzt geht alles ganz schnell. Bewegung kommt in das Stillleben. Knuth Brinker stürzt an den Neuankömmlingen vorbei, verheddert sich mit einem Druckknopf seines Friesennerzes in dem Haarschopf der weiblichen Führungskraft, was, auf Grund des eintretenden kurzfristigen Gleichgewichtsverlustes, den so nicht gewollten Nebeneffekt zeitigt, dass sein rudernder Arm, beziehungsweise die geballte Faust sich zielgenau in die Magengrube des Predigers gräbt. Doch Knuth lässt sich nicht durch sie und schon gar nicht durch den, der im Augenblick im schwerkraftbedingten Einsacken begriffen ist aufhalten. Er reißt und zerrt, bis ein Büschel des auffälliger Weise noch immer schwarzen Haares sich mit einem kurzen Riss aus der Kopfhaut löst. Also doch keine Perücke, denkt er noch.
Die penetrant overdresste Schickse schreit auf. Greift mit der einen Hand nach der kahlen Stelle auf ihrem Schädel, die sich schlagartig zu röten beginnt und mit der anderen nach ihrem Untergebenen von ehedem. Denn sie hat ihn selbstredend sofort erkannt, diesen vermeintlichen Deeskalationsexperten und Gutmenschen. Und außerdem: Sie war vorbereitet auf diesen unglaublichen Skandal durch den, der jetzt, durch die, im rustikalen Fußballerjargon, finale Blutgrätsche niedergestreckt, auf dem Boden liegt und schwer nach Luft ringt. Sie will rufen. Aber der Schreck sitzt zu tief. Die Stimmbänder gehorchen ihrem Willen nicht. Der Schleimer mit dem momentanen Krümmungstensor hat ohnehin andere Sorgen.
So kommt es, dass Knuth Brinker inzwischen und bereits außer Sichtweite ist. Man hört bloß noch seine sich rasch entfernenden Schritte auf dem in völliger Dunkelheit liegenden Flur. Kurze Zeit später sieht man einen von Regenschleiern wie verzerrt wirkenden Schatten über das weitläufige Gelände des ultramodernen Industrieparks, eine blühende Landschaft in Reinkultur, huschen.
Wie wird es weitergehen? Werden die Ordnungskräfte im Anschluss an die unweigerlich stattfindende Denunziation seitens der unterschiedlich an Leib und Seele Geschädigten des Flüchtigen habhaft werden? Wird er für unabsehbare Zeit einsitzen müssen, der Knipser von Wesselburen? Wird die kreisrunde Wunde auf dem Kopf der Führungskraft heilen? Braucht sie eine Perücke? Wird der andere, dessen Namen auch ich nicht nenne, wieder zu Atem kommen? Werden beide den tiefsitzenden Schock überwinden und sich womöglich in naher Zukunft wieder auf der Höhe ihrer alten, gehässigen Stärke befinden? Oder werden sie, nicht auszudenken, zu Drehtürtherapierten? Wird Knuth danach, oder jetzt gleich oder wann immer eine neue, lukrativere Arbeit finden? Oder darf er für Umsonst im Knast Körbe flechten? Wird er ein Vorbestrafter, ein Entkommener, für den Rest seines kläglichen Lebens auf der Flucht Befindlicher sein?
Fragen über Fragen. Die Zukunft wird die Antworten finden und geben... Denn ich, der Anteil nimmt an seinem Schicksal, habe ihn mittlerweile längst aus den Augen verloren.
Knuth Brinker, ich wünsche dir Glück. Du wirst es brauchen. Jetzt noch mehr als ohnehin schon. Du warst zeitlebens ein Glücksritter und darin ein Vorbild für all die anderen, die dein Schicksal teilen. Wenn jemand, dann bist du es, der weiß, worin wahre Größe besteht. Einst, in besseren Tagen, hörte ich dich in unserer Stammkneipe, dein halbvolles Bierglas in der Hand, sagen: Glück, mein Bester, ist, im Unglück das Glück nie aus den Augen zu verlieren und im Glück stets auf das Unglück vorbereitet zu sein. Dabei klopftest du mir, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen, auf meine Schulter. Du hast Recht! So issis! Memento miseriae! Sei des Unglücks auch und vor allem im Glück eingedenk. So und auch andersherum. Dies war und ist dein Wahlspruch. Ich will mich ihm und damit dir, mein Freund, egal was die anderen dazu sagen, würdig zeigen.
Und bestehen bleibt, dass niemand anderer als du der Autor der Bestseller-Anthologie „Mordskohl“ ist, die innerhalb weniger Tage nach ihrem Erscheinen vergriffen gewesen ist und folglich unverzüglich neu aufgelegt werden musste. Diesen stillen Ruhm wird dir keiner nehmen.
Was sagen Sie zu diesem grotesk-satirischen, psychosozialen Kriminalfragment aus dem Leben eines Gescheiterten? Sie wünschen sich einen durch und durch ironischen Kriminalroman, der lauter solche Szenen hätte? Ich auch! Apropos: Die Brenner-Krimis des Österreichers Wolf Haas tendieren in eine ähnliche, wenn auch sprachlich-atmosphärisch ganz andere, nämlich vor allem unaufgeregt-skurrile, Richtung. Eine sprachlich-alternative, erzösterreichische Entdeckung der pfiffigen Langsamkeit eines knorrig-subversiven Querschädels…
Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.
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