Weil ich keiner falschen Erwartungshaltung Vorschub leisten will, präzisiere ich: Das Einst in der Überschrift bezieht sich auf die längst vergangenen Tage meiner Jugend- und Studienzeit. Als ich, Mitte der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, das Studium der Philosophie und Germanistik an der FU Berlin aufgenommen habe. Zu einer Zeit also, als die Stadt noch geteilt war. Das Jetzt hat einen ganz konkreten Anlass: Meine in Leipzig Kulturwissenschaft studierende Tochter hat in Leipzigs unabhängiger Hochschulzeitung, kurz Luhze, einen Artikel veröffentlicht über das seit Oktober 2018 existierende Reclam-Museum.
Bei dieser Gelegenheit hat sie sich mit dem Gründer des Museums, Herrn Dr. habil. Hans-Jochen Marquardt, getroffen, der ihr in einem mehrstündigen Gespräch die Geschichte des Reclam Verlages nahegebracht und sie darüber hinaus mit Fotos versorgt hat. Das gab den Ausschlag. Denn als ich von diesem Unternehmen erfuhr, tat sich unverhofft die unter dem Einst gemeinte Vergangenheit auf. Denn ja, die Publikationen des Reclam Verlages mit seinen Klassikerausgaben waren in großen Teilen für mein Studium unverzichtbar.
Jeder weiß, dass Bücher heutzutage fast schon Luxusgüter sind. Und auch das ist bekannt, dass mit der Einführung des Euro zu Beginn des Jahrtausends ein Buch, das soeben noch 9,90 DM gekostet hatte, am nächsten Tag für 9,90 € zu erstehen war. Von jetzt auf gleich hatte eine Verdoppelung des Preises stattgefunden. Was selbstredend nicht bloß auf Bücher zutraf.
Der Reclam Verlag bildete da keine Ausnahme. Allerdings war die Teuerungsrate verschmerzbar, da die Preise der Bücher des Traditionshauses sich ohnehin auf vergleichsweise niedrigem Niveau bewegten. Also hatte ich mich, dreißig Jahre vor der finanziellen Zeitenwende, mit den zitronengelben Klassikern der Literatur in ihren diversen Varianten eingedeckt. Die Namen der Autoren zu nennen ist überflüssig, da jeder, der des Lesens nicht ganz unkundig ist, wie selbstverständlich wissen wird, wer alles in diesen markant leuchtenden Einbänden mit seiner Poesie, Prosa und seinen theoretischen Schriften untergekommen ist. So ziemlich jeder (generisches masculinum!) von Rang und Namen.
Das also waren und sind die in Stuttgart ‚beheimateten‘ Klassikerausgaben. Aber es existierte damals ja auch noch die Leipziger Variante des ‚Klassenfeindes‘ aus dem Osten, also der Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig, der seine ‚Alternativ-Klassiker‘ noch um einiges preisgünstiger feilgeboten hat. Die allerdings lediglich im Ostteil der Stadt zu erstehen waren. Es sei denn, man wurde in Westberliner Antiquariaten bei einem leichten Preisaufschlag auf der Suche nach einem Leipziger Schmöker fündig.
Damals verhielt es sich mit dem Grenzübertritt folgendermaßen: Mit der U- oder S-Bahn trat man den Weg in Richtung Friedrichstraße an. Musste sich, nach Verlassen der Bahn, durch schier endlose schmale Gänge schlängeln und sich skeptisch von grau gewandeten Grenzbeamten beäugen lassen. Die die mit dem Ein-Tages-Visum vor allem deswegen auf dem Kieker hatten und immer wieder einmal auch genauer daraufhin in Augenschein nahmen, ob man/frau verbotenerweise etwas Verbotenes über die Deutsch-Deutsche Grenze zu schmuggeln sich unterstehen wollte. Was die sofortige Rückreise zur Folge gehabt hätte. Oder einen längeren Aufenthalt in Bürogebäuden der Hauptstadt der DDR hätte heraufbeschwören können.
Nachdem der obligatorische Umtausch von West- in Ostgeld stattgefunden hatte, und man sich auf der Friedrichstraße in unmittelbarer Nachbarschaft der Bahnüberführung wieder im Freien befand, trat ich via Unter den Linden den Weg in Richtung Alex an. Denn mein Ziel stand mir glasklar vor Augen: Die Ecke Karl-Liebknecht-Straße und heutiger Spandauer Straße, die damals bestimmt einen anderen Namen hatte, an den ich mich allerdings nicht erinnern kann, gelegene großräumige Buchhandlung, deren Namen ich auch nicht mehr weiß. Hatte man Glück, und das hatte man eigentlich immer, weil der Bedarf nach West-Währung im Osten unter den Normalsterblichen recht stark ausgeprägt war, wurde einem hinter vorgehaltener Hand ein Währungstausch nahegebracht; eine klassische Win-Win-Situation. Denn für die den Bücherkauf im Schilde führenden Westler bedeutete dieser Zugewinn an DDR-Währung einen Zugewinn an Kaufkraft. Umgekehrt, umgekehrt (Stichwort: Intershop).
Wäre man auf dem Rückweg in die Verlegenheit gekommen, dass ein übereifriger Grenzschützer die Wertigkeit des offiziellen Umtauschs mit der der erstandenen Bücher abgeglichen hätte, hätte es eventuell dahin kommen können – im besten Fall –, dass man einige der in Relation überschüssigen Schmöker hätte zurücklassen müssen. Was mir allerdings nie passiert ist.
Die längst vergangenen Tage des nicht ganz gefahrfreien West-Ost-Verkehrs kamen mir also in den Sinn, als ich von dem Kontakt meiner Tochter zu Herrn Dr. habil. Hans-Jochen Marquardt erfuhr. Und habe daraufhin selbst den Kontakt zu ihm aufgenommen. Herr Marquardt war so freundlich, mir die drei hier abgebildeten Fotos des Museums zur Verfügung zu stellen. Ihn, der es wie kein anderer wissen muss, lasse ich im Jetzt abschließend selbst und in eigener Sache zu Wort kommen.
Ein kleines Museum für eine große Tradition – das Reclam-Museum in Leipzig
„Am 10. November 2017 wurde Reclams Universal-Bibliothek 150 Jahre alt. Es gibt wohl hierzulande kaum jemanden, der nicht früher oder später mit ihr in Berührung gekommen ist. Seit dem 24. Oktober 2018 gibt es in der Gründungsstadt des Reclam Verlags ein ihm gewidmetes, privat finanziertes Museum. Es befindet sich gegenüber dem früheren Gebäude des Reclam Verlags, dessen Aura in das Souterrain der Kreuzstraße 12 ausstrahlt.
Eine Präsenzbibliothek umfasst ca. 10.000 Hefte der Universal-Bibliothek sowohl der Leipziger als auch der Stuttgarter Reihe von 1867 bis heute. Damit steht etwa ein Drittel der bisherigen Gesamtproduktion aller Titel der Universal-Bibliothek im Reclam-Museum zur Lektüre vor Ort bereit. Die Reihe ist wahrhaft universal, denn sie enthält nicht nur die wichtigsten Werke der Literaturen der Welt von der Antike bis zur Gegenwart, sondern auch herausragende Werke der Geistes- und der Naturwissenschaften, Lexika, Gesetzestexte, Werke zu Themen aus allen Lebensbereichen, bis hin zu alltagspraktischen Ratgebern für Haus und Garten. Breiteste Schichten der Bevölkerung sollten sich ohne Zwang zur Abnahme der gesamten Reihe für wenig Geld Bücher leisten können. Dies war und ist das Credo der Reihe. Das Wort Thomas Manns, das er 1928 in seiner Festrede aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Firma Reclam aus einer florentinischen Renaissance-Medaille zitierte und von dem er sagte, dass es den Wahlspruch des Hauses Reclam am Tage seiner Gründung hätte bilden können, ist nach wie vor gültig: Ut bibat populus – damit das Volk trinke.
Hauptzielgruppen der Universal-Bibliothek sind heute die Schulen und Hochschulen. Obwohl die Digitalisierung allerorten forciert wird, sind die Verkaufszahlen für E-Books und Hörbücher in Deutschland derzeit rückläufig. Offensichtlich existiert das haptische Bedürfnis, etwas schwarz auf weiß Gedrucktes in der Hand zu halten, nach wie vor. Ein Student fragte mich kürzlich, ob es möglich sei, Literatur ohne Reclams Universal-Bibliothek zu studieren. Ich antwortete ihm: „Das ist ein wenig wie bei Loriot: Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos!“. Jeder kennt die seit 1970 existierenden gelben Hefte der Reihe. Bis heute hat etwa die Hälfte aller Stuttgarter Titel die Farbe Gelb. Seit 1970 kamen nach und nach weitere fünf Farben hinzu, und besonders auch die blauen Lektüreschlüssel und die grünen Erläuterungen und Dokumente haben sich für das Studium in den Schulen und Hochschulen bewährt.
Während der deutschen Zweistaatlichkeit gab es zwei Reclam-Verlage und zwei Universal-Bibliotheken. Beide haben Hervorragendes geleistet. So bietet die Dauerausstellung einen Überblick über Vorgeschichte und Geschichte der Reihe bis zur Gegenwart, unter Einschluss ihrer vierzigjährigen Doppelexistenz. Die Ausstellung zeigt den markanten Wandel im Erscheinungsbild der Universal-Bibliothek und gibt Einblick in ihre thematische Vielfalt. Auch weniger bekannte Varianten und Nebenreihen werden gezeigt, dazu Kataloge, Werbemittel und einige Kuriositäten.
Besondere Exponate sind z. B. der berühmte Reclam-Bücherautomat (Dauerleihgabe des Verlags) und „Reclams Automaten-Bücher“, das nicht minder spektakuläre, altarförmige Original-Reclam-Regal von 1910/11, tragbare Feldbüchereien aus beiden Weltkriegen, Tarnschriften (Antikriegsschriften, getarnt im Reclam-Umschlag), Reclams Wochenend-Bücherei in der Blechkassette, Autographe von Anton Philipp, Ernst, Hans Emil und Heinrich Reclam und von Thomas Mann, zudem die handschriftliche Druckfreigabe von Hermann Hesse für seine Erzählung „In der alten Sonne“.
Der Dank des 2011 in Leipzig gegründeten Träger-Vereins gilt der gemeinnützigen Schulgesellschaft Rahn Education. Sie hat die Gründung des Museums ermöglicht, indem sie zwei Räume mietfrei zur Verfügung gestellt und außerdem die Herstellung eines großen Reclam-Regals gesponsert hat.“
Dr. habil. Hans-Jochen Marquardt ist Vorsitzender des Vereins Literarisches Museums. Dessen Sammlung stellt den Kern des Reclam-Museums dar.
Reclam-Museum
Kreuzstraße 12, 04103 Leipzig
Das Museum ist leider nicht barrierefrei erreichbar.
Postanschrift: Literarisches Museum e. V., Falterweg 8, 06126 Halle (Saale)
Telefon: 0345 5821 726
Geöffnet: Di und Do von 15 bis 18 Uhr, außer an gesetzlichen Feiertagen und zwischen Weihnachten und Neujahr.
Für Führungen von Gruppen gern außerdem auch nach Vereinbarung.
Der Eintritt ist frei; Spenden sind jedoch sehr willkommen.
- Weitere Informationen (Homepage Museum)
- Weitere Informationen (Homepage Verlag)
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