Meinung
Der gute Mensch von Riga. Ein Besuch der Gedenkstätte Jānis Lipke

Es ist ein wunderschöner Montagnachmittag, die Sonne scheint und die Herbstbäume leuchten in vielen bunten Farben. Eigentlich ein Tag den man draußen an der frischen Luft verbringen sollte, um die letzten schönen Tage vor dem Winter noch auszukosten.

Trotz des schönen Wetters entscheiden wir uns dazu, die Gedenkstätte des Jānis Lipke zu besuchen – einem wahren Helden, der während der deutschen Besatzung etwa sechzig jüdischen Bürgern die Flucht aus dem Judenghetto ermöglichte und sie letztendlich in, oder besser: unter, seinem eigenen Haus versteckte und damit nicht nur sein eigenes Leben, sondern zudem das Leben seiner Familie riskierte. Zunächst irren wir in Riga etwas unkoordiniert auf der Düna-Insel Ķīpsala durch die Gässchen, bis wir die Gedenkstätte für Jānis Lipke schließlich am Ende einer kleinen Sackgasse ausmachen. Zumindest wird den Besuchern dies auf einem Schild mitgeteilt – das Gebäude selbst ist nicht zu sehen, man sieht nur dunkle Bretter, die etwas zu umzäunen scheinen. Wir öffnen also die Tür und finden uns in einem dunklen Tunnel wieder – durch die Zwischenräume der dunklen Bretter lassen sich die warmen Sonnenstrahlen des schönen Herbsttages plötzlich nur noch erahnen. Auf etwas mehr Licht hoffend gelangen wir an eine weitere Tür – hinter dieser befindet sich zwar mehr Raum, mehr Licht jedoch nicht. Immerhin treffen wir hier auf Leben: ein äußert freundlicher Mann heißt uns willkommen und erklärt uns, wie wir am besten vorgehen. Ausgestattet mit einem Audioguide beginnen wir den Rundgang. Es ist zunächst nicht leicht, sich in dem Gebäude zu recht zu finden, es ist immer noch düster, und nur kleine weiße Pfeile an den Holzwänden weisen den Weg auf den Dachboden. Noch immer haben wir keine Vorstellung davon, wie das Gebäude aufgebaut sein könnte, noch immer hoffen wir darauf, bald an einen helleren Ort zu gelangen – vergebens.

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„Gerettet aus reiner Menschlichkeit“
Auf dem Dachboden stehen einige Schaukästen an den Wänden mit Erinnerungen an Jānis Lipke, seine Familie, weitere Unterstützer und natürlich an die von ihnen geretteten Menschen. Wir erfahren, wie die Lipkes gelebt haben, wie sie es geschafft haben, unerkannt zu bleiben und aus welchen vielseitigen Beweggründen heraus sie ihren jüdischen Mitmenschen geholfen haben. So zum Beispiel die Abneigung Jānis Lipkes gegen die deutschen Besatzer und deren Repressalien aber auch aus reiner Menschlichkeit, aus Mitgefühl und dem Verständnis dafür, dass das was mit diesen Menschen geschah, unmenschlich ist. Etwas Selbstverständliches sollte man meinen und doch viel zu selten Realität – auch teilweise heute noch. Zu groß die Angst vor den Konsequenzen, zu lieb das eigene Leben, zu schrecklich die Repressionen.

In der Mitte des Dachbodens befindet sich eine Luke mit den Maßen des Bunkers, den die Lipkes in ihren Haus-Hof gegraben haben und in dem sich die Menschen versteckt hielten – schaut man hinein, sieht man eine Leinwand, in der ein Interview mit Johanna Lipke – der Frau von Jānis – gezeigt wird. Man kann bis in den Keller schauen, wo man außerdem das Abbild des Originalbunkers mit den darin angebrachten Pritschen sehen kann. Johanna erzählt, wie sie den Menschen im Ghetto Essen durch die Zäune gereicht hat während diese beinahe verhungerten.

Sie erzählt, wie Janis und sie eigens den Bunker ausgruben und wie sie den sich dort befindlichen Menschen durch Lichtsignale zu verstehen gaben, wenn sich jemand dem Haus näherte, sodass diese sich besonders ruhig verhielten. In dem dreimal drei Meter großen Bunker versteckten sich während der Zeit des zweiten Weltkrieges meist acht bis zwölf Menschen gleichzeitig – kaum vorstellbar das beklemmende Gefühl dieser Umstände, sehnt man sich doch bereits nach zwei Minuten in der Gedenkstätte nach etwas Tageslicht, obwohl man dabei die Gewissheit hat, dieses früher oder später wiederzusehen. Eine solche Gewissheit war den Menschen in jenen Tagen nicht gegeben. Ihnen blieb lediglich die Hoffnung. Voller neuer Eindrücke und Informationen, die erst einmal verarbeitet werden müssen und froh, diesen besonderen Ort besucht zu haben, machen wir uns auf den Weg zum Ausgang – da ist er nun und verspricht einen Lichtblick in dem steten Dunkel der letzten Stunden. Und tatsächlich, hinter der Tür erwartet uns das ersehnte Tageslicht. Noch etwas geblendet sehen wir nun auch endlich das Gebäude in dem wir soeben so viel Zeit verbracht haben, ohne zu wissen, wie es denn eigentlich aussieht. Es ist unerwartet groß und hinter dem aus dunklen Brettern bestehenden Zaun ist das Haus der Lipkes zu sehen, das bis heute von ihren Nachkommen bewohnt wird.

Die Thematik ist heute noch so aktuelle wie damals
Betrachtet man das Weltgeschehen der heutigen Tage wird besonders deutlich, dass Gedenkstätten dieser Art nicht an Relevanz verloren haben und womöglich wichtiger denn je sind. Zu leichtfertig werden aus Unwissenheit Gruppierungen gebildet, die aus einem fehlgeleiteten Zusammengehörigkeitsgefühl andere Menschen ausschließen und zur Diskriminierung derselben führen. Dabei sollte sich jedoch jeder bewusst sein, dass dies meist aus reiner Willkür geschieht und gewissermaßen jeder Mensch plötzlich zu den Ausgeschlossenen, zu den „Fremden“, gehören könnte. So sind wir doch allesamt Menschen, gleichgültig aus welchem Land und mit welcher Religionszugehörigkeit und jeder Mensch ist in seinem Leben früher oder später auf die Hilfe und das Mitgefühl von anderen Menschen angewiesen – Jānis Lipke und seiner Familie schien dies stets bewusst zu sein.

Jānis Lipke (* 1. Februar 1900 in Jelgava; † 14. Mai 1987 in Riga) war ein lettischer Widerstandskämpfer während des Zweiten Weltkriegs.
Er war zunächst als Schauermann im Rigaer Hafen tätig. Nachdem er im Juli 1941 Zeuge von Diskriminierungen gegen lettische Juden durch die Nationalsozialisten geworden war, entschloss er sich, als Lagerarbeiter für die damalige Luftwaffe tätig zu werden, um unter dem Deckmantel dieser Funktion Juden aus dem Rigaer Ghetto zu schmuggeln und zu verstecken. Auf diese Weise bewahrte er bis zum Einmarsch der Roten Armee im Oktober 1944 etwa 56 Juden vor Ermordung durch die Nazis. In Lipkes Rettungsaktion waren neben seiner Frau Johanna und seinen beiden Söhnen rund 25 Helfer involviert.
Der Staat Israel würdigte Lipke 1977 als Gerechter unter den Völkern. Als er 1987 starb, wurde sein Begräbnis von der jüdischen Gemeinschaft Rigas organisiert. In Riga ist eine Straße nach ihm benannt (Žaņa Lipkes iela in der Moskauer Vorstadt), an seinem ehemaligen Wohnhaus auf der Daugavainsel Ķīpsala in der Mazā Balasta iela 8 wurde 2013 eine Gedenkstätte eröffnet.
Am 4. Juli 2007, dem lettischen Holocaust-Gedenktag, wurde neben der Gedenkstätte der Großen Choralsynagoge an der Gogoļa iela ein Denkmal für jene 270 Menschen enthüllt, die rund 400 lettische Juden vor den Nationalsozialisten versteckt haben. Die herausragende Rolle Žanis Lipkes wird durch sein in das Denkmal integriertes Porträt unterstrichen.
Quelle: Wikipedia


„Jānis Lipke Gedenkstätte" (Žanis Lipke memoriāls)
Mazais Balasta dambis 8, in 1048 Rīga / Lettland
Weitere Informationen in englischer Sprache

Hinweis: Die Inhalte der "Kolumne" geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.


Abbildungsnachweis: PR/Memorial of Žanis Lipke
Header: Blick in den Dachboden der Gedenkstätte.
Galerie:
01. Wegweiser zur Gedenkstätte
02.-04. Memorial of Žanis Lipke. Fotos: © Ansis Starks
05. Architekturmodell der Gedenkstätte. Zaiga Gaile, Architect of Žanis Lipke Memorial
06. Jānis Lipke

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