Kopf-Hörer: neue Aufnahmen – eine Entdeckungsreise
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Ravel, Ysaÿe, Stravinsky, Cavalli, dazu englische Renaissance-Musik und mittelalterliche Frauen-Power. Interpretiert von Yuja Wang, Teodor Currentzis, Christina Pluhar und anderen – unsere neue Kolumne „Kopf-Hörer“ beim KlassikKompass auf KulturPort.De lädt ein zu einer spannenden Entdeckungsreise mit neuen Aufnahmen.
Ravel meets Gershwin. Auf seiner ersten und einzigen Amerika-Tournee lernte Maurice Ravel 1928 in New York den eben 30 Jahre alten George Gershwin kennen. Und schrieb im Jahr darauf sein Klavierkonzert in G, das auf frappierende Weise sich der Stilmittel Gershwins bedient, die der in seinem 1928 komponiertes Klavierkonzert in F einsetzt. Eine tiefe Verbeugung des 23 Jahre älteren Franzosen vor der urbanen Power von Gershwins Musik und den Jazz-Einflüssen, die er verarbeitet. Und ein gefundenes Fressen für eine Tastenakrobatin wie die 28 Jahre junge Yuja Wang, die technische Höchstschwierigkeiten spielt, als gebe es für sie kein Limit. In den schnellen Sätzen ist das absolut bestechend, nur bliebt die wunderbare Lässigkeit der Gershwin-Reminiszenz oft auf der Strecke. Im Adagio des G-Dur-Konzerts dürfte es durchaus mehr Glut, Wärme und Leidenschaft geben. Auch bei Faurés „Ballade in Fis“ perlt jede Note perfekt daher, die dazugehörigen Gefühle bleiben allerdings bedeckt, das Ganze wirkt ein wenig seelenlos. „Sinnlichkeit und Ekstase ziehen sich durch das ganze Stück“, sagt Wang über das „Konzert in D für die linke Hand“ des virtuosen Klangfarbenzauberers Ravel. Und hier spürt man das schon eher, Wang spielt es nicht nur mit zupackender Vitalität, sie malt auch die düsteren Passagen fein aus.
Ravel: Klavierkonzert in G, Klavierkonzert für die linke Hand in D, Fauré: Ballade in Fis für Piano solo op.19.
Yuja Wang, Tonhalle-Orchester Zürich, Lionel Bringuier, CD
Deutsche Grammophon 479 4954
Reise durchs Violin-Universum. Der Belgier Eugène Ysaÿe (1858-1931) lernte Geige bei Wieniawski und Vieuxtemps, er war ab 1886 Violin-Professor in Brüssel und Dirigent. 1923/24 schrieb er seine sechs Sonaten für Violine Solo, eine Kompendium der zeitgenössischen Geigenkunst. Jede Sonate ist einem anderen jüngeren und berühmten Geiger seiner Zeit gewidmet, dessen Stil und Vorlieben sich Ysaÿes Musik traumhaft sicher anverwandelt. So findet man, gewidmet Jacques Thibaud, die zauberhafte Erinnerung an das Preludio von Bachs E-Dur-Partita, oder ganz viel Paganini in der einsätzigen sechsten Sonate, die Manuel Quiroga zugeeignet ist. Oder eine augenzwinkernde Auseinandersetzung mit dem Wiener Virtuosen Fritz Kreisler. Die niederländische Geigerin Frederike Saeijs wagt sich an diese fordernde Reise durchs Violin-Universum. Und bewältigt den Höchstschwierigkeiten-Parcours der sechs Solosonaten mit einer grandiosen Technik, deren Selbstverständlichkeit perplex macht, aber nie Selbstzweck wird. Sie öffnet ihr den Raum weit für die überlegene musikalische Gestaltung der Werke, die ihr tiefes Verständnis für unterschiedlichste Geigenstile abverlangen. Ein Highlight und ein Muss für Violin-Fans!
Eugène Ysaÿe: Six Sonaten für Violine Solo op.27.
Frederieke Saeijs. SACD/CD
Linn Records CKD 536
Ein Frühling der Revolution. Seit seinen furiosen Mozart-Opern ist Currentzis, der Grieche in Perm, als radikaler Entstauber bekannten Repertoires bekannt. Keine Frage, dass es ihm in den Fingern juckte, eines der radikalsten Werke der Moderne, Stravinskys „Sacre du printemps“ noch einmal daraufhin abzuklopfen, was denn 1913 bei der Uraufführung in Paris den Skandal verursacht haben mag, und, tiefer noch, was das Radikale in Stravinskys Musik wirklich ausmacht. In dieser Aufnahme läuft er mit seinen 112 Musikern (allein 63 Streicher) zur Höchstform auf: Chaos und Klarheit, Ekstase und raffinierte polyrhythmische Ordnung, harmonischer Umsturz und Volksmusik – bei Currentzis und seinem Orchester Music Aeterna kommt das alles aus derselben Wurzel: der Suche nach der Substanz, nach einer verlorenen Idee im verbürgerlichten Leben. „Frühling der Revolution, der Wiedergeburt, rachsüchtig und flammend“, der doch das neue Leben bringt, wie er in seinem poetischen Begleittext schreibt. Faszinierend, was er an Klangfarben in Stravinskys Partitur findet und mit teils sehr ungewohnten Tempi zu aufregendem, nie gehörten Leben erweckt.
Igor Stravinsky: Le Sacre du printemps.
MusicAeterna, Teodor Currentzis.
Sony Classical, 88875061 412
Entflammte Gefühle. Nach diversen musikalischen Fusion-Ausflügen in die Grenzlande der Alten Musik kehrt die Laute- und Harfenistin Christina Pluhar mit ihren Ensemble L’Arpeggiata zurück zum Frühbarock pur. „L’amore innamorato“ präsentiert frühe Opernmusik des Venezianers Francesco Cavalli (1602-1676) und ist eine Rundreise durch die entflammten Gefühle, die schon damals auf der Bühne vorgeführt wurden. Die hinreißenden Arien, die Nuria Rial und Hana Blažikovà mit feiner Brillanz und viel Einfühlungsvermögen singen, stammen überwiegend aus Cavallis Opernhit „La Calisto“. Das Booklet enthält einen sehr informativen Text über das Entstehen der venezianischen Oper. Zur Edition gehört eine 111-Minuten-DVD mit Live-Aufnahmen aus der Erfolgsgeschichte von L’Arpeggiata.
Francesco Cavalli: L’amore innamorato.
L’Arpeggiata/Christina Pluhar, Nuria Rial, Hana Blažikovà (Sopran) CD
Erato 0825 6461 6435 inkl. Bonus DVD: 15 Jahre L’Arpeggiata
Himmlische Stimmen und Gamben. Mr. Baldwin war seit 1598 Mitglied der Chapel Royal und sang bei den Begräbnisfeierlichkeiten für Queen Elizabeth I mit. Sein Vermächtnis: Er hat zwei Sammlungen mit Musik seiner Zeit kopiert. Sie sind ein sehr persönlich zusammengestelltes „Best of“ mit Werken von William Byrd, Orlando di Lasso, John Taverner und vielen Unbekannteren. Kirchenmusik – Antiphone, eine Messe, Motetten, Hymnen und auch höfische Instrumentalmusik. Perfekt für die glasklaren Stimmen der acht Sängerinnen und Sänger des Marian Consort, die diese Musik der frühen Shakespeare-Zeit zum Leuchten bringen.
Loquebantur – Music from the Baldwin Partbooks.
The Marian Consort, Rose Consort of Viols, Rory McCleery.
Delphian CD DCD34160
Frauen-Power. Zum dritten Mal nehmen sich die vier Sängerinnen von VocaMe der Texte einer starken Frau des Mittelalters an. Diesmal ist es Christine de Pizan (1364 bis ca. 1429), hoch produktive Schriftstellerin, Philosophin, Gesellschaftskritikerin und Feministin („Buch von der Stadt der Frauen“), zeitweilig im Umfeld des französischen Hofes. Nur eine zeitgenössische Vertonung eines ihrer Texte ist erhalten, VocaMe rekonstruiert mögliche weitere Liedfassungen aus vorhandener mittelalterlicher Musik und den Texten der Autorin, die wie geschaffen sind für den gesungenen Vortrag. Ein Vergnügen, den glockenklaren Stimmen zuzuhören und dazu die kristallklaren Gedanken von Christine de Pizan im Booklet zu verfolgen – bis hin zu ihrem letzten überlieferten Text, einer hoffnungsfrohen Hymne auf Jeanne d’Arc.
Christine de Pizan: Chansons et Ballades.
VocaMe. CD
Berlin Classics 0300699BC
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