Weihnachtsoratorium. A Ballet by John Neumeier
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Das Hamburg Ballett und sein Chef, der dienstälteste Ballettchef der Welt, haben eine ihrer publikumsträchtigsten Choreographien auf Video (DVD und BluRay) zugänglich gemacht: „Weihnachtsoratorium“, getanzt zur vollständigen Fassung von Johann Sebastian Bachs Vertonung der biblischen Weihnachtsgeschichte.
Am Ende erklingt allerdings nicht der Schlusschoral von Bachs sechster Kantate des Weihnachtsoratoriums. In Neumeiers Ballett ist das Ende der Anfang: Noch einmal jubelt Bachs freudig erregtes „Jauchzet, frohlocket“, glänzen Chor und Trompeten, knallen die Pauken, sausen die Geigen in rekordverdächtigem Tempo durch den Notentext, leuchtet auf der Bühne überbordende Weihnachtsfreude. Nach gut zweieinhalb Stunden ein hartnäckiges Insistieren auf dem weihnachtlichen Erlösungsversprechen. Alle Zweifel, Fragen, Bedrohungen und Ungewissheiten werden im festlichen Jubel weggetanzt. „Die Erlösung“, sagt Neumeier, „ist nicht vollendet, sie ist immer wieder neu zu erarbeiten. Sobald die Musik zum ‚Jauchzet, frohlocket’-Chor erklingt, und das ist das Wunder an Bachs Musik, wird in uns eine Flamme entfacht, welche die Idee der Freude zum Leuchten bringt.“ Erlösung ist zwar ein Geschenk, aber sie ist kein Selbstgänger, sondern ein Dauerauftrag an die Menschheit.
Seit 2007 gehört Neumeiers Ballett Weihnachtsoratorium zu den ausverkauften Highlights des Hamburger Ballettjahres. Angefangen hat Neumeier mit einer Choreographie der ersten drei Teile. 2013 stellte er dann sein komplettiertes „Weihnachtsoratorium“ vor – und das, sagt Neumeier, sei etwas völlig Neues geworden. In der war Tat einige Überarbeitung notwendig, um die zweiten drei Kantaten anzufügen.
In ihnen kommen neue Facetten hinzu, die gegenüber dem zentralen Weihnachtsgeschehen der Geburt Jesu eher im Hintergrund stehen: die Beschneidung Jesu, die Ankunft der Weisen aus dem Morgenland, die Heimtücke des Königs Herodes und die Flucht der heiligen Familie. Da wird der Gottessohn kommt im Alltag derer an, die er erlösen soll – verletzt, hilflos, selbst Flüchtlingskind, angewiesen auf die Hilfe anderer Menschen.
Die wichtigste Veränderung betrifft den stillen Beobachter, Rollenname „ein Mann“ und getanzt von Lloyd Riggins. Er schaut vom Rand her zu mit seinem kleinen Weihnachtsbaum und verbreitet mit seiner Mundharmonika trotzige Melancholie, bevor er sich zögerlich von der Freude der Engel und Hirten anstecken lässt. Bisher tauschte er am Ende Mantel und weiße Strickmütze mit Josef, der dann an seiner Stelle die Weihnachtshoffnung in die kalte Welt hinausträgt. Stattdessen hilft „der Mann“ nun der Familie zur Flucht, schenkt Mantel und Strickmütze der „Mutter“. Beides hilft, unerkannt vor dem kindermordenden König zu fliehen.
Natürlich erzählt Neumeier nicht nur die Weihnachtsgeschichte. Seine Choreographie fügt zur Musik Bachs eine neue Dimension hinzu. Er holt die Evangelien-Geschichte weit herein ins Menschliche. „Die Mutter“ (tief bewegend: Anna Laudere) hat sich mit ihrem Mann gelöst aus einer Gruppe von Menschen in einer Art Transitzone – Menschen auf dem Weg zu Augustus’ Volkszählung, sie könnten aber auch Vertriebene, Obdachlose oder Flüchtlinge sein. Suchende, die sich als Mahnung an die ungelösten Probleme der Welt immer wieder ins Geschehen schieben. „Die Mutter“ braucht Zeit, um den Wirbel, der da um ihr neugeborenes Kind losbricht, zu verarbeiten und zuzulassen, dass eine himmlische Eigendynamik ihre ganz irdischen Erwartungen vom Muttersein überschreibt. Und um die Furcht vor dem königlichen Kindermord durch zustehen. „Ihr Mann“ (Carsten Jung) steht dem Trubel in der Neufassung weniger skeptisch gegenüber, er darf bei seiner Familie bleiben und für sie sorgen.
Das Ensemble tanzt unmittelbar zugängliche, fesselnde Gefühle
Lloyd Riggins hat auch in den vielen nachdenklich-stillen Passagen der Rolle eine starke Präsenz und glänzt, als er endlich in den tänzerischen Jubel einstimmen darf. Silvia Azzoni und Alexandr Trusch tanzen ein überirdisches Engelpaar, das immer wieder an den himmlischen Ursprung der Geschichte erinnert. Die drei Weisen aus dem Morgenland sorgen eher für ein plakativ exotisches Flair.
Das Böse hält Einzug mit dem König. Ein grandios selbstverliebter Latino-Tänzer von krasser Egomanie, der nonchalant mordet und schließlich erkennen muss, dass seine Krone, für deren ängstlichen Erhalt er Bethlehems Kinder umbringen lässt, die Pappe nicht wert ist, aus der sie besteht. Das Ensemble schließlich tanzt neben den heimatlos Suchenden auch die unterschiedlichen Gefühle, die die Weihnachtsgeschichte auslöst: Freude, Furcht, Überwältigung, Zweifel – unmittelbar zugängliche, fesselnde, unter die Haut gehende Bilder.
Das Bühnenbild von Ferdinand Wögerbaum setzt reduzierte, aber starke Akzente: großartig das goldgleißende Quadrat zum Choral „Brich an, du schönes Morgenlicht“, zwei gekreuzte Balken zu Beginn des vierten Teils, die auf die düsteren Aspekte des Erlösungsdramas verweisen, drei Planetariumsschaukästen, die jedem der drei Weisen eine ganz eigene Wahrheit über das Himmelsgeschehen zugestehen – bis der Komet sie zur wahren Krippe führt.
Die Musik: Qualität made in Hamburg
Und dann ist da noch Bachs Musik. Die musikalische Qualität der Ballett-Aufführung nimmt unter den regelmäßigen Hamburger Weihnachtsoratorien seit 2007 unbestreitbar die Spitzenposition ein. Alessandro de Marchi leitet eine feine Auswahl aus Opernchor (einstudiert von Eberhard Friedrich) und den Barock-Fans der Hamburger Philharmoniker, die nicht nur seine für das Tanzgeschehen geforderten ekstatischen, teils halsbrecherisch rasanten Tempi mancher Chöre mit bravouröser Präzision meisterten. Als faszinierend makelloser, immer verständlicher Evangelist dabei: Julian Prégardien. Dazu ein Solistenquartett der Spitzenklasse: Mélissa Petits schlanker Sopran, Katja Piewecks großer, sinnlicher Alt, der traumhaft sichere und unfassbar bewegliche Tenor von Manuel Günther und Wilhelm Schwinghammers weicher, warmer Bass. Qualität made in Hamburg, denn alle vier sind hervorgegangen aus dem Internationalen Opernstudio der Hamburgischen Staatsoper.
Bleibt die Umsetzung des Balletts für den Fernsehschirm – ein ewiges Abwägen zwischen der Totale mit dem Gesamtbild und der Konstellation der Tänzer zueinander – und der Nähe, die einen Blick aus vielen Perspektiven auf die Tänzer erlaubt, den so auch ein gutes Opernglas kaum möglich macht. Das Ergebnis wird zwar immer ein Kompromiss sein, das der Blick gelenkt wird und nicht frei wandern kann. In diesem Fall aber hat die Arbeit des Aufnahmenteams von Bernhard Fleischer Moving Images während dreier Vorstellungen in der Hamburgischen Staatsoper am 25., 27. und 29. Dezember 2014 eine feine Aufnahme hervorgebracht. Sie gibt den Fans des getanzten Weihnachtsoratoriums das beruhigende Gefühl, bei Entzugserscheinungen nicht bis zum nächsten Weihnachtsfest warten zu müssen. Allen anderen demonstriert sie die überragende Qualität und Perfektion des Hamburg Balletts und ist bestens geeignet, sich seinen tänzerischen Ausdruckswelten zu nähern.
Als Bonus-Tracks sind zwei kurze Gespräche mit John Neumeier und Lloyd Riggins angefügt.
Weihnachtsoratorium. A Ballet by John Neumeier
Es tanzt das Hamburg Ballett
2 DVDs oder eine BluRay Disc
Label: C major
Nr. 732804
YouTube-Video:
Weihnachtsoratorium I-VI - Ballett von John Neumeier
Weihnachtsoratorium I-VI - Jauchzet, frohlocket - Ende
Quelle: Hamburg Ballett - John Neumeier
Abbildungsnachweis:
Header: Hamburg Ballett PR/C major
DVD-Cover
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