Klug setzt Andris Nelsons zwei Werke an den Beginn seines CD-Zyklus für die Deutsche Grammophon, die Wendepunkte im Leben des Komponisten Dmitri Shostakovich markieren: Ein Instrumentalstück aus der Oper, mit der er 1936 durch eine von Stalin inspirierte Kritik in der „Prawda“ als Hoffnungsträger der sowjetischen Musik ins abseits geschoben wurde. Und seine 10. Symphonie, die 1953 kurz nach dem Tod des Diktators entstand und als Abrechnung mit dem Gewaltherrscher gilt.
Am Beginn der CD steht die „Passacaglia“ aus der Oper „Lady Macbeth von Msensk“, im Januar 1934 uraufgeführt. Hoch expressive Musik, die im Geschehen der Oper den Moment markiert, an dem Katerina Ismailova ihren Schwiegervater und den ungeliebten Mann ermordet hat, um offen mit ihren Liebhaber Sergej zusammenzuleben. Ein archaische Form, die Passacaglia mit ihrer penetrant wiederkehrenden Basslinie. Zu Beginn der gequälte Aufschrei des Orchesters angesichts des mörderischen Tuns, bedrohlich aufgetürmt das wiederholte Thema. Gewalt, Schmerz.
Shostakovichs Oper war zunächst ein Riesenerfolg, der Uraufführung in Leningrad folgte die in Moskau, das Werk und sein Komponist wurden gefeiert. Zwei Jahre lang. Dann hatte Stalin im Januar1936 – dem Jahr der großen „Säuberungen“ und Schauprozesse – die Idee, sich das Stück zusammen mit führenden Genossen im Bolschoi-Theater anzuschauen.
Man sagt, er habe noch während der Aufführung das Theater ohne Kommentar verlassen. Im Klima der allgemeinen Angst legte der Diktator allein schon damit einen Bann über den Komponisten – der war in diesem Moment in Ungnade gefallen.
Shostakovich erinnerte sich später: „„Den 28. Januar 1936 werde ich nie vergessen, dieser Tag ist vielleicht der denkwürdigste in meinem Leben. Auf dem Bahnhof von Archangelsk – ich machte gerade eine Gastspielreise – kaufte ich die neueste ‚Prawda’. Ich durchblätterte sie und finde auf der dritten Seite den Artikel ‚Chaos statt Musik’ (hier geht’s zum kompletten Text des brandgefährlichen Verrisses. Er findet sich am Ende des Artikels aus dem SPIEGEL 38/1979, der aus den Memoiren des Komponisten zitiert, die 1979, vier Jahre nach seinem Tod, erschienen sind). Der Artikel veränderte meine ganze Existenz. Er trug keine Unterschrift, war also als redaktionseigener Beitrag gedruckt. Das heißt, er verkündete die Meinung der Partei. In Wirklichkeit die Stalins, und das wog bedeutend mehr.“
„Musikalisches Chaos, das hin und wieder in Kakophonie übergeht“
Es war eine Auseinandersetzung mit Shostakovichs Musik, eine vernichtende Kritik, eine Demontage des Komponisten – der doch am Ende seines Lebens auf fünf Stalin-Preise als Auszeichnungen zurückblicken kann. Schon im zweiten Absatz heißt es: „Den Hörer verblüfft von der ersten Minute an ein bewusst disharmonischer Klangfluss. Dieser ‚Musik’ zu folgen ist schwer, sie zu behalten ist unmöglich. Der Gesang auf der Bühne wird durch Schreien ersetzt. Und wenn der Komponist auf den Weg einer einfachen und verständlichen Melodie gerät, dann wirft er sich sofort, als ob er darüber erschrocken sei, in den Dschungel eines musikalischen Chaos, der hin und wieder in Kakophonie übergeht.“
(...) „Die Fähigkeit einer guten Musik, die Massen mitzureißen, wird den kleinbürgerlichen formalistischen Anstrengungen geopfert und dem Bemühen, Originalität mit den Mitteln eines billigen Originalismus zu schaffen.“
Sofort wird die Oper überall abgesetzt, werden Kritikversammlungen abgehalten. Shostakovich erinnert sich: „Alle wandten sich von mir ab. Es gab in dem ‚Prawda’-Artikel einen Satz, aus dem zu entnehmen war, dies alles könne ‚sehr schlecht enden’. Und nun warteten alle auf dieses schlechte Ende.“
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Nachdem Stalin wenige Tage später auch noch ein Ballett mit Shostakovichs Musik besucht hatte, erschien ein zweiter vernichtender Artikel. „Zwei solche Attacken innerhalb von zehn Tagen – das war für einen einzelnen Menschen zuviel. Jetzt wusste jeder, dass ich dran glauben musste. Und die Erwartung dieses – jedenfalls für mich – bemerkenswerten Ereignisses hat mich seitdem nie mehr verlassen. Das Etikett ‚Volksfeind’ blieb für immer an mir kleben. Ich brauche wohl nicht zu erklären, was dieses Etikett in jener Zeit bedeutete.“
Marschall Tuchatschewski, der im Juni 1937 nach einem Schauprozess hingerichtet wurde, setzt sich in einem Brief an Stalin für den befreundeten Shostakovich ein. Der habe doch außer der dekadenten und zu Recht kritisierten Oper auch Musik komponiert, die das sozialistische Vaterland würdig besingen.
„Das Warten auf die Exekution hat mich mein Leben lang gemartert“
Vergebens. Shostakovich rutscht mental für lange Zeit tief in eine Gefahrenzone. Schläft in seinen Kleidern, einen gepackten Koffer unterm Bett, falls man ihn abholen würde. Er schreibt: „Das Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich mein Leben lang gemartert haben, viele Seiten meiner Musik sprechen davon.“
Tatsächlich wird er in den kommenden Jahren mehrfach in das Hauptquartier der Geheimpolizei bestellt, befragt, bedroht, eingeschüchtert. In seinem Freundeskreis werden Menschen wegen geringerer „Vergehen“ hart bestraft.
Er stoppt die Vorbereitungen zur Uraufführung seiner vierten Symphonie, sie wird erst nach dem Weltkrieg in einer reduzierten Fassung für zwei Klaviere erstmals erklingen. Mit seiner fünften Symphonie, uraufgeführt im November 1937, erreicht er aber einen großen Publikumserfolg und so etwas wie eine Rehabilitation – der Schlussmarsch wird als Verherrlichung von Stalins Regime verstanden. In seinen Memoiren schreibt der Komponist aber: „Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“
Shostakovich versteht sich als freier Künstler, auch wenn er schon früh mit den Revolutionären sympathisiert und in der jubelnden Menge steht, als Lenin 1917 im Finnischen Bahnhof von St. Petersburg ankommt. Er fühlt sich allerdings nicht ideologisch gleichgeschaltet, sondern als sozialistischer Künstler aus einem tiefen humanen Impuls. So wie in seiner 7., der Leningrader Symphonie – die ihn zum Komponisten des Großen Vaterländischen Krieges macht und dennoch nicht Verherrlichung des Waffengangs sein soll. Zwar schreibt er 1942 in der „Prawda“: „Ich widme meine Siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt“ und wird gefeiert.
Aber nach dem Krieg wird er für dieses Werk heftig kritisiert, weil er den Sieg der Roten Armee nicht genügend glorifiziert habe in seiner Musik: „Mangelnden Optimismus“ wirft man ihm vor. Dass sein künstlerischer Kommentar zur Schlacht um Leningrad subtiler gemeint sein könnte, kommt den Kritikern nicht in den Kopf. In seinen Memoiren schreibt er viel später: „Ich musste ein Requiem schreiben für alle Umgekommenen, für alle Gequälten. Ich musste die furchtbare Vernichtungsmaschinerie schildern und den Protest gegen sie zum Ausdruck bringen. Aber wie? Argwohn umgab mich, wo ich ging und stand. (...) Da kam der Krieg. Der heimliche, der isolierte Kummer wurde zum Kummer aller.“
Die sowjetische Kulturbürokratie ächtet ihn erneut für etliche Jahre. Auch mit seiner 9. ist man nicht zufrieden, weil er statt der erhofften Siegessinfonie am Ende keinen Triumph musikalisch ausmalt, sondern einen Zirkusmarsch komponiert.
Stalin benutzt seine Musik, wo sie ihm passt, exportiert sie – wie sie 7. Symphonie – auch ins Ausland. Shostakovich wird sogar eingeladen, an der Neukomposition einer Nationalhymne anstelle der „Internationalen“ mitzuwirken. Trotzdem stecken ihm Abneigung und Angst tief in den Knochen. Als Stalin am 5. März 1953 auf seiner Datscha in Kunzewo stirbt, beginnt der Komponist mit der Arbeit an einer zehnten Symphonie.
Nelsons befragt die Musik nach dem, was sie uns über unsere Zeit sagen kann
Und mit ihr sind wir wieder bei der CD von Andris Nelsons mit dem Boston Symphony Orchestra; wo der Dirigent aus Riga, Jahrgang 1978, der noch selbst unter dem Sowjetregime aufgewachsen ist, seit 2014 Chefdirigent ist. Shostakovichs Zehnte – ist es eine Abrechnung mit Stalin? Das wäre wohl zu platt gedacht, auch wenn sich hübsche Hinweise darauf finden lassen. Es ist mehr als das: eine sehr persönliche Zwischenbilanz nach dem Tod des Diktators, der den Komponisten erniedrigt, gequält und benutzt hat. Die Selbstvergewisserung eines Überlebenden.
Die Theorie einer „Abrechnung“ stützt sich im wesentlichen auf die Verwendung der Notenfolge D-Es-C-H, eine Art musikalische Signatur aus D wie Dmitrij und S-C-H wie in der deutschen Schreibweise von Shostakovich. Eine Signatur, die der Komponist auch in anderen Werken verwendet hat.
Die Nelsons-Aufnahme entstand als Mitschnitt eines Live-Konzerts im April 2015 in Boston. Eine Aufnahme, die sehr viel Lust auf mehr macht. Die Bostoner spielen klar und aus einem Guss, ihr Klang wirkt voll, aber dick aufgetragen, sie malen auch nicht die verführerische, aber doch eher eindimensionale Legende über die „Abrechnung“ nach. Statt dessen befragen sie die Musik sehr heutig nach dem, was sie uns, in Erinnerung an ihre Historie und den Weg ihres Schöpfers, über unsere eigene Zeit sagen kann – über existenzielle Ängste und Bedrängnisse, Verzweiflung, über Sehnsucht, Melancholie, Trauer.
Drohend düstere Bässe reißen im ersten Satz finstere Räume auf, Melancholie und Trauer drehen sich im Kreis, ein Schwebezustand der Ungewissheit. Und Bläserpassagen, die an Trauermusik und ein Requiem erinnern.
Im zweiten Satz wird ein nervöses, vibrierendes, beklemmendes Marschthema aufgebaut, das deutlich einen militärischen Touch bekommt durch die Trommeln, treibende Unruhe ausstrahlt, latente Gefahr. Das stelle das schreckliche Gesicht Stalins dar, soll Komponistensohn Maxim einmal gesagt haben.
Der dritte Satz nimmt dieses Thema fugiert auf, keck geht das D-Es-C-H dazwischen, wandelt sich in ein C-D-Es-H. Beharrlich penetrant nimmt es den Kampf mit Orchesterschlägen auf, droht zu unterliegen, die Bässe grollen drohend, bis die Musik erschöpft erstirbt.
Im vierten Satz entwickelt sich ein Idyll, in das sich das nervöses Thema des zweiten Satzes einschleicht und gefährlich Raum gewinnt. Es verdrängt die heitere Stimmung, bis es von einem energischen Tutti-D-Es-C-H gestoppt wird. Im Finale wird diese Signatur des Komponisten geradezu manisch wiederholt, am Ende auch von der Pauke mehrfach unüberhörbar in die Musik hineingeschlagen. Noch unsichere, deshalb umso lautere Selbstbehauptung nach langer Lebensunsicherheit.
Nelsons, 2016 „Parsifal“- und 2020 „Ring“-Dirigent in Bayreuth und ab 2017 auch noch als Nachfolger von Riccardo Chailly Gewandhauskapellmeister in Leipzig, hat mit dieser CD und seinem großartigen Orchester seinerseits eine Signatur-CD abgeliefert, die ganz hohe Erwartungen weckt auf ihre gemeinsamen Deutungen der übrigen Shostakovich-Symphonien.
Shostakovich – Under Stalin’s Shadow.
Symphony No.10. Andris Nelsons mit dem Boston Symphony Orchestra.CD Deutsche Grammophon
479 5059
Dmitri Shostakovich: Die Memoiren des Dmitrij Shostakovich. Propyläen Verlag
Abbildungsnachweis:
Header: Dimitri Shostakovich im Alten von ungefähr 20 Jahren.
CD-Cover
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