Der Hamburger Storck Verlag hat soeben den Titel „Der Geist der Palmaille“ der vor anderthalb Jahren verstorbenen Kunsthistorikerin, Archäologin und Sozialwissenschafterin Ruth Pinnau in dritter Auflage vorgestellt.
In der erstmalig 1997 publizierten Hamburgensie tritt die norddeutsche Autorin nachdrücklich und leidenschaftlich für den einzigartigen und autonomen Geist des ehemals eigenständigen Altonas und die Bewahrung jenes kulturhistorischen Gedächtnisses ein, von dem die Freie und Hansestadt Hamburg gerade auch in Eigendefinitions- und Imagefragen bis heute profitieren konnte.
Nicht enden wollende kulturpolitische und finanzielle Diskussionen um die Elbphilharmonie, die Museumsstiftungen und die Zukunft von kulturellen Instituitionen per se verleihen dieser aktuellen Bucherscheinung besondere Brisanz:Â Der Buchtitel „Der Geist der Palmaille“ fokussiert eine der Hamburger Prachtstraßen in Altona, nämlich die Palmaille. Diesen Namen, so erfährt der Leser in der „Chronologie einer ehemaligen Stadt“ – mit der Altona gemeint ist – im Unterkapitel über den dänischen Architekten Christian Frederik Hansen, verdankt die Palmaille dem „Pallamaglio-Spiel“, einem von mehreren, seit der Renaissance an den europäischen Fürstenhöfen und bei der wohlhabenden Bürgerschaft beliebten Ballspiele. Schon in den Werken Shakespeares soll eine Vorform des heutigen Tennis und Boccias oft und gerne gespielt worden sein, die sich seit Mitte des 14. Jahrhunderts von Italien aus über Frankreich und Holland bis hin nach England verbreitet hatte.
1638 bis 1639 legte der letzte Graf von Holstein-Schauenburg Otto VI. (oftmals in der Literatur auch als Otto der V. bezeichnet) mitten im Dreißigjährigen Krieg, nachdem Altona jahrelangen Plünderungen, Brandstiftungen und der Pest ausgesetzt gewesen war, einen 800 Meter langen, verbreiterten Weg als Übungsstätte für das Spiel mit der palla a maglio (= Kugel mit Hammer) an, bepflanzte diesen mit 400 Lindenbäumen in vier Reihen und ebnete dazwischen drei Bahnen, um darauf Pallamaglio-Wettkämpfe auszutragen: Die „Palmaille“ war geboren. Dabei wurde mit einem hölzernen Hammer eine Kugel die Spielbahn entlang getrieben und von beiden gegnerischen Parteien zum Sieg durch das jeweils entgegengesetzte Ziel gestoßen, das aus einem Bogen am Ende der Bahn bestand. Der Popularität dieser Palmaille-Spielaustragungen ist es zu verdanken, dass rund zwanzig Jahre nach dem Tod des Grafen die Altonaer 1664 das Symbol eines „offenen Tors“ zum städtischen Wappen wählten.
Doch dazu gleich mehr. Zunächst erklärt Ruth Pinnau (1924-2010) in ihrem Vorwort, das in der Erstausgabe vom Geist der Palmaille aus dem Jahr 1997 abgedruckt ist, ihre persönliche Verbundenheit zu Altona und deren beeindruckend fassadenreichen Promenade dadurch, dass hier ihr Ehemann Caesar Pinnau im ehemaligen Privathaus des dänischen Architekten Christian Frederik Hansen in der Palmaille Nr. 116 sein Archtitekturatelier eingerichtet hatte. Beide Männer sieht sie als Repräsentanten des glanzvollen, widerständigen „Geistes der Palmaille“ an, den sie sich in ihrem Buch mittels einer Darstellungstechnik, die man als „erzählte Geschichte“ bezeichnen könnte, zu porträtieren vornimmt: Menschen dieser Gesinnung handeln oft „gegen den Zeitgeist“ und „aus innerer Einsicht heraus“, wie sie damals schreibt.
Über ein Jahr nach Ruth Pinnaus Ableben erscheint ihr Buch nun in drittter, überarbeiteter Auflage. Die sehr individuelle Form der Mikrogeschichte, die Pinnau, ganz auf die Palmaille und Altona konzentriert, vorlegt, besticht nicht nur durch die breit gefächerte Perspektive der studierten Kunsthistorikerin, Archäologin und Soziologin. Die Hamburger Autorin beweist darin vielmehr – für eine Akademikerin eher unüblich – Mut zur Subjektivität. So entsteht durch ihren gefilterten Blick auf die Vergangenheit ein Straßen-, ja Stadtteilporträt, das die wichtigsten Kulturströmungen der deutschen Makrogeschichte reflektiert. Ihr Text versteht sich als das kommentierte kulturelle Gedächtnis einer Allee, der die beiden Dänen Christian Frederik Hansen und sein Neffe Johann Matthias Hansen einst durch klassizistische, sich an einem Andrea Palladio inspirierende Gebäude das Erscheinungsbild einer Pariser Champs-Elysées verliehen und die im heutigen Durchgangsverkehr zwischen Hamburger Hafen und dem Autobahnkreuz Hamburg-Othmarschen in seiner traditionellen „geistigen“ Bedeutung der Aufwertung und kulturellen Bewahrung bedarf.
Der Inhalt ist in vier aufeinander folgende sogenannte Chronologien untergliedert und zeichnet die Wechselfälle der Geschichte Altonas bzw. der Palmaille vom 16. Jahrhundert bis zum Dritten Reich und zur Nachkriegszeit nach. Pinnaus Grundthese baut auf der jahrhundertealten Konkurrenz zwischen Altona und Hamburg auf, wobei sie der Palmaille als Prachtboulevard und Herzstück Altonas die Funktion eines geistigen Gegenpols zuordnet. Ihre Leidenschaft für die Romantik, über die sie promoviert hat, spiegelt sich in den Schlussworten ihres Epilogs wider, den sie mit einem Zitat Hölderlins über die menschliche Freiheit ausklingen lässt. In diesem letzten Kapitel schließt sich auch der autobiographische Kreis zu Caesar Pinnau, der durch seinen Tod 1988 an der Einrichtung einer Altonaer Stiftung im Hansen-Haus 116 gehindert worden sei und es nicht mehr geschafft habe, dieses der Stadt zu übereignen und es in eine Gedenkstätte der Altonaer Kultur sowie in einen kommunikativen Veranstaltungs- und Begegnungsort für in Altona lebende und wirkende Künstler, Autoren, Philosophen und Forscher umzufunktionieren. So musste die 1803/04 von C. F. Hansen erbaute und vom Ehepaar Pinnau 1973 erworbene Villa verkauft werden. Sie wurde zwar nicht öffentlich zugänglich, sondern ist bis heute im Privatbesitz geblieben, aber an die Stelle eines Altonaer Kulturvereins trat Ruth Pinnaus Buchprojekt, dessen Ergebnis der Leser nun in den Händen halten kann.
Der touristisch verbreitete Werbeslogan von Hamburg als dem „Tor zur Welt“ erinnert noch heute auf verschlungenem Weg an die historische Stellung des ehemals „allzunahen“ Bollwerks Altona, das fünf Jahrhunderte lang im unverhohlenen, weltanschaulichen Zwist mit Hamburg lebte. Pinnau positioniert das Verhältnis Hamburgs zu Altona im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Kultur. Letztlich geht es ihr im Buch jedoch ausschließlich um Geistesgrößen und Freidenker: Dippel, Lessing, Struensee, Hansen, Liliencron, Dehmel und Bardenfleth. Deren Lebensanschauungen, Taten und Worte verwebt Pinnau kontinuierlich mit der „großen Geschichte“, d.h. mit übergeordneten historischen Zusammenhängen, und bettet sie ein in die jeweils vorherrschenden Meinungsbilder und intellektuellen Auseinandersetzungen mit den Hamburger Bürgermeistern, Altonaer und deutschen Staatsmännern sowie den Dichtern und Denkern der Zeitgeschichte. Altona wird aus der Sicht der Autorin zu einem kulturellen Raum, in dem sie, ihren eigenen Vorlieben gemäß, insbesondere die Bereiche der Architektur, des Theaters, der Literatur, Religion und Kunst thematisiert. Auffallend wenig hingegen widmet sie sich der Musik.
Immer wieder kommen die Grabenkämpfe zwischen Hamburg und Altona zur Sprache, aus denen, folgt man der Autorin, Altona grundsätzlich besser hervorgeht. Als der „schwerste Brocken“ für Hamburg wird die offizielle Erhebung Altonas in den Rang einer Stadt anno 1664 beschrieben. Pinnaus Leitfaden bleibt dennoch das kulturelle Gedächtnis einer Allee, der Allee Altonas und später Hamburgs: der Palmaille. Bezeichnend ist ihre einleitende Beobachtung, dass die Flagge Hamburgs geschlossene Tore zeige, während die Tore auf dem Wappen der „neuen Stadt“ Altona offen stünden. Dies, so Pinnau, dokumentiere den toleranten Charakter der multireligiös zusammengesetzten Bevölkerung Altonas und beweise wieder einmal die Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit des Lebenswandels im Vergleich zum angrenzenden Hamburg.
In der Tat betont die philosophisch, literarisch und kunstgeschichtlich versierte norddeutsche Verfasserin Altona als einen geschichtlichen Hybridraum, als einen Schmelztiegel kultureller Aktivitäten und Persönlichkeiten, als eine Schnittstelle zwischen historisch Erinnerungswürdigem und ihrer eigenen, ganz persönlichen Lebensgeschichte. Der Geist der Palmaille ist weder ein Geschichtsbuch noch eine romaneske Autobiographie – es ist beides. Auf diese Weise erklären sich vermeintliche Unschärfen oder Widersprüchlichkeiten, wenn es etwa im weiteren Buchverlauf im Dehmel-Kapitel aus dem Munde einer Wirtin abwertend heißt, im Jahr 1893 hätten Gesindel, Bettler und Tagelöhner das Stadtbild Altonas bestimmt, das zu einem Asylantenheim für asoziale Hamburger geworden sei.
Pinnau versucht zwar, auch die Warte des einfachen Volkes einzunehmen, doch gelingt ihr dies nur bedingt. Gerade darin wiederum liegt die Stärke dieses Caesar Pinnau gewidmeten, vom Genremix her hochaktuellen Bandes: Die Autorin belegt in einem akkuraten Fußnotenapparat zu jedem einzelnen Kapitel scheinbar objektive Daten. In Wahrheit aber dient ihr die historische Recherche dazu, ihre eigene Phantasie zu beflügeln, um den Leser mitzureißen, sich selbst in ein Verhältnis zum Erzählten einzubringen, den weiblichen Blick interpretierend auf die Geschichte zu richten und permanent den Kerngedanken „So könnte es abgelaufen sein“, den sie in der Dehmel-Episode formuliert, schriftstellerisch durchzuspielen.
Genau diese Technik, verschiedene Genres – wissenschaftliche Studie, kulturhistorischer Abriss, Roman oder Autobiographie – interdisziplinär miteinander zu kombinieren, macht das Buch so lesenswert und einprägsam. Der Geist der Palmaille wird für den Leser erst dadurch wirklich nachvollziehbar, anschaulich und verständlich, dass Pinnau der Geschichte einen neuen Atem einhaucht, sie revitalisiert und eine Straße, durch die der heutige Hamburger oder Hamburg-Besucher unwissend oder achtlos fahren könnte, beispielhaft als historisches Kleinod ausleuchtet, um dem ganzen Quartier dadurch eine neue Bedeutung zu schenken.
Nicht nur Ruth Pinnaus Subjektivität, auch ihre historische Empathie machen ihre Erzählungen im Auge des Lesers sympathisch, etwa wenn sie Lessings Gedanken über Vernunft und Glaube, Religion und Philosophie zitiert und in einen fiktiven Dialog mit dem Altonaer Arzt Struensee einflicht. Lessings Schlussfolgerung, die Aufklärung habe „die Scheidewand“ zwischen „Orthodoxie“ und Philosophie niedergerissen und die Menschen dadurch „unter dem Vorwand, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen“ gemacht, lassen das ganze philosophische, innere und zeitgeschichtliche Drama Lessings menschlich plausibel und begreifbar werden.
Wenngleich es an Seitenhieben gegen die aus Altonaer Perspektive missliebigen Hamburger, die zu Lessings Zeiten „Klamauk, nicht Aufklärung“ begehrten, nie fehlt, so scheut sich Pinnau doch auch nicht, den vorbildlichen Altonaer Unternehmergeist eines Van der Smissen zu betonen, der die Errichtung eines Spielkasinos an der Palmaille, Ecke Röperstraße, anregte und den Altonaer Handel „gegen die hanseatische Schikane“ verteidigte. Seit Hitlers „Gesetz über Groß-Hamburg“, das er 1937 mit Blick auf den „größten Hafen des Reiches“ erließ und dadurch den Stadtkreis Altona ein Jahr später kurzerhand in das Land Hamburg eingemeindete, gehört es zu den Spezifika Altonas, nunmehr ein Hamburger Stadtteil zu sein: „‚Groß-Hamburg’ wurde zum Symbol für das geplante ‚Groß-Deutschland’“ und beendete nicht nur die jahrhundertealte Rivalität zwischen den beiden Städten, sondern begrub auch, wie Pinnau meint, die Einzigartigkeit und Bewahrungswürdigkeit Altonas.
Wie sehen die Palmaille und Altona heute aus, nachdem sie stadtplanerisch ganz in Hamburg aufgegangen sind? Pinnaus Resümee endet 1997, dreizehn Jahre vor ihrem Tod, mit der kritisch-resignativen Schlussfolgerung, Altona könne wohl nur noch mit den touristischen Attraktionen von Hagenbecks Tierpark und dem Volksparkstadion aufwarten. Ihr Buch beweist sicherlich das Gegenteil, doch muss die Bemerkung erlaubt sein, dass das Bewusstsein, das Pinnau für die Geschichte Altonas damit schaffen wollte, wohl angesichts einer drohenden Schließung des Altonaer Museums 2010 und der für Spätsommer 2013 mittels der Elbphilharmonie geplanten, künstlichen Neudefinition Hamburgs als Musikmetropole bei modernen städtebaulichen Maßnahmen und im kulturellen Budget der Hansestadt wohl keine große Rolle mehr zu spielen scheint.
Es wirkt so, als habe Pinnaus Position, die die periphere Randstellung, die kulturelle Widerständigkeit und geistige Autonomie Altonas hervorhebt, das Nachsehen angesichts der politischen Entscheidungsmacht des Zentrums, das sich mit Hamburg und vorrangig wirtschaftlichen Interessen, weniger mit künstlerischen, traditionellen und historischen Aspekten der Stadt und seines „Stadtteils“ Altona identifiziert. Nur die Zukunft wird zeigen, inwieweit Projekte wie die Hafencity durch die Errichtung eines neuen, primär wirtschafts- und konsumorientierten Zentrums – anders als das 1765 zu Lessings Zeiten an den „hanseatischen Krämerseelen aus Hamburg“ kläglich gescheiterte Projekt eines Nationaltheaters am Gänsemarkt als erstes festes Schauspielhaus in Deutschland – die Stadt insgesamt konzeptuell und auch kulturell eher stärken werden, oder ob dadurch ein zusätzliches neues Zentrum entsteht, das den Charme Hamburgs vielmehr auf jene Art zu bereichern vermag wie es einst Altona getan hat und wie es die vielfältigen, eigenständigen Stadtteile Hamburgs durch ihre einzelnen historisch gewachsenen, sozialen und kulturellen Traditionen bis heute noch tun.
Der Geist der Palmaille
3. Auflage 2011, Storck Verlag Hamburg,Hardcover, 308 Seiten
ISBN 978-3-86897-155-2.
Abbildungsnachweis:Â (alle Stadtarchiv Altona)
Header:Â Gemäldedetail von Wilhelm Heuer "Bahnhof und Palmaille in Altona", Federlithographie, um 1850.
Galerie:
01. Stadtplan von Altona. Dänische Karte des Jahres 1803.
02. Kartenauschnitt zur Lage der Palmaille, aus Ritters Lexikon, um 1850.
03. Palmaille um 1830 (Kolorierter Stich)
04. Vom alten Bahnhof führt die baumbestandene Palmaille zur dicht bebauten Altstadt mit der Hauptkirche St. Trinitatis am linken Bildrand; am Horizont, hinter dem teilweise noch unbebauten St. Pauli, liegt Hamburg im Dunst, um 1850.
05. Blick von der Palmaille auf das Siegerdenkmal, das nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871/72 aus erbeuteten französischen Kanonen errichtet wurde. Rechts der Bahnhof. Gemälde von 1875.
06. Blick entlang der Südseite der Palmaille auf die Preußische Garnison. Fotografie um 1890.
07. Postkarte der Palmaille vom Neuen Rathaus (ehemaliger Bahnhof). Fotografie von 1899.
08. Am östlichen Ende, Richtung St. Pauli, stand die Palmaillen-Halle, ein Restaurant und Klublokal. Fotografie um 1900.
09. Kolorierte Postkarte aus dem Jahr 1905.
10. Postkarte der Palmaille aus dem Jahr 1914. Blick von St. Pauli aus.
11. Die Palmaille mit spärlicher Baumbepflanzung und Straßenbahn in der Mitte im Jahr 1966.
12. Erinnerungstafel zur Entstehung der Palmaille. Foto:Â Claus Friede.
13. Buch-Cover:Â "Der Geist der Palmaille", Storck Verlag.
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