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Immer wieder kommen die Grabenkämpfe zwischen Hamburg und Altona zur Sprache, aus denen, folgt man der Autorin, Altona grundsätzlich besser hervorgeht. Als der „schwerste Brocken“ für Hamburg wird die offizielle Erhebung Altonas in den Rang einer Stadt anno 1664 beschrieben. Pinnaus Leitfaden bleibt dennoch das kulturelle Gedächtnis einer Allee, der Allee Altonas und später Hamburgs: der Palmaille. Bezeichnend ist ihre einleitende Beobachtung, dass die Flagge Hamburgs geschlossene Tore zeige, während die Tore auf dem Wappen der „neuen Stadt“ Altona offen stünden. Dies, so Pinnau, dokumentiere den toleranten Charakter der multireligiös zusammengesetzten Bevölkerung Altonas und beweise wieder einmal die Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit des Lebenswandels im Vergleich zum angrenzenden Hamburg.

In der Tat betont die philosophisch, literarisch und kunstgeschichtlich versierte norddeutsche Verfasserin Altona als einen geschichtlichen Hybridraum, als einen Schmelztiegel kultureller Aktivitäten und Persönlichkeiten, als eine Schnittstelle zwischen historisch Erinnerungswürdigem und ihrer eigenen, ganz persönlichen Lebensgeschichte. Der Geist der Palmaille ist weder ein Geschichtsbuch noch eine romaneske Autobiographie – es ist beides. Auf diese Weise erklären sich vermeintliche Unschärfen oder Widersprüchlichkeiten, wenn es etwa im weiteren Buchverlauf im Dehmel-Kapitel aus dem Munde einer Wirtin abwertend heißt, im Jahr 1893 hätten Gesindel, Bettler und Tagelöhner das Stadtbild Altonas bestimmt, das zu einem Asylantenheim für asoziale Hamburger geworden sei.

Pinnau versucht zwar, auch die Warte des einfachen Volkes einzunehmen, doch gelingt ihr dies nur bedingt. Gerade darin wiederum liegt die Stärke dieses Caesar Pinnau gewidmeten, vom Genremix her hochaktuellen Bandes: Die Autorin belegt in einem akkuraten Fußnotenapparat zu jedem einzelnen Kapitel scheinbar objektive Daten. In Wahrheit aber dient ihr die historische Recherche dazu, ihre eigene Phantasie zu beflügeln, um den Leser mitzureißen, sich selbst in ein Verhältnis zum Erzählten einzubringen, den weiblichen Blick interpretierend auf die Geschichte zu richten und permanent den Kerngedanken „So könnte es abgelaufen sein“, den sie in der Dehmel-Episode formuliert, schriftstellerisch durchzuspielen.
Genau diese Technik, verschiedene Genres – wissenschaftliche Studie, kulturhistorischer Abriss, Roman oder Autobiographie – interdisziplinär miteinander zu kombinieren, macht das Buch so lesenswert und einprägsam. Der Geist der Palmaille wird für den Leser erst dadurch wirklich nachvollziehbar, anschaulich und verständlich, dass Pinnau der Geschichte einen neuen Atem einhaucht, sie revitalisiert und eine Straße, durch die der heutige Hamburger oder Hamburg-Besucher unwissend oder achtlos fahren könnte, beispielhaft als historisches Kleinod ausleuchtet, um dem ganzen Quartier dadurch eine neue Bedeutung zu schenken.

Nicht nur Ruth Pinnaus Subjektivität, auch ihre historische Empathie machen ihre Erzählungen im Auge des Lesers sympathisch, etwa wenn sie Lessings Gedanken über Vernunft und Glaube, Religion und Philosophie zitiert und in einen fiktiven Dialog mit dem Altonaer Arzt Struensee einflicht. Lessings Schlussfolgerung, die Aufklärung habe „die Scheidewand“ zwischen „Orthodoxie“ und Philosophie niedergerissen und die Menschen dadurch „unter dem Vorwand, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen“ gemacht, lassen das ganze philosophische, innere und zeitgeschichtliche Drama Lessings menschlich plausibel und begreifbar werden.
Wenngleich es an Seitenhieben gegen die aus Altonaer Perspektive missliebigen Hamburger, die zu Lessings Zeiten „Klamauk, nicht Aufklärung“ begehrten, nie fehlt, so scheut sich Pinnau doch auch nicht, den vorbildlichen Altonaer Unternehmergeist eines Van der Smissen zu betonen, der die Errichtung eines Spielkasinos an der Palmaille, Ecke Röperstraße, anregte und den Altonaer Handel „gegen die hanseatische Schikane“ verteidigte. Seit Hitlers „Gesetz über Groß-Hamburg“, das er 1937 mit Blick auf den „größten Hafen des Reiches“ erließ und dadurch den Stadtkreis Altona ein Jahr später kurzerhand in das Land Hamburg eingemeindete, gehört es zu den Spezifika Altonas, nunmehr ein Hamburger Stadtteil zu sein: „‚Groß-Hamburg’ wurde zum Symbol für das geplante ‚Groß-Deutschland’“ und beendete nicht nur die jahrhundertealte Rivalität zwischen den beiden Städten, sondern begrub auch, wie Pinnau meint, die Einzigartigkeit und Bewahrungswürdigkeit Altonas.

Wie sehen die Palmaille und Altona heute aus, nachdem sie stadtplanerisch ganz in Hamburg aufgegangen sind? Pinnaus Resümee endet 1997, dreizehn Jahre vor ihrem Tod, mit der kritisch-resignativen Schlussfolgerung, Altona könne wohl nur noch mit den touristischen Attraktionen von Hagenbecks Tierpark und dem Volksparkstadion aufwarten. Ihr Buch beweist sicherlich das Gegenteil, doch muss die Bemerkung erlaubt sein, dass das Bewusstsein, das Pinnau für die Geschichte Altonas damit schaffen wollte, wohl angesichts einer drohenden Schließung des Altonaer Museums 2010 und der für Spätsommer 2013 mittels der Elbphilharmonie geplanten, künstlichen Neudefinition Hamburgs als Musikmetropole bei modernen städtebaulichen Maßnahmen und im kulturellen Budget der Hansestadt wohl keine große Rolle mehr zu spielen scheint.
Es wirkt so, als habe Pinnaus Position, die die periphere Randstellung, die kulturelle Widerständigkeit und geistige Autonomie Altonas hervorhebt, das Nachsehen angesichts der politischen Entscheidungsmacht des Zentrums, das sich mit Hamburg und vorrangig wirtschaftlichen Interessen, weniger mit künstlerischen, traditionellen und historischen Aspekten der Stadt und seines „Stadtteils“ Altona identifiziert. Nur die Zukunft wird zeigen, inwieweit Projekte wie die Hafencity durch die Errichtung eines neuen, primär wirtschafts- und konsumorientierten Zentrums – anders als das 1765 zu Lessings Zeiten an den „hanseatischen Krämerseelen aus Hamburg“ kläglich gescheiterte Projekt eines Nationaltheaters am Gänsemarkt als erstes festes Schauspielhaus in Deutschland – die Stadt insgesamt konzeptuell und auch kulturell eher stärken werden, oder ob dadurch ein zusätzliches neues Zentrum entsteht, das den Charme Hamburgs vielmehr auf jene Art zu bereichern vermag wie es einst Altona getan hat und wie es die vielfältigen, eigenständigen Stadtteile Hamburgs durch ihre einzelnen historisch gewachsenen, sozialen und kulturellen Traditionen bis heute noch tun.

Der Geist der Palmaille

3. Auflage 2011, Storck Verlag Hamburg,
Hardcover, 308 Seiten
ISBN 978-3-86897-155-2.


Abbildungsnachweis:Â (alle Stadtarchiv Altona)
Header:Â Gemäldedetail von Wilhelm Heuer "Bahnhof und Palmaille in Altona", Federlithographie, um 1850.
Galerie:
01. Stadtplan von Altona. Dänische Karte des Jahres 1803.
02. Kartenauschnitt zur Lage der Palmaille, aus Ritters Lexikon, um 1850.
03. Palmaille um 1830 (Kolorierter Stich)
04. Vom alten Bahnhof führt die baumbestandene Palmaille zur dicht bebauten Altstadt mit der Hauptkirche St. Trinitatis am linken Bildrand; am Horizont, hinter dem teilweise noch unbebauten St. Pauli, liegt Hamburg im Dunst, um 1850.
05. Blick von der Palmaille auf das Siegerdenkmal, das nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871/72 aus erbeuteten französischen Kanonen errichtet wurde. Rechts der Bahnhof. Gemälde von 1875.
06. Blick entlang der Südseite der Palmaille auf die Preußische Garnison. Fotografie um 1890.
07. Postkarte der Palmaille vom Neuen Rathaus (ehemaliger Bahnhof). Fotografie von 1899.
08. Am östlichen Ende, Richtung St. Pauli, stand die Palmaillen-Halle, ein Restaurant und Klublokal. Fotografie um 1900.
09. Kolorierte Postkarte aus dem Jahr 1905.
10. Postkarte der Palmaille aus dem Jahr 1914. Blick von St. Pauli aus.
11. Die Palmaille mit spärlicher Baumbepflanzung und Straßenbahn in der Mitte im Jahr 1966.
12. Erinnerungstafel zur Entstehung der Palmaille. Foto:Â Claus Friede.
13. Buch-Cover:Â "Der Geist der Palmaille", Storck Verlag.
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