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„In unserer schnelllebigen, oftmals hektischen Zeit, erfüllt mich die Betrachtung dieser Handschriften mit Ruhe und Gelassenheit und vermittelt mir die Zuversicht, dass das wirklich Wesentliche fortbestehen wird", erklärt René Braginsky seine mehr als drei Jahrzehnte andauernde Sammlerleidenschaft für historische jüdische Handschriften.

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In seiner Sammlung ist eine Abschrift des von Moses Maimonides verfassten Gesetzeskodex „Mischne Torah", entstanden 1355 in Deutschland, ebenso vertreten wie illustrierte Handschriften aus dem 18. Jahrhundert, dem Höhepunkt der jüdischen Schriftkunst in Mittel- und Nordeuropa. Nur bei wenigen Künstlern gibt es gesicherte Hinweise auf ihre Autorenschaft, so bei Charlotte Rothschild, Aaron Wolf Herlingen und Victor Bouton, Illustratoren der Haggadah zu Pessach (Gebetbuch der Erzählung zum Auszug aus Ägypten).

Überraschend ist, dass entgegen des biblischen Bildverbotes im religiösen Kontext, figürliche Darstellungen von Menschen die Handschriften und Bücher schmücken.

Für die Ausstellung sind die Exponate nach Themen – Megillot (מגילה (dt. „[Buch]rolle“) ist der 10. Traktat der Mischna in der Ordnung Mo'ed (Festzeiten, Festtag), Ketubbot („Geschriebenes, Dokument“, Vertrag, wörtlich: „Es ist geschrieben“), Bücher – geordnet, die Räume, entsprechend der Thematik, in Gelb, Rot, Blau gehalten. Die Farben begleiten den Besucher visuell durch die Schau: schräg gestellte Ausstellungsflächen, beleuchtete Vitrinen, welche die oftmals mit Lapislazuli, Gold und Silber ornamentierten Kostbarkeiten zum Leuchten bringen. Ein Film über die Herstellung von Handschriften, Hörstationen, Bildschirme zum Durchblättern der Manuskripte und iPads komplettieren die Ausstellung. Der Torah-Schreiber und Rabbiner Reuven Yaacobov sowie andere Kalligrafen zeigen vor den Besuchern ihre Kunstfertigkeit.

Der in Gelb gestaltete Raum widmet sich der Megillah (Plural: Megillot), im Judentum die Bezeichnung für die fünf alttestamentarischen Schriften, Ruth, das Hohelied Salomons, Klagelieder, Prediger und Esther, die an jüdischen Festtagen gelesen werden. In der Regel ist mit Megillah aber das Buch Esther gemeint: Die Jüdin Esther ist die Gemahlin des persischen Königs Ahasveros. Sie kann einen Plan zur Ausrottung des jüdischen Volkes in Persien vereiteln. Zum Gedenken an die Errettung der Juden vor 2500 Jahren wird am 14. Tag des Monats Adar (Februar/März) das Purim-Fest gefeiert. An diesem Festtag werden Lesungen aus dem Buch Esther in der Synagoge und im privaten Kreis gehalten.

In einer 25 Meter langen, gelben Vitrine werden die Esther-Rollen präsentiert: 32 reich ornamentierte Megillot aus Italien, Frankreich, Deutschland, Indien, aus Amsterdam, Wien und Bagdad. Die Megillah, eine illustrierte Buchrolle, besteht aus einem dekorativen Rollstab aus Holz oder Silber, einem von Hand mit Tinte geschriebenen Text auf der Haut eines koscheren Tieres sowie einem Dekorationsschema, das sich in Stil, Motivik und Ornamentik dem künstlerischen Zeitgeist angepasst. Je nach Textlänge, sind die einzelnen Pergamente mit Fäden aus Tiersehnen zusammen geheftet. Anders als in der Torah, den fünf Büchern Moses, sind die Esther-Rollen mit floraler, geometrischer und architektonischer Ornamentik sowie mit Darstellungen von Tieren und Menschen illustriert. Zumeist in kräftigen Farben komponiert, haben die Illustrationen über die Jahrhunderte nichts von ihrer Leuchtkraft verloren.

Zu den ältesten überlieferten Esther-Rollen gehört die 1564 in Venedig vollendete Megillah, die Stellinah, einer Tochter des Menachem, zugeschrieben wird. Sie besteht aus einem gedrechselten Rollstab, vier Pergamenten mit 21 Textkolumnen von knapp zwei Meter Länge. Der Text ist unterteilt von säulenartigen Karyatiden mit antiken Vasen auf dem Haupt, die verbunden sind durch arkadenartige Blättergirlanden mit Früchten, Masken und Büsten. Die mit Gold unterlegten Abbildungen erinnern in Stil und Motivik an die Bildsprache des italienischen Manierismus.

Eine weitere, reich illustrierte Megillah aus Amsterdam datiert auf das Jahr 1675. Sie ist deshalb interessant, weil die Bildszenen in Sepia, graubraunschwarzer Tinte, ausgeführt sind. Die Esther-Erzählung wird hier in 32 szenischen Darstellungen verbildlicht, wobei der architektonische Aufbau der Räume, Säulen und Arkaden perspektivisch gestaltet ist.

Der rote Raum präsentiert auf einer schrägen Ausstellungsfläche 30 kostbare Ketubbah
(Plural: Ketubbot), jüdische Hochzeitsverträge. Der Vertrag, ein privates juristisches Dokument, enthält das Hochzeitsdatum, den Namen der Braut und des Bräutigams sowie den der Brauteltern und die Höhe der Mitgift. Er regelt den rechtlichen Status der Frau bei einer Scheidung oder dem Tod des Mannes. Bei der Hochzeitszeremonie wird die Ketubbah den Anwesenden gezeigt und vorgelesen. Bereits seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. üblich, erlangt diese Tradition aber erst im 17. Jahrhundert eine neue Blütezeit. Während der Text auf dem Pergament immer in Aramäisch geschrieben ist, entwickeln sich – je nach Land und künstlerischer Epoche – unterschiedliche Dekorationen. Die Ketubbah wird zu einem reich illustrierten Dokument: die Bemalung farbintensiver und kostbarer, Ornamente, Stil und Motive dekorativer. Das heißt, je bedeutender der soziale Status der Familie ist, desto wertvoller und farbenprächtiger ist der Hochzeitsvertrag.

Die Ketubbot der Braginsky Collection entstanden zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen jüdischen Gettos in Europa, dem Orient und Indien. Mit etwa 90 Zentimeter Höhe und rund 60 Zentimeter Breite gehört der Hochzeitsvertrag von Livorno aus dem Jahr 1748 zu den prächtigsten Verträgen. Er ist auf einem Pergament aus der Nackenpartie eines Tieres geschrieben. Zwischen drei bunten salomonischen Säulen steht der Vertragstext. Er ist umrandet von verschlungenen, geometrischen Bändern. Den oberen Teil des Dokumentes dominieren Ranken mit Blumen und Weintrauben sowie buntgefiederte Vogelpaare. In der floralen Dekoration halten zwei Putti eine bekrönte Kartusche für das Familienemblem, das allerdings nicht eingetragen wurde.

Zu den Highlights der Schau gehören rund 60 Bücher im blauen Ausstellungsraum. Neben der hebräischen Bibel, der Torah, einzelnen Handschriften, Gesetzestexte, Bücher zum Beschneidungsritual, zu Gebeten und Segenssprüchen sind mehrere Haggadot ausgestellt. Die Haggadah erzählt die Geschichte von der Vertreibung der Juden aus Ägypten und ihrer Flucht nach Kanaan. Das einwöchige Pessach-Fest, das am heutigen Tag in diesem Jahr beginnt, eins der wichtigsten Feste des Judentums, erinnert an diesen Exodus. Am Vorabend der Pessach-Seder (Ordnung), wird im Familien- und Freundeskreis gefeiert und aus der Haggadah gelesen und gesungen.

Es ist vor allen Dingen die Haggadah des Franzosen Victor Bouton, welche den Betrachter in ihren Bann zieht. Um etwa 1870 datiert, gehört sie zu den luxuriösesten hebräischen Handschriften und ist vermutlich von der Rothschild-Familie in Auftrag gegeben worden. Das von Bouton kopierte und illustrierte Buch hat einen burgunderroten Samteinband mit zwei Metallschließen. Es umfasst 33 Seiten aus Pergament, wobei jede Seite im Stil und Dekor der persischen Buchmalerei des 16. Jahrhunderts gestaltet ist. Alle Textfelder sind umrahmt mit einer Bordüre aus filigranen Ornamenten in Gold und blauem Lapislazuli, die zu den Seiten in feinen Linien auslaufen. Die erste Seite zeigt – übrigens die einzige bebilderte Szene – fünf Männer und zwei Frauen in orientalischer Kleidung beim Pessachfest am Sedertisch sitzend. Alle anderen Felder enthalten den hebräischen Text mit französischen Anleitungen sowie ein Ornament aus floralen, ineinander verschlungenen Ranken. Warum der Auftraggeber eine Haggadah im Stil der persischen Buchkunst wählte, mag damit zusammenhängen, dass der Feldzug Napoleons gegen Ägypten beim französischen Bürgertum das Interesse an der Kunst und Kultur des Orients weckte.

Nach Amsterdam, New York, Jerusalem und Zürich ist Berlin die letzte Station dieser großartigen Handschriften aus der Braginsky Collection. Danach kehren sie in die Privatbibliothek des Sammlers zurück.

Die empfehlenswerte Ausstellung „Die Erschaffung der Welt. Illustrierte Handschriften aus der Braginsky Collection" ist bis zum 3. August 2014 im Jüdischen Museum Berlin, Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin zu besichtigen.
Die Öffnungszeiten sind Montag: 10-22 Uhr, Dienstag-Sonntag: 10-20 Uhr.
Ein Katalog ist erschienen.

Der Torah-Schreiber arbeitet jeweils montags und dienstags 16-18 Uhr sowie mittwochs, donnerstags und sonntags 14-16 Uhr in der Ausstellung. Während Pessach, 14. bis 22. April, sowie vom 1. bis 4. Mai ist stattdessen Khatkunst und arabische Kalligrafie in der Ausstellung zu bewundern.
Weitere Termine, wann verschiedene Kalligrafen ihre Kunstfertigkeit in arabischer, asiatischer und lateinischer Schrift in der Ausstellung zeigen, stehen auf der Homepage des Museums.
www.jmberlin.de


Abbildungsnachweis: Alle © Jüdisches Museum Berlin
Header: Megillah (Estherrolle), Detail, 19. Jh., Frankreich. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
Galerie:
01. Leihgeber René Braginsky in der Ausstellung anlässlich der Eröffnung in Berlin. Foto: Martin Adam
02. Blick in die Ausstellung: Gelber Raum mit 32 Megillot. Foto: Martin Adam
03. Megillah (Esther-Rolle): 18. Jh., Italien. Hülse: 17. Jh., Venedig oder Rom. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
04. Detail aus Megillah (Esther-Rolle), um 1900, Indien. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
05. Detail aus Megillah (Esther-Rolle), um 1900, Indien. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
06. Blick in die Ausstellung: Roter Raum mit 30 reich illustrierten Ketubbot. Foto: Martin Adam
07. Ketubbah (Hochzeitsvertrag), 30.9.1648, Venedig. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
08. Ketubbah (Hochzeitsvertrag), 26. Mai 1638, Rom (Italien). © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
09. Blick in die Ausstellung Im Vordergrund: eine Abschrift der „Mischne Torah“ von Moses Maimonides, die 1355 in Deutschland entstanden ist. Foto: Martin Adam
10. Ketubba (Hochzeitsvertrag), Rom, 1763. © Braginsky Collection
11. Johann Caspar Ulrichs: „Sammlung Jüdischer Geschichten“. Foto: Christel Busch
12. Herlingen Haggadah, 1725, Aaron Wolf Herlingen, Wien. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
13. Mischne Torah (Gesetzeskodex), 1355, Moses Maimonides (gest. 1204), Deutschland. © Braginsky Collection, Zürich, Foto: Ardon Bar-Hama
14. und 15. Rabbiner Reuven Yaacobov beim traditionellen Schreiben einer Torah in der Ausstellung. Foto: Martin Adam.

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