Zehn Jahre nach dem Tod des italienischen Schriftsteller-Arztes Giuseppe Bonaviri (1924-2009) wissen wir: Ihm hätte nur noch eine einzige Ja-Stimme gefehlt. Seit seinem Erstlingsroman, der 1954 seinem Vater – einem mittellosen Dorfschneider auf Sizilien – ein literarisches Denkmal setzt, hat er in Italien sein feinfühliges Erzähler- und Dichtertalent in über dreißig Büchern bewiesen. Im Ausland wurde er so gefeiert, dass er 2004 die prestigeträchtige Auszeichnung aus Schweden um ein Haar verfehlt hat. Nun geht sein belletristisches Erbe an das staatliche Archiv vom Italienischen Kulturministerium in Rom über.
Nicht viele wissen, dass dem sizilianischen Schriftsteller-Arzt Giuseppe Bonaviri – der es mehrere Male in die Endrunde der drei bis fünf letzten Kandidaten für den Literaturnobelpreis geschafft hatte – die begehrte Ehrung 2004 nur wegen einer Stimme verwehrt geblieben ist. Das enthüllte seine Ehefrau Raffaella vor einiger Zeit anlässlich eines Bonaviri-Kongresses, auf dem sie bekanntgab, dass ihr dieses Detail von der Schwedischen Akademie in Stockholm in einem persönlichen Brief mitgeteilt worden sei. Mehr noch: Im Zuge des gleichen Kongresses kündigte Donato Tamblè, ehemaliger Generalintendant des Archivs der Region Latium und ständiges Mitglied des Beirats vom „Internationalen Studienzentrum Giuseppe Bonaviri“, an, dass alle veröffentlichten Werke Bonaviris sowie unveröffentlichten Schriften, Manuskripte, Briefwechsel, Privatnotizen, Aufzeichnungen an Freunde und Familienmitglieder, kurzum alles, was heute – zehn Jahre nach Bonaviris Tod am 21. März 2009 in Frosinone – zur umfangreichen literarischen und geistigen Hinterlassenschaft des Autors zählt, in ein großes Archiv des italienischen Kulturministeriums zusammengefasst und aufgenommen wird.
Wer war Giuseppe Bonaviri, und welche Stellung und Bedeutung nimmt er in der literarischen Landschaft Italiens ein? Geboren in Mineo, einem kleinen Bergdorf in der sizilianischen Provinz von Catania, war Bonaviri zunächst Arzt und Kardiologe, bevor er zum anerkannten Schriftsteller avancierte. Seinen Wehrdienst leistete er als Militärarzt im norditalienischen Piemont, genauer gesagt in Casalmonferrato, ab und vollendete hier in den frühen 1950-iger Jahren sein erstes Buch, „Der Schneider von Mineo“ (Deutsch von Sigrid Vagt, 1987), mit dem er bei seinem bekannten Schriftstellerkollegen und sizilianischen Landsmann Elio Vittorini (1908-1966) große Anerkennung und Beifall erntete, sodass dieser Bonaviris Roman in seiner berühmten Buchreihe, die er beim Turiner Verlagshaus Einaudi leitete, veröffentlichte. Das war der Anfang einer äußerst regen und ergiebigen schriftstellerischen Aktivität. Die Flut von Bonaviris Werken – die sowohl Romane und Gedichte als auch Essays und Theaterstücke umfassen – ist beeindruckend. Seine Bücher wurden in der ganzen Welt übersetzt und erregten bald die Aufmerksamkeit der Stockholmer Akademie. Es ist kaum möglich, sie im Einzelnen vorzustellen: Auf Deutsch erschienen außer dem „Schneider von Mineo“ noch „Steine im Fluss“ (1992, übersetzt von Gerda Lederer), „Die Olivenbäume von Camuti“ (2000, übersetzt von Irmela Arnsperger), „Himmelsreden“ (2004, übersetzt von Dagmar Reichardt) und „Die blaue Gasse“ (2006, übersetzt von Annette Kopetzki). Bonaviris Geschichten sind fast alle in Sizilien angesiedelt: Seine Heimatinsel erinnert ihn an die eigene Kindheit, wird zum Inbegriff von Natur, zu einem paradigmatischen Sehnsuchtsort und schließlich zum Bestimmungsziel unserer Seele.
Er ist ein – im wahrsten Sinn des Wortes – “kosmischer” Schriftsteller, der umfangreiche Kenntnisse, ein weitreichendes Wissen und eine ausgeprägte emotionale Intelligenz auf vielen Gebieten besaß, die von der Literatur über die Astronomie, Medizin (was sich von selbst erklärt, da er Arzt war), Physik, Biologie oder Linguistik bis hin zur Religionsgeschichte oder klassischen Mythologie reichten und ein überraschendes Kaleidoskop logisch durchdrungener Wissenschaftlichkeit bilden. Bonaviri war ein Autor, der sich jeglichem Schubladendenken widersetzt, der immer jenseits des Kanons und modischer Trends agierte, sich niemals konformistisch benahm oder an vorgefertigten Schemata festhielt – ein Autor hingegen, der aus der Menge heraussticht. Vielleicht ist er deshalb im eigenen Land nicht vollends so bekannt (und wertgeschätzt worden), wie er es verdient hätte und noch heute verdient. Doch wo die italienischen Kritiker bezüglich dieses großartigen Literaten schwiegen, da regten sich die Geister auf internationaler Ebene umso mehr. Vor vier Jahren hat Dagmar Reichardt, damals noch Professorin an der holländischen Universität Groningen und Übersetzerin sowie Herausgeberin vieler Bücher von und über Bonaviri, in Genf zusammen mit der dortigen Schweizer Universität sowie Stiftung Fondation Erica Sauter, eine bemerkenswerte Tagung organisiert, an der Bonaviri-Forscher aus den USA, Spanien, Tunesien, Rumänien, Deutschland und Italien teilnahmen. Ein Jahr später, 2016, organisierte Reichardt, die inzwischen an der Lettischen Kulturakademie in Riga lehrt, weitere zwei Sektionen im Rahmen internationaler Wissenschaftskongresse in Wien und Budapest, die sich unter anderem auch mit den Bonaviri-Studien befasst haben und die bald in Buchform erscheinen.
Heute haben wir es oft mit dokumentarischer, journalistischer, mit an die Alltagswirklichkeit gebundener Literatur zu tun. Ganz anders die Erzählungen Bonaviris, insbesondere des reifen, späten Bonaviris. Tatsächlich lassen sich im Gesamtwerk des Sizilianers zwei Werkphasen ausmachen (die sich gegenseitig auch nicht notwendigerweise ausschließen, sondern vielmehr überlagern). Einerseits haben wir es mit einem nostalgischen Autor zu tun, der sich bewusst zur Geisel jener nicht unterdrückbaren Kindheitserinnerungen macht und sich dem Gedächtnis von Mineo ebenso wie der versunkenen Welt der Antike verpflichtet, die es in unserer Lebenswirklichkeit nicht mehr gibt, aber die in seinem Geist unauslöschlich fortbesteht. Soweit zur ersten Phase seines literarischen Wirkens: Da ist also ein Autor, der den Realismus – genauer den Verismus eines Giovanni Verga oder Luigi Capuana – zur tragenden Säule seines Schreibens erhebt. Aber da ist noch eine zweite – vielleicht wichtigere – Phase oder jedenfalls ein moderner Aspekt, der sich von den Erinnerungen an die Heimatinsel Sizilien loslöst oder, besser gesagt, diese in den Hintergrund rückt, um phantastische Universen und außergewöhnliche Abenteuer, Visionen und Fata Morganas zu erfinden, die von entfernten Welten, unfassbaren Orten und unerreichbaren Sphären erzählen.
Giuseppe Bonaviri
Titel der deutschsprachigen Bücher von Giuseppe Bonaviri
Zur Homepage der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis verleiht (auf Englisch):
Weitere Informationen zum Literaturnobelpreis (auf Englisch)
Abbildungsnachweis:
Verkündigung des Literaturnobelpreisträgers 2008 in der Schwedischen Akadenie in Stockholm, 2008 (Detail). Foto: Prolineserver (Holger/Stockholm) Quelle: Wickipedia Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
Portrait Giuseppe Bonaviri. Foto: Heinz Willi Wittschier
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