In einer ziemlich rabiaten Kritik demontiert Frank-Peter Hansen den berühmtesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Die letzten Jahre müssen schwer gewesen sein für alle diejenigen, die Martin Heidegger für den bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts halten. Vom Glanz des „Meisters aus Deutschland“ (Safranski) ist nicht viel geblieben…
Zwar kann man nicht sagen, dass er erst jetzt als Antisemit und Nationalsozialist der ersten Stunde entlarvt worden wäre – denn das war seit langem bekannt –, aber heute, so scheint es, kann die Mehrheit seiner Verehrer die Fehlstellen seines Charakters endlich nicht mehr übersehen. Zuvor hatten weder die Angriffe Theodor Adornos („Jargon der Eigentlichkeit“) oder Karl Löwiths („Denker in dürftiger Zeit“) noch die nur schwer zu vermeidende Kenntnisnahme der berühmt-berüchtigten Rektoratsrede von 1933 sie von der Verehrung Heideggers abbringen können. Seine Werke, so glaubte man, seien für seine Kritiker zu schwierig, seine tiefen Gedanken seien flachen Köpfen nicht zugänglich; oder man gab zu, dass er sich nicht immer vorbildlich verhalten habe, meinte aber, die Philosophie dieses Herrn habe mit seiner problematischen Persönlichkeit nichts zu schaffen. Man habe nicht „Sein und Zeit“ schreiben müssen, um ein Nazi zu werden, erklärte Hans Blumenberg einmal in einer Vorlesung; aber seine tiefen Einsichten haben ihn auch nicht davon abgehalten, könnte man entgegnen.
Erst, als von 2015 an die „Schwarzen Hefte“ herausgegeben wurden, als also Heideggers bis dahin gänzlich unbekannte Aufzeichnungen mit seinen doch trotzdem nur allzu bekannten judenfeindlichen Überlegungen erschienen und gelesen werden konnten, da endlich geriet das Denkmal ins Wanken. Denn in diesen Heften – einer Art philosophischem Tagebuch – gab Heidegger seinen antisemitischen Vorstellungen Zunder. Das war der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ – jetzt endlich wandten sich viele seiner Verehrer ab.
In seinem Heidegger-Buch geht Hansen auf diese dunklen Seiten des großen Denkers nur an zwei Stellen ein, denn ihn interessiert zunächst und vor allem seine Philosophie. Wie er es zuvor in seinen „Wittgenstein-Dekompositionen“ gemacht hat, lässt er das Leben des in Freiburg und in seiner berühmten Schwarzwaldhütte hausenden Meisters links liegen und konzentriert sich ganz und gar auf die Texte, die er von innen heraus interpretiert. Achtung, Spoileralarm! Wie es schon der Titel ausspricht, glaubt er nicht, dass Heidegger ein großer Philosoph auf Abwegen war. Um die Nichtswürdigkeit ihrer Schriften vorführen zu können, buchstabiert Hansen die Hauptwerke der alemannischen Pythia durch und kommentiert sie in einem schnoddrig-unakademischen Stil. Ganz im Mittelpunkt steht dabei „Sein und Zeit“, also das Buch, mit dem Heidegger 1927/28 schlagartig berühmt wurde.
Als der italienische Philosoph Benedetto Croce von Heideggers Aktivitäten im ersten Halbjahr des glorreichen Jahres 1933 hörte, merkte er zu dessen Philosophie an, „das Leere und Allgemeine hat immer Erfolg“. Eben diese Leere des Seinsbegriffs ist der Vorwurf, den Hansen im ersten Teil seines Buches an Heideggers Philosophie richtet. Er spricht von dem „(Un-)Gedanken der leeren Existenz“, sagt von Heidegger, dass er „in seinem Nichts-sagen als ein unglaublich tiefer Denker von seinen Adepten verehrt“ wird, und meint, gerade wegen der Vieldeutigkeit ihrer Fragmente habe sich Heidegger für die Vorsokratiker interessiert: „Deswegen hält er sich ja unentwegt im Dunstkreis derjenigen frühgriechischen Denker auf, die, metaphernreich, unablässig Zeugnis davon ablegten, dass es bei ihnen mit dem verallgemeinernden Denken noch nicht allzu weit her gewesen ist.“ Wie meist bei Hansen, ist das ein wenig schnoddrig ausgedrückt, trifft aber ins Schwarze, insbesondere, wenn man als Beleg Heideggers Aufsatz über den „Spruch des Anaximander“ heranzieht. Dieser gehört allerdings mit zum Schlimmsten, weil Verschwiemelsten und Verschwurbelsten, das Heidegger je verbrochen hat. Und er hat auf diesem Gebiet ja nun wirklich einiges vorzuweisen. Was er in den Spruch des Anaximander hineingeheimnisst, ist derart grotesk, dass mir dafür die Vokabeln fehlen.
Die von Croce angesprochene Leere des Seinsbegriffs arbeitet Hansen mit großer Energie heraus und garniert sie mit sarkastisch-saloppen Kommentaren, die er, stets mit einem „F.-P. H.“ signiert, mitten hinein in die oft langen Zitate setzt – ein Verfahren, das spätestens von einer gewissen Anzahl der Einschübe an die Flüssigkeit der Lektüre unterbricht, zumal die Sätze Heideggers mitunter recht lang und kompliziert gebaut sind. So verliert man irgendwann den Überblick… Für das nächste Buch sollte sich der Autor auf jeden Fall ein anderes, ein leserfreundlicheres Verfahren überlegen. Mir machen seine Kommentare eigentlich viel Freude – ich mag seine Respektlosigkeiten –, aber man muss sich doch enorm konzentrieren und mit den Augen hin- und herspringen.
Das erste Kapitel, „Sinn von Sein oder das ultimative Weiß-warum“, arbeitet die Vergeblichkeit von Heideggers Unterfangen heraus, den Sinn von Sein zu bestimmen. Denn Sein, die substantivierte Kopula „ist“, ist etwas absolut Nichtssagendes, es ist absolut leer, weil für sich bestimmungslos, und nur deshalb kann es auch als Verbindungsglied („Kopula“) zwischen dem Subjekt eines Satzes und dessen Attribut dienen. Dem Autor fehlt jedes Verständnis dafür, sich für das Sein in dieser Form zu interessieren.
Das zweite und mittlere Kapitel, „Der Mensch oder das Dasein“ („Dasein“ kann man bei Heidegger immer mit „Mensch“ übersetzen), behandelt die die Philosophie des Menschen betreffenden Teile von „Sein und Zeit“. Ende der Zwanziger Jahre erschienen die beiden Grundbücher der philosophischen Anthropologie, „Die Stufen des Organischen“ von Helmuth Plessner und „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ von Max Scheler. Es waren zwei geniale Entwürfe und, weil von der Philosophie Nicolai Hartmanns angeregt und beeinflusst, einander sehr ähnlich. Heidegger hat sich immer dagegen gewehrt, von „Sein und Zeit“ als einem anthropologischen Buch zu sprechen, aber tatsächlich gehören einige Teile seines Buches sehr wohl in diesen Zusammenhang.
Hansen spricht diesen Passagen jeden Wert ab, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm auch hier überall folgen möchte. So ist Heideggers Schilderung der gegenstandslosen Angst keine Albernheit, sondern entspricht dem psychiatrischen Phänomen der Agoraphobie, der Platzangst, die erstmals nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, aber auch später noch beschrieben wurde. In diesem Fall also keine „inhaltslose Nichtbestimmung“.
Besonders dann, wenn er über den Begriff der Welt philosophiert, formuliert Heidegger ganz ähnliche Gedanken wie die Konkurrenz, also wie Plessner und Scheler, beliebt sich aber wieder einmal pompöser und mit allerlei Bindestrichwörtern auszudrücken, die das Verständnis unnötig erschweren und, so wahrscheinlich seine Hoffnung, die Aura von Werk und Autor so richtig aufleuchten lassen. Auch hat er immer die offene Auseinandersetzung mit anderen Positionen gescheut, also weder seine Quellen offengelegt noch deutlich gemacht, wo er abweicht. Für Polemik war sich Herr Heidegger zu fein.
An dieser Stelle ein Wort über die Schwierigkeiten der Philosophie. Selbstverständlich ist Philosophie gelegentlich schwierig, aber keinesfalls immer und in allen ihren Teilen, und es gab einige große Denker, die sich ziemlich gut und jedenfalls verständlich auszudrücken verstanden. Der vielleicht begabteste Schriftsteller unter den großen deutschen Philosophen war Ernst Cassirer, der einige Jahre – wohl die produktivsten seines Lebens – in Hamburg verbrachte. Er ging ins Exil, als Heidegger sein Rektorat antrat…
Cassirers Werke kann man gar nicht genug empfehlen – weil man etwas lernt, zusätzlich, weil man sie gern liest. Denn Cassirer war ein Stilist von hohen Graden. Die Bücher Heideggers dagegen, obwohl die sprachschöpferischen Fähigkeiten des Autors immer wieder gelobt werden, bieten dem Leser weniger Vergnügen, aber dafür enorme Schwierigkeiten; und sicherlich nicht ganz ungewollt.
Merkwürdigerweise preist er immer wieder das Schweigen, und zwar mit unerfreulich vielen Worten. Diese angebliche Hochschätzung des Schweigens ist es, das ihn mit Wittgenstein verbindet, dem Hansen seine ersten beiden „Dekompositionen“ gewidmet hat. Ich selbst muss bei dem Lob des Schweigens immer an den „Meister Magus" aus Hermann Kasacks „Die Stadt hinter dem Strom“ denken, einem Bestseller der Fünfziger Jahre im Geiste des Existenzialismus. „Die Zeit“, bemerkt diese in den tiefsten Tiefen hausende Kitschfigur, „bedarf der Worte, die Zeitlosigkeit bedient sich des Schweigens“. Hansen ist da bedeutend weniger feierlich und außerdem, was unsereins zu schätzen weiß, ausgesprochen norddeutsch: „Jo, dat löppt, as een plattdütscher Jung seggen deit.“
Worauf es ankommt, ist dies: Philosophie ist etwas Wunderbares, aber das bleibt allen denen, die mit Wittgenstein oder Heidegger anfangen, in aller Regel verschlossen. Also, Leute, lest richtige Philosophen! So unglaublich es klingt, es gab und gibt welche, die weniger verblasen und verkrampft und außerdem ein wenig realistischer schrieben; Ernst Cassirer war nur einer von denen (einer der größten, aber doch nicht der einzige). Ein anderer war José Ortega y Gasset, der Themen behandelte, die denen Heideggers ziemlich ähnlich waren – nur konnte er schreiben. Man versuche nur einmal „Der Mensch und die Leute“.
Zurück zu Hansen und seinem ganz besonderen Freund, Professor Heidegger. Im dritten und letzten Kapitel geht es um „Die Zeit oder die vorlaufende Entschlossenheit zum Tode“. Vielleicht war es diese Thematik, die zu dem gigantischen Erfolg von „Sein und Zeit“ am meisten beitrug. Im letzten November titelte „Der Spiegel“ nicht ganz unwitzig: „Sterben? Ohne mich!“ Heidegger hätte da die Stirn gekräuselt und das alles ziemlich uneigentlich gefunden.
Kann es überraschen, dass Hansen auch im dritten Kapitel dem Denker nicht ganz beizupflichten vermag? Er spricht von der „Kernthese dieser Scharteke“, die darin besteht, dass man angesichts seiner Sterblichkeit sich auf sein „Eigenstes“ besinnt (Heidegger liebte Superlative über alles), andernfalls man vom Gewissen angerufen wird. Natürlich versteht es sich von selbst, dass Heidegger unter Gewissen nicht das übliche „vulgäre“ Gewissen versteht. Ganz im Kontrast zur Polemik gesagt: Was Heidegger unter Gewissen versteht, das hat als etwas ganz und gar Moralfreies überhaupt nichts mit dem üblichen Verständnis von Gewissen zu tun, sondern entspricht eher der heutigen „Selbstverwirklichung“. Denn Heidegger eigentlichste Absicht war es, zu sich selbst, zu seinem „eigentlichsten“ Selbst zu finden.
Auf einhundertfünfzig Seiten nimmt Hansen das Werk Heideggers auseinander („dekomponiert“ es). Zweifellos ist er gelegentlich etwas ungerecht, aber ebenso zweifellos trifft er nur allzu oft ins Schwarze. So ist es ein lesenswertes Buch.
Frank-Peter Hansen: Die Heidegger-Dekomposition
Königshausen & Neumann, 2019Taschenbuch, 151 Seiten
ISBN: 139783826067457
Abbildungsnachweis:
Buchcover (Header: Detail)
José Ortega y Gasset, BundesarchivB 145 Bild-F000074-3582. (Quelle: Wikipedia-espanol)
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