Wer die Chance nutzt, „Orlando“ an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin zu sehen, erlebt einen Theaterabend, der lange in Erinnerung bleibt.
Das Stück nach dem Roman von Virginia Woolf bietet ein farbenprächtiges Kaleidoskop (Regie: Kate Mitchel) mit Szenen und Sätzen, die es in sich haben. Sage und schreibe 400 Jahre Menschheitsgeschichte durchleben die Zuschauer in diesen zwei Stunden (Bühnenfassung: Alice Birch). Es ist ein rasanter Ritt durch die Zeit, ein irrwitziges Spiel mit den Geschlechterrollen und der Liebe. Es ist ein pralles Kostümfest, ein Fest der Vitalität, gespickt mit Ironie und Witz - bis hin zur Karikatur. Doch „Orlando“ ist noch weitaus mehr als das: Es ist auch eine Auseinandersetzung mit den großen Themen unserer Welt, mit unserer Vergangenheit, mit unserer Zukunft.
„Liebhaber habe ich im Überfluss, aber das Leben entzieht sich mir“, sagt Orlando, als er noch ein Mann und noch keine Frau ist. Das ist situativ komisch und bitterernst zugleich. Auch Sätze wie „Wenn das Liebe ist, dann ist Liebe lächerlich“ sorgen dafür, dass dem Zuschauer das Lachen mitunter im Halse steckenbleibt und der Abend nicht allzu lustig, sprich: albern wird. Klamauk geht anders. Das hier ist großes Kino. Apropos Kino: Tonstudio und Leinwand hängen am Bühnenhimmel, Schienen für die Kameras sind am Boden montiert, Garderobe, Werkstatt und Schminktisch befinden sich neben der dreiteiligen „Sweet-Home“-Kulisse, die wie eine Puppenstube wirkt und das Bühnengeschehen bestimmt. Hier agieren acht Schauspieler und rund zwanzig Helfer rund um Orlando, dargestellt von einer in allen Situationen hinreißenden Jenny König. Alle Schauspieler agieren so perfekt, dass es schwerfällt zu sagen, wer hier am meisten zu loben ist. Vielleicht doch das gesamte Team? Oder einzelne Darsteller? Oder einer der Kameramänner? Oder die coole Sprecherin Cathlen Gawlich, die rechts oberhalb der mitunter nur spotartig erhellten Bühne im erleuchteten Guckkasten sitzt und Romanpassagen zitiert?
Kulissen werden hin- und herschoben, Kameras gerollt, die Tonangel mal hier, mal dort hochgehalten. Fast 90 Kostüme werden am Bühnenrand gewechselt für die acht Schauspieler, die sich auf 90 Rollen verteilen und die sich auf jede einzelne Rolle mit größtem Engagement einlassen. Dies in perfekter Abstimmung, in kollegialem Miteinander. Manchmal weiß der Zuschauer allerdings nicht, wohin er zuerst blicken soll: Was ist in diesem und im nächsten Augenblick besonders wichtig? Das Geschehen auf der Bühne, also das, was die Schauspieler darstellen? Oder sind es die Kameraleute, die anhand der Markierungen schon die nächste Einstellung im Visier haben? Oder sollte man doch lieber auf die Videoleinwand schauen, wo Orlando gerade durch Mohnblumen streift oder im Laub unterm Eichbaum liegend träumt oder vor historischen Herrenhäusern lustwandelt? Oder sollten wir vor allem das Tonstudio mit Sprecherin Cathlen Gawlich im Blick haben?
Orlando selbst kümmert das alles nicht. Er hat Besseres zu tun. Er durchlebt derweil vier Jahrhunderte britischer und europäischer Menschheitsgeschichte. Zunächst tut er dies als Edelmann am Hofe Elizabeths I. Dann jedoch verliebt er sich unglücklich in eine russische Prinzessin, versucht sich als Schriftsteller, wird Gesandter in Konstantinopel, kehrt als Frau nach Großbritannien zurück, schreibt, gibt Partys, liebt Männer und Frauen, Prostituierte wie Adlige, und heiratet einen Mann. Eines Morgens – Orlando ist jetzt Anfang dreißig - erwacht er nach siebentägigem Schlaf als Frau: „Orlando stand splitternackt da. Kein menschliches Wesen seit Anbeginn der Welt sah je hinreißender aus. Orlando war eine Frau geworden, das ist nicht zu leugnen. Aber in jeder anderen Hinsicht blieb Orlando genauso, wie er gewesen war… Als Mann und als Frau war sie ohne jeden Zweifel dieselbe Person. Aber sie spürte gewisse Veränderungen. Der Mann hat die Hand frei, das Schwert zu ergreifen, die Frau muss die ihre benutzen, um zu verhindern, dass der Satin von ihren Schultern rutscht.“
Und schon hat das 19. Jahrhundert begonnen: „Die Menschen fühlten das Frösteln in ihren Herzen, die Feuchtigkeit in ihren Gemütern. Die Geschlechter entfernten sich immer weiter voneinander.“ Eine durchschnittliche Frau – so heißt es – heiratete mit neunzehn und hatte, bevor sie dreißig war, fünfzehn oder achtzehn Kinder. Auch Orlando fasst den Entschluss, sich zu verheiraten. Eines Tages ist es soweit. Sie ist gerade dabei einzuschlafen in freier Natur, „…die nassen Federn auf ihrem Gesicht und das Ohr an die Erde gedrückt, als sie, tief im Inneren, einen Hammer auf einem Amboss hörte, oder war es ein pochendes Herz?“ Sie hört das Knacken eines Zweiges, setzte sich auf sieht einen Mann auf einem Pferd. „Madam. Sie sind verletzt“, sagt jener. Und Orlando antwortet: „Sir. Ich bin tot.“ – Ein paar Minuten später sind sie verlobt.
Einmal, als sie bereits verheiratet sind und über Liebe und Ehe sprechen, fragt Orlando ihren Mann: „Wenn man immer noch wünschte, mehr als alles auf der Welt, Gedichte zu schreiben, ist das eine Ehe?“ Und wenig später heißt es: „Sie schrieb. Sie schrieb. Sie schrieb und sie schrieb. Sie war im Grunde dieselbe geblieben. Schließlich und endlich. Hat sich nichts verändert.“ Für uns Zuschauer jedoch verändert sich vieles. Mal erleben wir Orlando hoch zu Ross, mal im Auto, mal im Flugzeug und mal in der Disco. Wir erleben ihn oder sie lachend, zitternd, weinend, Geschlechtsverkehr ausübend etc. Orlando selbst hingegen erlebt, wie Menschen, Natur, Systeme und Regime sich in einem ständigen Wandlungsprozess befinden: Sitten und Gebräuche ändern sich und somit auch die Vorstellungen, was ein Mann oder eine Frau zu tun haben, was richtig oder falsch ist, worüber ein Künstler schreiben soll und worüber eine Frau nachdenken darf: „Frauen, so behaupten manche Männer, empfinden kein Begehren und deshalb kann, muss man sie auch nicht ernst nehmen.“
Ob Orlando nun mehr Mann oder Frau war, sei schwer zu sagen und könne nicht jetzt entschieden werden, sagt die Erzählerin im Guckkasten oberhalb der Bühne: „Orlando hatte, wie es scheint, keine Probleme, die verschiedenen Rollen anzunehmen, denn ihr Geschlecht änderte sich weit häufiger, als sich die meisten vorstellen können. Die Freuden des Lebens mehrten und seine Erfahrungen vervielfachten sich.“ Ob er oder sie, das spielt in dem Stück sowieso eine eher kleinere Rolle. Viel wichtiger ist hier die Entwicklung der Geschlechterrollen und die Veränderung der Welt – inklusive des Klimas. Einmal heißt es: „Das 19. Jahrhundert hatte begonnen. Eisberge brechen und stürzen ins Meer, schmelzen.“ Auf der Leinwand sind Feuersbrünste zu sehen. Die Apokalypse der Neuzeit hat begonnen…
Am Ende des Theaterstückes sagt Orlando: „Die Zeit ist über mich hinweggegangen.“ Und weiter: „Als sie sich auf die Erde warf, fiel ein kleines, quadratisches, in rotes Leinen gebundenes Buch aus der Brusttasche ihrer Jacke - ihr Gedicht "Der Eichbaum" - in der siebten Auflage. Sie ließ ihr Buch unbegraben und zerfleddert auf der Erde liegen und betrachtete die gewaltige Aussicht, vielfältig wie ein Meeresboden an diesem Abend, von der Sonne erhellt und von Schatten verdunkelt.“
Der Roman endet anders: „Es ist die Gans! “ rief Orlando. „Die Wildgans –“ / Und der zwölfte Schlag der Mitternacht erklang; der zwölfte Schlag der Mitternacht am Donnerstag, dem elften Oktober des Jahres neunzehnhundertachtundzwanzig.“ Das ist das Jahr, in dem Virginia Woolfs circa 300 Seiten starke fiktive Dichter-Biographie „Orlando“ erschien, heute ein Klassiker der feministischen Literatur. Dies, obwohl sich die Autorin für die Frauenbewegung nicht vereinnahmen lassen wollte. Gut 90 Jahre nach Erscheinen des Buches lohnt es sich, dieses Buch neu und anders zu lesen. Es lohnt sich auch, dieses Theaterstück an der Berliner Schaubühne zu sehen, in dem unser Held, unsere Heldin Orlando solche schönen Virgina-Woolf-Sätze sagt: „Ich bin erwachsen. Ich verliere alle meine Illusionen, um neue zu gewinnen.“
Virginia Woolf: Orlando
von Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek, Bühnenfassung: Alice BirchRegie: Katie Mitchell, Mitarbeit Regie: Lily McLeish, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen, Bildgestaltung: Grant Gee, Video: Ingi Bekk, Mitarbeit Video: Ellie Thompson, Musik und Sounddesign: Melanie Wilson, Dramaturgie: Nils Haarmann, Licht: Anthony Doran.
Mit: İlknur Bahadır, Philip Dechamps, Cathlen Gawlich, Carolin Haupt, Jenny König, Alessa Llinares, Isabelle Redfern, Konrad Singer; Kamera: Nadja Krüger, Sebastian Pircher; Boom Operator: Stefan Kessissoglou.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Weitere Termine von „Orlando“ an der Berliner Schaubühne: 25.10., 26.10., 27.10. 2019
Weitere Informationen
Abbildungsnachweis: Alle Szenen-Fotos von Stephen Cummiskey
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