Musik

Um es vorwegzusagen: bei diesem großartigen Theatererlebnis in Lübeck lässt sich die Musik nicht von der suggestiven Kraft des Bühnengeschehens trennen. Wir sprechen von Donizettis komischer Oper „Die Regimentstochter“, die 1840 ihre Uraufführung in Paris feierte und nun am Theater Lübeck zu sehen ist.

 

Man könnte meinen, eine solche Oper sei Schnee von gestern. Doch diese Komödie in Kriegszeiten ist aktuell wie eh und je. Vorausgesetzt, jemand wie Regisseur Pier Francesco Maestrini hat den Mut, eine vollkommen neue Inszenierung auf die Bühne zu bringen.

 

Vorausgesetzt auch, die entsprechenden Sänger und Musiker sind mit von der Partie. Wenn alles andere auch stimmig ist, dann kann diese Oper von anno dazumal auch heutzutage zu einem großartigen Theatererlebnis führen. Das ist aktuell im Lübecker Theater der Fall.

 

Vorhang auf – und von Beginn an ist klar, dies wird ein interessanter, intelligent-unterhaltsamer Abend: Auf einer beige grundierten Leinwand im Hintergrund der Bühne erscheinen im schwarzen Rahmen teils stehende, teils laufende Bilder der Mitwirkenden des Abends. Das ist comicartig, erinnert aber auch an Stummfilme. Das ist überraschend, wirkt sympathisch-anziehend, ist vor allem aber rhythmisch punktgenau passend zur Musik im Graben. Von Anfang an harmonieren Bild, Ton und Sprache. Wunderbarerweise stimmen sogar die vorher aufgenommenen Videopassagen mit der jetzt live eingespielten Musik überein. Die Bewegungen scheinen erstaunlicherweise, wie aus der Musik heraus inszeniert zu sein. Die Videoeinspielung wirkt hier nicht – wie oftmals an anderer Stelle – aufgesetzt, sondern homogen integriert. Erzählt wird mit diesem Video die Vorgeschichte. Das Publikum spürt: hier wird gleich eine spannende Geschichte weitererzählt werden, auch musikalisch Und so war es dann auch.

 

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Während Rouladen und Triller das große Haus durchströmen und von geträumtem Glück jubeln, das Ensemble in sextenseliger Anmut schwelgt, uns Schlender-Rhythmus aus dem Graben umschmeichelt und die musikalische Erzählung ohne Psychoanalyse dem schwarz-weiß-Modus folgt, geht es auf der Bühne extrem bunt und hochlebendig zu. Trotz trostloser Kulisse – auf der Bühne bietet sich den Zuschauern der Ausblick aus einem Bunkerfenster nach einem Atomkrieg im Jahr 2221 – ist diese Lübecker Inszenierung ein Riesenspaß. Geboten wird ein buntes Bühnenspektakel mit großartigen Sänger*innen und präziser Schauspielkunst – besser kann`s nicht sein! Bravo Lübeck! In dieser Inszenierung von Pier Francesco Maestrini und unter der musikalischen Leitung von Takahira Nagasaki zeigt sich Oper in bester Ganzheitlichkeit. Mehr noch: durch eine äußerst gelungene transkribierte Bühnenerzählung verändert sich die akustische Wahrnehmung in wunderbarer Weise. Wo ehemals die Musik zu einem vielleicht in Tiroler Uniform stolzierenden Offiziers und einer schmachtenden kaiserlich-königlichen (k. und k.) Marquise abgeschmackt-kitschig geklungen hätte, wirkt diese Musik jetzt frisch und vital.

 

Die geschickten musikchirurgischen Eingriffe in die Partitur erweisen sich als äußerst geschmackvolle musikalisch-operative Eingriffe auf offener Bühne. Hier ein hinzugefügtes Drum-Set, dort eine Fass-Rhythmus-Show der Rock-Gang (Rebellen trommeln auf Fässern mit radioaktivem Müll-Signets), hier eine E-Piano-Einlage, dort verlässt Marie im Spielzeug-E-Jeep urkomisch rockend die Bühne. Comic-Oper statt Opéra-comique! Köstlich gelungen! Um kritischen Stimmen gleich zu parieren: Ja, draußen liegt die Welt in Fetzen. Es geht grausam zu. Vieles ist irrsinnig verrückt. Und gerade deswegen ist dies eine reale Möglichkeit, die Welt auf der Bühne völlig verzerrt und verrückt darzustellen. Deswegen entsteht nie Peinlichkeit (was durchaus sein könnte), wenn z.B. die von Donizetti sorgsam ausgearbeiteten Chorsätze vom exzellenten Theaterchor großartig, engagiert und lebendig vorgetragen werden und wenn selbst in kleineren Solorollen immer liebe- und humorvoll, immer urkomisch – beispielsweise von Imke Looft (Herzogin von Crakentorp) und Steffen Kubach (Hortensius) – agiert wird.

 

Großartig eröffnet wird die erste Szene von der Marquise von Berkenfield (an diesem Abend dargestellt von Frederike Schulten) mit klangschönem weitem Register, mühelos strömend und mit überzeugender Spielfreude. Laurence Kalaidjian beglückt durch seinen warmen, stets präsenten Bariton und durchaus auch schauspielerisch. Yoonki Bach als Tonio glänzt mit stellenweiser heldenhafter Strahlkraft. In anderen Teilen wünschte man sich eine ruhiger geführte Stimme. Andrea Stadel überstrahlt als Marie alle Solist*innen und begeistert mit ihrer Vielseitigkeit sowohl gesanglich als auch mimisch durch rhythmisch und dynamisch liebevolle Ausgestaltung ihrer großen Partie bei gleichzeitiger begeisternder Bühnenpräsenz.

 

Donizettis Komische Oper „Die Regimentstochter“ spielt ursprünglich in der Zeit der Französischen Kriege in Tirol. Regisseur Maestrini verlegt das Setting in seiner Lübecker Inszenierung in die Zeit nach einem Atomkrieg. Die Konformisten haben das, was von der Welt nach dem Krieg noch übriggeblieben ist, besetzt. Tief unter der atomar verstrahlten Erde leben sie in Schutzzonen. Die Konformisten sind so, wie ihr Name es uns sagt: gleichgeschaltete Bürger, einheitlich in Schwarz gekleidet. Sie bewegen sich wie Roboter oder Marionetten und sind kaum voneinander zu unterscheiden. Etwas Farbe auf die Bühne bringen die adeligen, vornehm gekleideten Herrschaften. Die Marquise von Berkenfield (Laila Salome Fischer/Frederike Schulten) z.B. trägt zu festlichen Anlässen einen mit bunten Federn geschmückten breitrandigen Hut. Die Federn erinnern an den Kopfschmuck eines Indianerhäuptlings, somit wird dezent das ungute Thema Kolonisierung angesprochen.

 

Oberhalb der unterirdischen Schutzzone, inmitten der Atomwüste, leistet eine Gruppe Rebellen Widerstand. Die Rebellen wehren sich gegen jede Form der Vereinnahmung durch die Konformisten. Jämmerliche Figuren sind das, bunt und bizarr gekleidete, vom Atomkrieg gebrandmarkte Wesen, deren Köpfe große pockenartige Beulen verunstalten. Inmitten dieser äußerlich eher hässlichen Truppe lebt Marie (Andrea Stadel), die „Regimentstochter“. Marie ging in den Kriegswirren verloren, wurde von der Mutter getrennt und ist ein Findelkind. Gefunden und aufgezogen wurde sie von ihren „Vätern“, den Rebellen. Seitdem lebt sie in der Truppe. Inzwischen erwachsen ist Marie als Marketenderin für das tägliche Leben und Wohlergehen der Rebellen zuständig. Sie liebt den jungen Tiroler Tonio (Yoonki Baek), der ihr das Leben rettete, jedoch zu den Konformisten gehört. Aus Liebe zu Marie wird Tonio zum Rebell. Doch bis die beiden am Ende ein Paar sein dürfen, sind noch einige Umwege zu gehen.

 

Dafür sorgt eine Dame der höheren Gesellschaft, die Marquise von Birkenfield. Denn wie sich herausstellt, ist die Marquise Maries Mutter, was diese jedoch zunächst nicht zugibt. Als vorgebliche Tante führt sie ihre Tochter auf ihr Schloss, um sie in die Welt ihres Standes einzupassen und anschließend standesgemäß verheiraten zu können. Doch die Soldaten und der inzwischen zum Regiment gehörige Tonio lassen sich ihre Regimentstochter nicht so ohne weiteres nehmen… Zwei Welten prallen in dieser Oper aufeinander: die Welt des Militärs und die Welt des Adels. Eine Klasse der Gesellschaft kämpft gegen die andere. Maestrini löst die Geschichte aus ihrem militärischen Kontext und lässt Oper auf Punk-Ästhetik treffen. Marie wird in der Lübecker Inszenierung in eine punkige Welt verortet: Die Soldaten sind hier rebellische Punks. Der Regisseur orientierte sich hierfür an Comics aus den späten 80ern und 90ern, vor allem an „Tank Girl“. Deren Freiheitsdrang, das Provokative, der absurde Humor des Comics – das alles bot sich ihm für die „Regimentstochter“ und deren „ohnehin schon schrägen Charaktere“ geradezu an.

 

Die Regimentstochter 01 F Olaf Malzahn

Simon Rudoff (Ein Notar), Friederike Schulten (Marquise von Berkenfield), Imke Looft (Herzogin von Crakentorp), Lino Ackermann (Der Neffe). Foto: Olaf Malzahn

 

Uraufgeführt wurde die Opéra-comique „La fille du régiment“ am 11. Februar 1840 in Paris. Pier Francesco Maestrini hinterfragt in seiner aktuellen Lübecker Inszenierung den Militarismus des Stückes und gibt ihr einen anderen Anstrich und eine moderne Sprache: Statt Tiroler und Franzosen sind die verfeindeten Gruppen hier Rebellen und Konformisten. Während die einen blind den Regeln der Gesellschaft folgen, haben sich die anderen für ein freies Leben entschieden. „Wir wollten keinen Krieg zwischen zwei Staaten zeigen, vor allem nicht in der aktuellen Situation. Erst recht nicht in Form einer Komischen Oper. Wir wollten auf eine andere Art an das Stück herangehen“, so der Regisseur. Grundsätzlich geht es Pier Francesco Maestrini in all seinen Inszenierungen vor allem darum, den emotionalen Kern eines Stückes zu treffen, wie er im Interview mit Dramaturg Sören Sorbeck verriet: „Gerade in Donizettis komischen Opern ist das sehr wichtig, denn Donizetti balanciert gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Spaß und Melancholie.“ Diese Gratwanderung ist in Lübeck überaus gelungen.

 

Robert Schumann beschreibt Donizettis Musik noch unwirsch als „Puppenmusik“. Takahiro Nagasaki gelingt es indes an diesem Abend in Lübeck aus der Partitur eine Musik des Hier und Jetzt hervorzuzaubern. Unter seiner Leitung spielt das Orchester federnd leicht, aber auch tollkühn, in anderen Teilen dann dynamisch zurückgenommen und erfreulich differenziert zärtlich begleitend. Zu erleben ist das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck in Hochform!

Fazit: Das Theater Lübeck hat die großartige Idee, der in weiten Teilen traurig-grausamen Außenwelt eine überdeutlich verrückte Bühnenwelt gegenüberzustellen, hervorragend umgesetzt. Unbedingt hingehen!


Die Regimentstochter. La fille du régiment

Komische Oper in zwei Akten von Gaetano Donizetti

Zu sehen bis Mitte Juni im Theater Lübeck, Großes Haus, Beckergrube 16, in 23552 Lübeck

Die nächsten Termine: 06.04. u. 01.06. 19:30 Uhr, 28.04. u. 23.06. 18:00 Uhr,

16.06. 16:00 Uhr.

 

Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki | Inszenierung: Pier Francesco Maestrini | Bühne: Juan Guillermo Nova | Kostüme: Marco Nateri | Choreografie: Alessandra Panzavolta | Chor: Jan-Michael Krüger | Licht: Falk Hampel | Dramaturgie: Sören Sarbeck

Mit: Andrea Stadel, Yoonki Baek, Laila Salome Fischer / Frederike Schulten, Steffen Kubach, Gerard Quinn, Changjun Lee, Imke Looft, Simon Rudoff, Lino Ackermann, Mark McConnell; Chor des Theater Lübeck; Statisterie des Theater, Lübeck; Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

In französischer und deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln.

Dauer: ca. 2 Stunden, 20 Minuten (eine Pause)

Weitere Informationen (Theater)

 

YouTube-Video:

Theater Lübeck »Die Regimentstochter La fille du régiment« (1:15 Min.)

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