Musik

Das Kuss Quartett und die Berliner Compagnie Nico and the Navigators transformieren ein „staged concert“ mit Beethoven-Quartetten in einen Film

„Wird der Zweifel Gegenstand des Zweifels, zweifelt der Zweifler am Zweifel selbst. Somit verschwindet der Zweifel.“ Ach, wäre das schön, wenn es so einfach zuginge. Doch wer den Film über „Force & Freedom“, ein Projekt, für das sich die Berliner Compagnie Nico & the Navigators und das Kuss Quartett zusammengetan haben, um die Musik Beethovens zu erkunden und zu interpretieren, sieht bleibt nach eineinhalb Stunden zweifelnd zurück. Der eingangs zitierte Satz eröffnet einen Film, dessen definitive Fassung am 11. Juli ab 23.25 Uhr Uhr bei Arte zu sehen ist.

 

Er tritt – zumindest vorläufig – an die Stelle der für das Beethoven-Jahr 2020 geplanten, wegen Corona abgesagten und dann mehrfach verschobene Premiere des Projekts bei de Schwetzinger Festspielen. 2018 allerdings waren Teile davon auf der Bühne zu erleben, bei einem Konzert in der Metropolregion, bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker. Deren Programm hatte Intendant Oliver Wille, Violinist im Kuss Quartett, unter das Motto „Beethoven!“ gestellt. Zwei Jahre zu früh und damit wohl das einzige der Programme zum 25. Geburtstag Beethovens, das wie geplant stattfand.

 

„Staged concert“ ist der Begriff, unter dem sich Tänzerinnen und Streicher zusammenfinden für „Force & Freedom“, und so war es seinerzeit in Hitzacker zu erleben. Was nun auf Arte zu sehen ist, müsste dementsprechend ein „Filmed staged concert“ genannt werden, und daraus ergibt sich, dass die Transformation der Musik eine doppelte, erst in die Form des Tanzes, dann, mit diesem gemeinsam, in die des Films. Und so tritt der Film dem Gefilmten als Interpretation gegenüber, wie auf der Bühne die Bewegungen des Tanzes die Klänge interpretieren, die wiederum selbst schon Interpretation einer im Notentext näherungsweise, festgehaltener künstlerischer Idee ist. Einerseits ist es ein Faszinosum: Die mehrfach gespiegelte Interpretation der Beethovenschen Musik – die Quartette Opus 59, Nr. 3 und Opus 135, die Großen Fuge und der „Heilige Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“, dazu drei Lieder - könnte jenen Gedichten vergleichbar sein, die Bertold Brecht einst anhand von Übersetzungen aus dem Chinesischen nachdichtete und bei denen sich seine Fassungen als näher am Original erwiesen als die ihnen zu Grunde liegenden Übersetzungen.

 

KussQuartett F Thomas Janssen

Foto: Thomas Janssen

 

Vielleicht. Dem gegenüber steht die Frage, was mit Musik passiert, wenn sie visualisiert wird, im Fall dieses Films sogar doppelt. Braucht Musik eine außermusikalische Ebene? Verträgt sie sie? Und wenn: was passiert in der Fantasie derer, die sie hören, wenn sie der Autonomie ihrer von der abstrakten, nicht in Begriffen denkenden Musik angeregten Bilder und Begriffe durch vorgefertigte Bilder verlustig gehen? Bleibt erhalten, was Walter Benjamin über Dichtung gesagt hat und was auch im Fall der Musik Beethovens gilt, dass deren Wesentliches das Geheimnisvolle sei? Denn immerhin ist der Raum zwischen dem Kunstwerk und seiner Interpretation durch den je einzelnen Rezipienten der Raum der Freiheit.

 

Dass abstrakte Werke durch die Hinterfragung „wie ich finde persönlicher, intimer, auch schrecklicher in ihrer Wahrheit“ werden, ist die Antwort von Oliver Wille auf die Frage, was ihn als Musiker dazu bewege, sich auf solche visuellen Interpretationen, in in Gleichzeitigkeit über die Musik geschoben sind, einzulassen. Große Werke wie die Beethovens „halten auch jeglicher Verbiegung stand, weil sie so stark sind. Und an diesem Ausloten, an den Diskussionen, Debatten, dem Ringen um eine Dramaturgie eines Abends ohne Text und Vorgaben... daran wachsen wir alle.“

 

Dabei entstehe eine „besondere, heutige, unverbrauchte, auch überraschende Sicht auf die ewig gültigen Meisterwerke“, die in andere Welten, auch ins Hier und Jetzt entführten. „Die Tänzerin verkörpert das Fragezeichen des Stückes“, erinnert Oliver Wille sich an eine Stimme aus dem Publikum in Hitzacker. Also das, was in jenem Spannungsfeld der Musik Beethovens geschieht, das Ferruccio Busoni zwischen den Polen „Befreiungslust“ und „Beklemmung, Erstarkung, Ermattung“ ansiedelte. Was verändert sich für die Musiker durch die Arbeit in einem visuell geprägten Umfeld? „Die Spielerfahrung nach der Arbeit an einem staged concert: Wir spielen eindeutiger, körperlicher, relevanter.“

 

„Plötzlich wurden die Worte Zwang und Freiheit, die ursprünglich vor allem Koordinaten im Leben Beethovens umreißen sollten, zur unmittelbaren Erfahrung für alle Beteiligten“, heißt es in einem Text zu dem unter Lockdown-Bedingungen entstandenen Projekts. Die Musik Beethovens, entstanden in einem Spannungsfeld zwischen äußeren Zwängen und innerer Freiheit, in dem sich Beethoven zeitlebens bewegen und behaupten musste, so an die Gegenwart, speziell die der Pandemie, anzubinden, ist naheliegend. Legitim allemal. Vielleicht aber zu naheliegend, und die Macht der Bilder könnte dazu führen, dass diese Zuschreibung zu wirkmächtig wird, die Musik reduziert. Deshalb hat das letzte Wort der Film: „Es wird das Jetzt gezeigt, dieses Jetzt, jetzt ist es ein gewesenes, nachdem es gezeigt wurde.“


„Force & Freedom“

Musikfilm, 87 Min.

Mit dem Kuss Quartett: Jana Kuss (Violine), Oliver Wille (Violine), William Coleman (Viola), Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello)

Nico and the Navigators: Tobias Weber (Gitarre, musikalische Adaption) | Yui Kawaguchi (Tanz & Choreographie) | Ted Schmitz (Tenor & Performer) | Patric Schott (Performer)

Künstlerische Leitung: Nicola Hümpel | Filmregie: Nicola Hümpel, Myriam Hoyer | Bühne: Oliver Proske | Dramaturgie: Andreas Hillger

Kostüme: Nicola Hümpel, Anna Lechner | Licht: Andreas Fuchs | Schnitt: Arno Scholwin | Live Video Editing: Hendrik Fritze, Sophie Krause

Produktion: EuroArts Music & Nico and the Navigators in Koproduktion mit dem ZDF und arte.

 

Sendetermine bei arte:

11.07.2021 – 23:25–00:50

26.07.2021 – 02:30–03:55

 

Begleitend zu den Proben haben die Beteiligten ein Videotagebuch geführt, das unter www.navigators.de zu finden ist.

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