Operette bewegt sich permanent (das legitimiert und speist ihren Zungenschlag) in wechselseitigem Austausch von herrschender Moral und „Leitkultur“ einerseits und ihrer anarchischen Lächerlichmachung andererseits. Der theatralische Witz ist nahezu immer – auch in feudalen Zeiten – der Witz über oder gegen das Bürgertum. Das gegenseitige Verständnis zwischen Louis XIV. und Molière, der in sonnenköniglichem Auftrag Stücke wie Der eingebildete Kranke oder Tartuffe schrieb, ist nur zu erklären mit der gemeinsamen Verachtung der Verhaltensweisen, Moralvorstellungen und Bigotterien des aufstrebenden Bürgertums – betrieben aus entgegengesetzten politischen Richtungen.
Überhaupt scheint das Bürgerliche, das sich durch eine Vorstellung des freien, selbstbestimmten, (auch) wirtschaftlich liberalen Individuums definiert, immer in Gefahr zu sein, dass in einer lächerlichen Geste sein mehr oder minder verbissenes (Auf)Strebertum auf dem Parkett der Ironie ausrutscht und keine bella figura macht. Kleists Dorfrichter Adam ist „unbildlich hingeschlagen“, weil ihm der Herr den Fuß ausgerenkt habe, „der ohnhin schwer den Weg der Sünde wandelt“. In den Stücken von Ibsen, Strindberg, Hauptmann oder Wedekind wird das Lächerliche im Bürgerlichen zunehmend grotesker, spätestens Carl Sternheim macht es zum theatralisch-politischen Programm. Seit Jacques Offenbach ist es konstitutiv für die Operette.
Johannes Blum (JB): Wovor rettet uns 2020 die(se) Operette?
Sascha Todtner (ST): Wie schon seit Anbeginn der Operette: vor der Oper.
Mit böser Freude, Leidenschaft und Mutwilligkeit treibt diese Lachenergie Keile in die Mauern von Wohlanständigkeit und Gesittetheit, provoziert anarchische Spielabläufe, von den Spaltpilzen der guten Gesellschaft in Gang gesetzt. Diese kommen meistens von außen und unten, oder, besonders gemein und gefährlich, aber umso lustiger, von innen. Das ernste Genre kennt solche Spaltfiguren schon seit langem: Karl Moor, Jago, später Thomas Manns Christian Buddenbrook.
In der Operette sind es Banditen, Bohemiens, Revoluzzer, Aussteiger, schwarze Schafe, Betrüger, Hallodris. Und am besten wird es, wenn solche Rollen vom anständigen Bürger gleich selbst übernommen werden (Eisenstein in Fledermaus).
Extrem schlechte Performance machen immer diejenigen, die Macht verloren haben, über die der Sturm der Geschichte hinweggefegt ist und die sich im Rinnstein oder Straßengraben wiederfinden. Sind die Grafen, Könige und Herzöge nicht mehr an der Macht, sind sie ja immer noch da. Und sie sind damals wie heute immer für halbseidene Medien Futter, für das die Konsumenten gerne bezahlen.
JB: Wie hoch ist der prozentuale Anteil im Stück: lustig/gemischt/traurig?
ST: 50/0/50 oder 0/100/0
JB: Warum gerade so?
ST: Komik bzw. Heiterkeit ist die archäologische Freilegung der Traurigkeit und vice versa.
Liest man z. B. die Zeitungsartikel, die in den 1920er Jahren über König Alfons XIII. von Spanien in den europäischen Gazetten erschienen, so wird deutlich: alte Herrlichkeit macht immer noch Meldungen, besonders, wenn sich deren Vertreter unter den neuen Verhältnissen nicht mehr zurechtfinden. 1923 kämpfte sich durch einen Militärputsch Primo de Rivera an die Macht – mit Unterstützung von Alfons XIII. 1931 jedoch entschied sich das Volk in Wahlen für die Regierungsform der Republik. Alfons XIII. hatte beim Volk alle Unterstützung verspielt, verließ das Land und zog mit seiner Familie nach Paris, ohne jedoch die Königswürde offiziell abzugeben.
Warum das hier erzählt wird? Weil eine seiner beiden Töchter, wohl Beatriz, die mit zweitem Namen Isabel hieß, in Märchen im Grand Hotel eine der Hauptrollen spielt: Isabella, Infantin von Spanien. Mit ihr sind ihr Verlobter Prinz Andreas Stephan, die Gräfin Pepita Inez und der Großfürst. Sie residieren in Cannes auf großem Fuß in einem Luxushotel, sind aber herrlich pleite. Jemand aus Hollywood versucht sich Zutritt zu den Royalen zu verschaffen. Marylou Makintosh, vorlaute Tochter des Direktors der Universal Star Picture Ltd., einer großen Filmproduktionsgesellschaft. Die Geschäfte gehen auch schlecht, denn ein Konkurrent hat die bessere Geschäftsidee. Er schnappt Makintosh alle guten Stoffe vor der Nase weg. Der Vater hat nun (ganz im Geist der Heiratsdiplomatie europäischer Königshäuser!) die Idee, seine Tochter und den Sohn des Konkurrenten zu verheiraten. Marylou hat aber keine Lust und modelt die Information aus der Zeitung, dass die spanische Infantin Isabella wegen Ausbruch der Republik in Spanien nach Frankreich exiliert ist, um in eine Idee, die sie und die Firma retten könnte. Wenn sie es schaffen sollte, diese Isabella zu einer Hauptrolle in der Verfilmung ihres Lebens zu überreden, ist die Firma gerettet und sie, Marylou, bliebe von der Verheiratung verschont. Ab geht’s nach Cannes. Über den Prinzen, den sie ziemlich fesch findet, möchte Marylou Isabella sprechen. Diese ist tendenziell depressiv, verliebt sich aber unter großen Widerständen in Albert, den Zimmerkellner, der sie anhimmelt.
Der ist aber genau nicht der, als der er auftritt. Finanzielle Rettung soll eine falsche Perlenkette bringen, Marylou geht mittlerweile als Zimmermädchen Mabel aus und ein und sammelt eifrig Stoff für’s Drehbuch. Mal ist die Monarchie wiederhergestellt, später wieder abgesagt, wobei sich plötzlich in Schränken und Schubladen mysteriöserweise größere Summen Geldes finden, ein Dieb verhaftet wird, der eher das Gegenteil ist, und am Ende ist alles in eine Ordnung gebogen.
JB: Corona hat die Neuproduktion von der opera stabile auf die Vorbühne im Großen Haus katapultiert, inklusive Abstandsregelungen und Hygienekonzept. Wie reagiert das Stück?
ST: Die Operette war immer eine Reaktion auf die sozio-kulturellen Zeitumstände und so reagiert Märchen im Grand-Hotel auf diese Situation, indem es in den Beschränkungen eine Chance findet: innerhalb dieser „Grenzen“ die Freiheit zu sehen.
Eine Form der Operette, die der Offenbachiade und der Wiener Operette in der Geschichte folgte, ist mit Namen wie Eduard Künneke, Emmerich Kálmán, Ralph Benatzky oder Paul Abraham verbunden und entstand nach dem 1. Weltkrieg in Berlin. Neue Kennzeichen waren die Exotik der Schauplätze (Blume von Hawaii, Vetter aus Dingsda), in der Musik wurden ganz neue Formen integriert und verarbeitet: das amerikanische Musical, Jazz, Südseeklänge, schmissige Tänze des 20. Jahrhunderts wie Foxtrott und Shimmy, aber auch Tango oder Samba. Die Welt wurde kleiner (oder weiter, wie man’s nimmt) und endete nicht mehr am Balaton.
Die Theatralität des monarchischen Auftritts, die Breitwandüberwältigung von Hollywood und Operette als echtes Theater sind Umstände, Sphären und Orte, in denen Kostüm getragen wurde und wird. Alle drei Bereiche sind im Stück vorhanden und greifen, sich gegenseitig erhellend und täuschend, ineinander: das spanische Königshaus, der Hollywood-Film, die Operette. Alle Genres befruchten einander. Die damals neueste Massenkunstform, der US-amerikanische Film, trifft hier auf die Geschichte eines politischen Asyls der aussterbenden Monarchie Europas, das Hollywood nur als Kulisse ausbeutet. Und die Operette weiß selbst auch nicht so genau, wie konkret sie eigentlich werden will. Es will ja immer noch gelacht werden.
„Märchen im Grand-Hotel“
Operette von Paul Abraham
Staatsoper Hamburg, Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
- Premiere A: 13. September, 18.00 Uhr
- Premiere B: 16. September, 19.30 Uhr
Weitere Aufführungen:
25. September, 7., 9. Oktober, jeweils 19.30 Uhr
20. September, 19.00 Uhr
3. Oktober, 18.00 Uhr
Musikalische Leitung und Klavier I: Georgiy Dubko
Inszenierung und Kostüme: Sascha-Alexander Todtner
Bühnenbild und Kostüme: Christoph Fischer
Dramaturgie: Janina Zell
Klavier II: Johannes Harneit
Infantin Isabella : Narea Son
Marylou, Gräfin Inez de Ramirez: Ida Aldrian
Prinz Andreas Stephan, Barry : Peter Galliard
Albert, Großfürst Paul, Dr. Joshua Dryser: Nicholas Mogg
Sam Makintosh, Präsident Chamoix : Martin Summer
Boys: Hiroshi Amako, David Minseok Kang, Hubert Kowalczyk, Seungwoo Simon Yang
Abbildungsnachweis:
- Historische Postkarte des Grand-Hotel Souville Bains in Toulouse/Frankreich, um 1890. Gemeinfrei. Foto: Jean-Marie Distero
- Paul Abraham um 1931. Quelle: Paul-Abraham-Bio.de
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