Zwielichtige Gestalten in der Oper Fürst Igor: das sind der Khan Kontschak und der Fürst Galitzky. Der armenische Opernbass Tigran Martirossian kennt sie gut, da er schon beide Rollen in der Inszenierung von David Pountney gesungen hat.
Im Gespräch mit der Dramaturgin Annedore Cordes spricht Tigran Martirossian über seinen Rollenwechsel, die Opernhandlung, Alexander Borodins musikalisches Verständnis und die kommende Inszenierung an der Staatsoper in Hamburg.
Annedore Cordes (AC): Bei der Premiere Fürst Igor haben Sie den Khan Kontschak gesungen und in der zweiten Serie zum Fürsten Galitzky gewechselt. Warum?
Tigran Martirossian (TM): Bereits vor der Premiere gab es zusammen mit der künstlerischen Leitung die Überlegung, welche dieser beiden Partien die besser geeignete für mich sei. Ich selbst war eher der Meinung, ich solle Galitzky singen. Aber die Entscheidung fiel auf Kontschak. Ich hatte nichts dagegen, denn es ist eine wunderbare Rolle, die gut zu meiner Stimmlage passt. Außerdem gibt es im dritten Teil der Hamburger Inszenierung eine interessante Szene mit Kontschak, die in den meisten Inszenierungen gestrichen wird. Heute jedoch denke ich, es gibt einige gute Sänger, zu deren Stimme die Rolle des Kontschak besser passt, und ich wiederum fühle mich mit der Partie des Galitzky weit wohler. Zudem kannte ich die Rolle bereits, da ich sie zuvor am Moskauer Bolschoi-Theater gesungen hatte. Ich denke, jeder Sänger muss in einem solchen Fall das für ihn besser Passende ausprobieren, denn nicht alle Rollen sind so gestaltet, dass man auf Anhieb sagen könnte, sie passe hundertprozentig zu einem. Werde ich älter und wird dann meine Stimme dementsprechend tiefer oder dramatischer, dann wäre, denke ich, wiederum Kontschak die bessere, da meinen Ausdrucksmöglichkeiten eher entsprechende Wahl. Denn Kontschak ist ein Basso profundo, und Galitzky liegt stimmlich höher, entspricht also dem Fach des Basso cantabile. Dies also war der entscheidende Grund für mich, die Leitung des Hauses zu bitten, mich in der nächsten Zukunft besser mit der Partie des Galitzky zu besetzen.
AC: Kontschak und Galitzky sind beide eher zwielichtige Charaktere. Wie unterscheiden sie sich – vom Stimmlichen sprachen wir ja bereits – charakterlich voneinander?
TM: Die Handlung wird eindeutig aus einer russischen Perspektive erzählt: Die gefühlvollen und leidensbereiten Charaktere, mit denen man sich am ehesten identifiziert, sind Fürst Igor und seine Frau Jaroslawna. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass es Igor ist, der gegen den Polowetzer Khan Kontschak den Krieg beginnt und deshalb in Gefangenschaft gerät. Und man begreift eindeutig, Kontschak ist ein Krieger, der seinen Gefangenen als ebenbürtigen Gegner behandelt, obwohl er ihn töten oder zerstören könnte. Er bietet ihm an: „Lebe hier wohl oder gehe nach Hause. Aber lass mich in Ruhe und fang mit mir nie wieder Krieg an!“ Daher ist Kontschak auf Anhieb nicht unbedingt negativ. Umso drastischer wird die Gegenseite beleuchtet: Igors Schwager Fürst Galitzky ist nicht mit in den Krieg gezogen und zu Hause geblieben. Er ist ein wilder, zerstörerischer Mensch mit dem Charakter eines Diktators. Er hat keinen politischen Ehrgeiz, ist ideenlos und möchte einzig in Saus und Braus leben. Das betont er sehr klar. Galitzky ist ganz eindeutig das zerstörerische Zentrum der Familie. Als Fazit erleben wir in Fürst Igor, wie ein Familienangehöriger in den Krieg zieht und ein anderer zu Hause alles vernichtet. Ich glaube, das Thema der Dezentralisierung von Macht spielt dabei eine entscheidende Rolle: Jedes kleine russische Fürstentum stand für sich allein, und es gab keine gemeinsame Kraft gegen die Feinde von außen. Nicht zufällig war es für Borodin selbst, der auch den Text der Oper nach dem „Igorlied“ verfasst hat, ein zentrales Anliegen, dieses Thema aufzugreifen, das übrigens in der russischen Historie häufig behandelt wird. Als beispielsweise das Volk im 16. Jahrhundert zum Zarentum zusammengefunden hatte, kämpfte es zum ersten Mal erfolgreich gegen die Tartaren.
AC: Könnte man sagen, dass der Khan Kontschak und Fürst Galitzky als Bedrohung von außen und von innen eine Art Inkarnation des Bösen darstellen: etwa, der eine ein brutaler Machtmensch und der andere ein Taugenichts? Und wie klingt solch ein Gegensatz dann in Borodins Musik?
TM: Aufschlussreich finde ich, dass Borodin so gut wie keine moralische Wertung bei der Charakterisierung seiner Figuren vornimmt und man daher schwer zwischen Feind und Freund unterscheiden kann. Kontschak scheint mir musikalisch bewusst recht einfach notiert zu sein, mit vielen Halbtonschritten. Man kann sagen: Die Melodie kommt immer von oben und geht nach unten. Das betont einen gewissen orientalischen Charakter. Die Musik vermittelt ansatzweise, dass man im Osten weniger direkt seine Meinung sagt als etwa in Deutschland, stattdessen eher herumlaviert. Ein solcher Wesenszug tritt stark aus Kontschaks Musik hervor, bietet er Fürst Igor immer wieder von neuem verschiedene Optionen an. Damit, denke ich, versucht er etwas zu finden, um Igor zur Kumpanei zu bewegen. Und dementsprechend findet man ein solches Angebot auch in der Musik.
Fürst Galitzky wiederum ist durch eine Musik charakterisiert, zu der man gut und gerne tanzen kann. Sie klingt wie Straßenmusik. Und exakt so ist Galitzky auch charakterisiert: Er tanzt, er trinkt, macht wilde Sachen und hat tausend Mädchen. Ihm ist alles egal, und er ist ständig betrunken. All das zeigt dann zugleich auch seine Musik, die bewusst von der russischen Volksmusik herkommt, von den Liedern und vom Tanz. Zwar ist es eine sehr vitale Musik, aber seriös klingt sie nie. Das wird besonders deutlich, wenn Galitzky mit Jaroslawna spricht. Sie ist sehr ernsthaft, während er ständig mit Unsinn anfängt. Wie ein Betrunkener, den man auf der Straße trifft, und dem man sagt: Komm geh nach Hause und schlaf dich aus. Und er sagt, nein, ich gehe jetzt tanzen! Eine solch sehr ambivalente, auch aggressive Stimmung vermittelt die Musik, die Borodin für Galitzky schrieb.
AC: Sie haben diese Inszenierung von Fürst Igor nun aus der Perspektive zweier Figuren kennengelernt. Was gefällt Ihnen an David Pountneys Deutung sehr gut und, ruhig ehrlich gesagt, vielleicht eher nicht?
TM: Ich kannte und schätzte David Pountney und seine Arbeitsweise bereits aus anderen Produktionen und fand sein Konzept interessant, obwohl ich es zu Beginn der Proben nicht richtig verstand, wahrscheinlich vor allem, weil sich die Zeitrahmen bewusst miteinander vermischen. Es gibt traditionelle russische Kostüme und dann wieder springt die Optik in die Gegenwart in die Jetzt-Zeit. Inzwischen weiß ich viel besser einzuordnen, dass sich seine Inszenierung an der „zeitlosen“ Gültigkeit des Stoffes orientiert und dabei auch bewusst mit Klischees arbeitet. Beide Seiten, die Russen und die Polowetzer, werden absichtlich durch verschiedene Epochen geführt. Das Historische des Anfangs entwickelt sich mehr und mehr bis in die Gegenwart hinein. Das tragische Scheitern der Hauptfigur und wie sie trotzdem zum Nationalhelden stilisiert wird, steht für mich recht eindeutig im Zentrum der Oper. Dabei sind auf der Bühne die privaten und politisch motivierten Verbindungen der Personen herausgearbeitet. Ich hätte wahrscheinlich Kontschaks Charakter bewusst ein wenig milder gezeigt. Denn ich empfinde ihn nicht ganz so brutal, wie Pountney ihn im zweiten Teil darstellt, in den Momenten, in denen das Khan sich bewaffnet und die unterlegenen russischen Krieger abschlachtet. Man kann das sicherlich aus Sicht der Regie so interpretieren. Jedoch meinem Empfinden nach ist Kontschak zwar anfangs böse, zeigt jedoch im Verlauf des Stücks durchaus versöhnliche Züge. In Borodins symphonischer Dichtung Steppenskizze aus Mittelasien gibt es dazu ein, wie ich finde, sehr gut passendes programmatisches Zitat des Komponisten: „Die friedlichen Weisen der Besiegten und Sieger fügen sich zu einer Harmonie.“
Alexander Borodin: Fürst Igor
Staatsoper Hamburg
Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 HamburgAufführungen: 24.5. 18:30h / 28.5. 18:00h / 1.6. 18:30h / 5.6. 18:00h
Preise: 6,00 EUR bis 97,00 EUR
Tickets
Weitere Informationen
YouTibe-Video:
Fürst Igor / Alexander Borodin / Staatsoper Hamburg (2012)
Inszenierung: David Pountney
Bühnenbild: Robert Innes Hopkins
Kostüme: Marie-Jeanne Lecca
Licht: Jürgen Hoffmann
Choreografie: Renato Zanella
Koproduktion mit dem Opernhaus Zürich
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Staatsoper Hamburg, Annedore Cordes schrieb den Beitrag für das Journal Nr. 5 2016/17.
Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Karl und Monika Forster (c) Staatsoper Hamburg
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