Musik
Turangalila – Messiaens Ode an die Liebe

Die überragende Qualität von John Neumeiers Hamburg Ballett und die enge Freundschaft von Kent Nagano zum 1992 verstorbenen Komponisten machten das Unmögliche möglich. Nach fast 50 Jahren gab es für Hamburg eine Sondererlaubnis: Das Hamburg Ballett und die Philharmoniker dürfen Olivier Messiaens Ode an die Liebe auf die Bühne bringen: Turangalîla. Mit der faszinierenden Premiere eröffneten die 42. Hamburger Ballett-Tage.

Kein Wunder, dass diese Musik einen Tanzgestalter wie John Neumeier reizt. Es ist ja auch ein gewaltiges Stück, das Olivier Messiaen zwischen 1946 und 1948 komponierte, als der Welt die Apokalypse des Zweiten Weltkriegs noch in den Knochen saß. „Turangalîla" – eine zehnsätzige Symphonie in Überlänge für ein opulent instrumentiertes Orchester von an die 100 Musikern, dazu zwei Soloinstrumente: das Klavier und die „Ondes Martenot“, ein elektronischer Klangerzeuger von starker Präsenz. Großes Musik-Kino, dessen Klänge wechseln zwischen brutalen Klangkaskaden, Donnerschlägen und dessen fordernde und zupackende Rhythmik in der direkten Nachfolge etwa von Stravinskys „Sacre du printemps“ steht. Dazwischen wilde Lebenslust, Jazz-Passagen in Sektlaune – der symphonische Jazz von George Gershwin steht da Pate. Dann wieder lässt Hollywood grüßen: süßlich kitschelnde Gegenpositionen zur tönenden Brachialgewalt.

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Musik wie geschaffen für Bewegung, Bilder und große Emotionen. Zumal gleich fünf Teile explizit vom Thema aller Themen handeln – von der Liebe. In den anderen fünf klingt es an, auf und nach. Wunschmusik für viele Choreographen. Drei Teile waren bereits 1960 von Rolf Liebermann für eine Choreographie an die Hamburgische Staatsoper geholt worden. Dann wurde das ganze Werk 1968 in Paris in Tanz umgesetzt – und, Paradise lost, vom Komponisten nach einem leidigen Gerichtsstreit für alle weiteren Choreographien gesperrt. Ein Diktum, an dem die Erben festhalten und an dem schon etliche gescheitert sind. Auch John Neumeier, der mit Ingo Metzmacher einen Versuch unternahm, hatte sich bisher die Zähne daran ausgebissen.

Erst die spezielle neue personelle Konstellation in Hamburg konnte eine Sinnesänderung bewirken: Kent Nagano arbeitete selbst mit Messiaen einige Zeit eng in Paris zusammen. Ein Brief von ihm öffnete die Türen für das ambitionierte Projekt, dessen Premiere am Sonntag die 42. Hamburger Ballett-Tage eröffnete.

Großartig gelungene Balance zwischen Musik und Tanz
Es wurde sozusagen ein doppelter gelungener Abend, denn das Orchester lieferte seinen Soundtrack nicht etwa dezent verborgen aus dem Graben zu, sondern war gut sichtbar im hinteren Bühnenteil sichtbar, was der Präsenz der Musik deutlich zugute kam (Bühnenbild: Heinrich Tröger). Davor als großer weißer Kreis das Zentrum der Tanzfläche, was die Distanz zum Publikum verkleinerte. Aber auch auf einer Galerie über dem Orchester und auf einer kleinen kreisförmigen Plattform dort oben wurde getanzt – wie ein fernes Echo.

Neumeiers abstrakte Kreation zu Messiaens Musik verweigert sich einer fortlaufenden Erzählung, der Hamburger Ballettchef lässt den roten Faden beiseite, so, wie er seinen Charakteren auch keine Rollennamen gibt. Dafür findet er eine Fülle von Bildern. Er führt die Facetten von Liebe vor, von der ersten zarten Aufmerksamkeit über die Unsicherheit des Zusammengehörens bis zur Ekstase, vom Finden zum Verlieren, vom Leben zum Tod. Es ist keine Geschichte entlang eines Zeitstrahls, es fühlt sich dekonstruiert an, als würde alles gleichzeitig, rechzeitig und zur Unzeit geschehen. Wer dennoch eine eindimensionale Geschichte sucht, wird sich daran die Zähne ausbeißen.

Vielleicht ist deshalb ein anderer Modus für das Publikum sinnvoller: die Mosaiksteinchen zu sammeln und im eigenen Kopf die eigenen Bilder wachsen zu lassen – aus einer Abfolge von Traumbildern, die keiner glatten Logik folgen, die springen in dem, was sie zeigen, und die bei allem eine konstant hohe emotionale Schwingung transportieren. Man muss sich darauf einlassen, sich in den Flow der Bilder einklinken, sich von ihm davontragen lassen und die eigenen Gefühle entfesseln, um ein Maximum von dem zu erfassen, was da vorn in höchster Konzentration getanzt wird. „Turangalîla“ ist ein Ballettabend, der sich sicher nicht durch einen einzigen Besuch vollständig erschließt.

Zu bestaunen ist eine wunderbare Balance. Zwischen den von Kent Nagano mit präziser Leidenschaft geführten Philharmonikern, die sich in Messiaens Musik hörbar wohlfühlten und die vertrackten Rhythmen exakt, aber nicht akademisch spielten. Und den Tänzerinnen und Tänzern, die zur Musik einer vierten Dimension Gestalt verliehen: die der lebenden, der getanzte Gefühle. Es war kein Gerangel um Vorherrschaft, sondern ein austariertes, spannendes Miteinander, das offenbar beide Seiten bereichert und inspiriert hat.

So wurde ein bisschen von dem spürbar, was Messiaen selbst erlebt haben muss, wenn er, der Synästhetiker, in dessen Gehirn sich Töne und Noten unmittelbar in Farben umsetzen, Musik schrieb: „Mein heimliches Verlangen nach feenhafter Pracht in der Harmonie hat mich zu diesen Feuerschwertern gedrängt, diesen jähen Sternen, diesen blau-orangenen Lavaströmen, diesen Planeten von Türkis, diesen Violettönen, diesem Granatrot wuchernder Verzweigungen, dieser Wirbel von Tönen und Farben in einem Wirrwarr von Regenbögen.“ Klang, Zeit, Rhythmus – für den französischen Komponisten war alles Farbe, die er in seinen Noten einzufangen suchte.

In den ganz großen Farbkasten greift Albert Kriemler für seine gern asymmetrisch geschnittenen, weich fließenden und fliegenden Kostüme nicht, dafür tragen sie ihren Teil bei zu Tanzbildern von großer und schlichter Eleganz.

Große Gefühle im Garten des Liebesschlummers
Im weißen Kreis des Lebens sorgten die großartigen Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts dafür, dass die Musik nicht dominierte. Denn auch sie nahmen gefangen durch die hohe Energie und grandiose Intensität ihrer Kunst. „Turangalîla“ kommt aus dem Sanskrit und bezeichnet in etwa das göttliche Handeln in Sachen Liebe, die als Liebesspiel oder spielerische Liebe verstanden wird. Als weitere Möglichkeiten sind Anmut und Rhythmus sind konnotiert – ein Begriff also, der sich allzu Eindeutigem verweigert und lieber schillernde Vielfalt aufblühen lässt.

Es sind getanzte Emotionen in feinsten Schattierungen, die Messiaens Satztitel ausfüllen, die große Assoziationsräume öffnen: „Liebesgesang“, „Freude des Sternenblutes“, „Garten des Liebesschlummers“, „Steigerung der Liebe“ – bis hin zum Finale, das „mit einer großen Freude“ daherkommen soll. „100 Shadows of Love“, hell strahlende, überschäumende Freude, aber auch Trauer, Zweifel, Annäherung. Wer Neumeiers Ballette kennt, findet natürlich etliche seiner klassischen Bewegungsabläufe wieder. Wer sie gut kennt, wird auch viel Neues entdeckten, das den Neumeier-Kanon ergänzt und erweitert.

Wen aus dem Weltklasse-Ensemble soll man zuerst loben? Christopher Evans, der in allen zehn Bildern präsent war und vielleicht den Menschen tanzte, auf den alle diese Gefühle, alle diese Bilder einstürzen, der diesen wildsüßen Traum durchlebt und durchleidet? Helene Bouchet und Carsten Jung als Liebespaar, Mayo Arii (die für Caroline Agüero eingesprungen war) und Alexandr Trusch, oder Florencia Chinellato und Edvin Revazov? Am Ende standen fast 40 glückliche Ensemble-Mitglieder auf der Bühne und strahlten angesichts eines für Hamburger Premierenverhältnisse ausgiebigen und geradezu frenetischen Applausgewitters.

Turangalîla
Ballett von John Neumeier
Musik: Olivier Messiaen
Aufführungen in der Hamburgischen Staatsoper: 5. und 8. Juli, jeweils 19:30 Uhr. Restkarten unter (040) 3568 68
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Alle Fotos Kiran West

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