Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium. Vom Fürstenruhm zum Gotteslob III
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Man kann gewisse Spielregeln in diesem munteren Umarbeitungsreigen feststellen.
▪ Bach verwendet Musik aus weltlichen Kantaten in anderen weltlichen.
▪ Musik aus weltlichen Kantaten findet sich in geistlichen wieder.
▪ Und Musik aus geistlichen Werken kommt in anderen geistlichen Werken vor.
▪ Musik für einen Bürger kann Musik für einen König werden, Musik für einen König Musik für Gott – umgedreht ist das sehr selten. Aber auch das kommt vor:
Die Pfingstkantate „Guter Hirte, Trost der Deinen“ wird später zur weltlichen Kantate „Lust der Völker, Lust der Deinen“
Ein anderes Beispiel für eine überraschende Parodie: der dritte Satz des ersten brandenburgischen Konzerts dient in der weltlichen Kantate BWV 207 als Basis für den Eingangschor:
„Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten, der rollenden Pauken durchdringender Knall, locket den lüsternen Hörer herbei, saget mit euren frohlockenden Tönen und doppelt vermehretem Schall denen mir emsig ergebenen Söhnen, was hier der Lohn der Tugend sei“. Wobei Bach den Notentext etwas vereinfacht, einen vierstimmigen Chorsatz hinzufügt, die Hornpartien für drei Trompeten und Pauken umschreibt und dem Ganzen einen Auftakt verpasst, denn er muss ja noch die Vorsilbe „Ver-“ von „Vereinigte“ unterbringen.
Warum hat er das getan? Die Antwort geben zwei hübsche Zeilen aus einer weltlichen Arie, in der es heißt: „Soll die Musik ersterben, die uns so großen Nutzen gab?“
Umarbeitung für zeitlose Verwendung
Mag ja sein, dass Bach das eine oder andere Stück einfach sehr gern mochte und dass es ihm bei seiner enormen Produktion auch an anderer Stelle als der ursprünglichen passend erschien.
Angesichts der vielen Parodien im Weihnachtsoratorium aber muss man das ganze Werk fast als Neuarrangement bereits existierender Stücke bezeichnen.
Hier ging es Bach wohl darum, Werke, die er mit allerfeinster Musik für einen singulären Zweck geschrieben hatte, die also nicht wieder aufführbar waren, ins zeitlose Repertoire zu holen. Denn in den Kantaten zu den Weihnachtstagen hatten sie einen festen Platz im Kreis des Kirchenjahres.
Mag auch sein, dass er sich freute, weil er mal nicht ganz so viele Noten schreiben musste. Allerdings waren die Umarbeitungen vom Fürstenruhm zum Gotteslob auch ganz schön aufwendig, denn Bach war, was die Stimmigkeit des musikalischen Ausdrucks anging, ein akribischer Qualitätsfanatiker. Die musikalischen Ausdrucksmittel mussten zum verwendeten Text passen, wenn nicht, wurden sie hier und da dezent angepasst.
Wie darf man sich also im Licht dieser Fakten die Entstehung des Weihnachts-oratoriums vorstellen?
Bach hatte ein Handlungsgerüst – das sind die Texte aus dem Neuen Testament, die Weihnachtsgeschichte nach dem Lukas-Evangelium – „Es begab sich aber zu der Zeit...“ – und die Geschichte der Weisen aus dem Morgenland, die den Stern sehen und das Kind in der Krippe suchen, um es anzubeten – aus dem zweiten Kapitel des Matthäus-Evangeliums.
Bach wird danach die passenden Schluss- und anderen Choräle aus dem Fundus des Kirchengesangsbuchs zusammengestellt haben.
Die großen Chöre musste er platzieren nach den Emotionen, die sie transportieren: „Jauchzet Frohlocket“ mit Pauken und drei Trompeten passt nicht zu einem schlafenden Kind in der Krippe, die Oboen hingegen vorzüglich zu den Szenen mit den Hirten und Engeln auf dem Felde. Sein Textdichter Picander und er selbst dichten die neuen Texte für die recycelte Musik. Manches muss er komplett neu schreiben, weil er nichts Passendes findet. Manchmal ändert er die Instrumentation, und manchmal beginnt er eine Umarbeitung und entschließt sich später doch zur kompletten Neukomposition einer Arie. Manches musste transponiert, am Ende alles wieder abgeschrieben werden, von Hand, die Partitur, die Stimmen für Chor und Orchester.
Auch die Arien wurden nach dem Gefühlen ausgewählt, die sie hervorrufen. Das haut manchmal sogar dann hin, wenn sie im Original einen komplett gegensätzlichen Text haben.
Es war ein handwerklich aufwendiges Verfahren, aus so vielen verschiedenen Quellen ein im Nachhinein emotional und spirituell so einheitlich klingendes, überzeugendes Werk zu schaffen.
Zwei Beispiele: Zum ersten die wunderschöne Alt-Arie: „Bereite, dich, Zion mit zärtlichen Trieben, den schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn, deine Wangen müssen heut viel schöner prangen, eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben.“
Geschrieben hat Bach die Musik eigentlich für diesen Text: „Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen, verworfene Wollust, ich kenne dich nicht. Denn die Schlangen, so mich wollten wiegend umfangen, hab ich schon lange zermalmet, zerrissen.“
Da wird eine böse Verführerin zurückgestoßen, beim anderen Mal der Heiland in poetischen Worten herbeigesehnt.
Durch den geistlichen Kontext zwischen Weihnachtsgeschichte und Chorälen käme vermutlich niemand, der nicht beide Textfassungen nebeneinander liest, auf die Idee, der Arie im Oratorium könnte eine weltliche Urfassung zugrunde liegen.
Die Themen der weltlichen Kantaten stammen aus der klassischen Mythologie, da singen Pallas, Mars, Apollo, und allegorische Figuren wie Lust und Tugend, Vorsehung und Frömmigkeit, Pleiße und Elbe. Und eigentlich geht es immer wieder darum, die unendliche Tugend des Herrschers zu preisen, seine glückliche Hand beim Regieren, seine Weisheit und Gerechtigkeit.
Manchmal geht das nach dem Motto:
Reim dich oder ich hau dich:
„Durchlauchtster Leopold;
Es singet Anhalts Welt;
Von neuem mit Vergnügen.
Dein Köthen sich dir stellt;
Um sich vor dir zu biegen.“
Das wird in einer Pfingstkantate später zu:
„Erhöhtes Fleisch und Blut,
Das Gott selbst an sich nimmt;
Dem er schon hier auf Erden
Ein himmlisch Heil bestimmt:
Des Höchsten Kind zu werden.“
Bachs Beinah-schon-Opern
Für Bach sind die mythologischen Handlungen der weltlichen Kantaten, lässt man den zweckgebundenen Fürstenruhm mal beiseite, etwas Besonderes, denn sie liegen – wie der Untertitel „Dramma per musica“ für mehrere seiner etlichen Kantaten zeigt – schon sehr dicht an Kompositionen wie etwa Händels Schäferspiel „Acis und Galatea“. Und sie gaben ihm die Möglichkeit, aus seinem traditionellen Themenkreis um Evangelium, Glauben und Luthertum in eine weltliche Richtung auszubrechen und stärkere Affekte und Genrebilder zu verwenden.
Noch einen Schritt weiter gehen dabei die Kaffee-, Bauern- und Ratswahlkantate. Da ist Bach schon ganz dicht an der weltlichen Oper, die er selber nie geschrieben hat – obwohl man die Matthäuspassion in ihrer fast szenischen Deutlichkeit fast schon als geistliche Oper bezeichnen kann.
Opern komponieren durfte Bach nicht – schon bei seiner Einstellung als Thomaskantor hatte man ihm ja schriftlich gegeben, „dass in den Kirchen die Music dergestalt einrichten ist, daß sie nicht zu lang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.“
Wir wissen aber, dass Bach großes Interesse an dieser Form hatte und gerne nach Dresden gereist ist, um dort Johann Adolf Hasses Opern zu hören. Der Weltstar aus Bergedorf bei Hamburg war ab 1733 in Dresden als Hofkapellmeister auch für die Opern zuständig. Und Bach mochte dessen „hübsche Liederchen“.
Er hielt es wohl auch mit Johann Ephraim Scheibel, einem Theologen, der sich schon 1722 über das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Musik in Parodien kluge Gedanken gemacht hatte: „Der Thon, der mich in einer Oper vergnügt, der kann auch solches in der Kirche thun, nur dass er ein anderes objectum hat. Ich weiß nicht, was man darwider will einwenden. Ich nehme eine weltliche Composition von einer Cantate, mache ein Parodie von einer geistlichen Materie drauff, und exprimiere eben den Affect, den die Composition von dem weltlichen Objectum mit sich bringt – dieser affectus wird seine kraft nicht verlieren.“
Empfehlenswerte Aufnahmen:
Weltliche Kantaten
▪ Bach Edition, Vol.7: Weltliche Kantaten. 8 CDs, Brilliant
▪ Bach Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling, 1999/2000. Hänssler
▪ Bach 2000, Vol. 5: Weltliche Kantaten, Box mit 11 CDs, 1999. Diverse Interpreten (Teldec, Warner)
Abbildungsnachweis:
Header: Bildnis und Signaturfragment von Johann Sebastian Bach
Galerie:
01. Piero della Francesca, Geburt Christi, 1460–1475, National Gallery London
02. Beispiel für eine Bearbeitung: Oben die Vorlage, unten die Parodie (Arie Nr. 4)
03. Denkmal Johann Sebastian Bachs neben der Thomaskirche
04. Bach-Kantaten, Bach Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment