„Expats“, die „Unbestimmten“, „Grenzgänger“, „Ausgestoßenen“, „Unangepassten“ oder „modernen Nomaden“ – randständig, oft alleinstehend, unbehaust und nach Liebe suchend: Das sind die „Spatriaten“ – Italienisch: „Spatriati“ – oder Menschen, die in kein Klischee passen, schwer einzuordnen sind und sich ohne festen emotionalen Wohnsitz auf der Suche nach der eigenen Identität und Sexualität ins Leben eines kosmopolitischen Europas stürzen. Ihre fluiden Seelenlandschaften ergründet der apulisch-römische Autor mit Faible für Berlin Mario Desiati in seinem Roman „Spatriati“ (2021).
Zuletzt live auf der weltweit größten, 76. Buchmesse in Frankfurt – mit Italien als Ehrengast – zu erleben, zu hören und zu sehen, wurde Desiatis Roman 2022 mit dem renommierten italienischen Strega-Preis für dieses soeben auf Deutsch unter dem gleichnamigen Titel „Spatriati“ (2024) erschienene Werk ausgezeichnet. KulturPort.De hat sich diesen Anlass für ein Gespräch nicht entgehen lassen.
Mario Desiati wurde 1977 in der apulischen Kleinstadt Locorotondo geboren, wuchs im nahen Martina Franca (Provinz Taranto) auf und pendelt, seit er 2014 nach Berlin gezogen ist, heute zwischen Apulien, Rom und der deutschen Hauptstadt Berlin, in der er die „Spatriati“ – außer in Süditalien – angesiedelt hat. Zunächst war er 2003 von Apulien nach Rom umgezogen, nachdem er 2000 sein Jurastudium an der Universität Bari abgeschlossen und angefangen hatte, als Journalist für Politik- und Sportnachrichten sowie in einer Anwaltskanzlei in Valle d’Itria, Apulien, zu arbeiten. Auch sein Schriftstellerdebüt geht auf das Jahr 2003 und den Roman „Neppure quando è notte“ (Deutsch etwa: „Nicht einmal nachts“) zurück. Seitdem hat er in Italien bislang rund zwanzig Prosabände publiziert, zwei Gedichtbände verfasst und ist außer mit dem Strega-Preis bereits mit vier weiteren Literaturpreisen geehrt worden. Darüber hinaus hat Desiati sich als Herausgeber deutschsprachiger Italienbücher über die Toskana und Apulien in der Reihe „Europa erlesen“, die beim Klagenfurter Wieser Verlag erschienen sind, profiliert und ist, seit seinem Jurastudium, nicht nur als Schriftsteller, Dichter und Herausgeber, sondern auch als Essayist, Journalist und im Verlagswesen tätig. Sein Roman „Spatriati“, ursprünglich beim Turiner Einaudi Verlag erschienen, ist im Sommer 2024 in der deutschen Übersetzung von Martin Hallmannsecker beim Berliner Wagenbach Verlag und dieser Tage – frisch aus der Druckerpresse – als Desiatis erstes Buch auf Englisch, von Michael F. Moore übersetzt, herausgekommen.
Buchumschläge der italienischen Originalausgabe sowie der englischen und deutschen Ausgabe (Einaudi, Other press, Wagenbach)
Was die Buchmesse betrifft, so bringt eine aktuelle Dokumentation des TV-Senders „Arte“ mit dem Titel „Kulturkampf auf Italienisch“ (Arte, 2024) die kulturpolitisch brisanten Arbeitsbedingungen der italienischen Schriftstellerzunft unter der „post-faschistischen“ Regierung von Giorgia Meloni aus Sicht der Kreativen auf den Punkt. Die tendenziell insgesamt engagierten, kritischen und linksorientierten Schriftsteller/innen Italiens, zu denen Desiati seit gut zwanzig Jahren gehört, erhoben im Rahmen des staatlich koordinierten Italienprogramms der Buchmesse dieses Jahr im Geiste vereint ihre Stimme. Mit einer dezidierten Protest- und Verweigerungsaktion lehnte sich die italienische Intelligenzia gegen den Ausschluss Roberto Savianos („Gomorra“, 2006) von der Liste der geladenen einhundert Autor/inn/en aus Italien gegen die ministeriale Auswahl auf. Schließlich durfte der neapolitanische Anti-Mafia-Aktivist Saviano doch – während Desiati selber wie die rund 90 offiziell geförderten italienischen Autor/inn/en in dem vom italienischen Architekturbüro von Stefano Boeri entworfenen italienischen Pavillon auf der Buchmesse, der einer italienischen Indoor-Piazza als „typisch“ (Kritiker meinen: „klischeehaft“) urbanistischem, sozialem Treffpunkt nachempfunden worden war, oder in der „Agora“ auftraten – am Stand des PEN Berlin in Halle 3.1, auf Einladung der Schriftstellervereinigung und seines deutschen Verlags Hanser über das „Schreiben in illiberalen Zeiten“ sprechen.
Neben Igiaba Scego (KulturPort.De berichtete), Francesca Melandri, Giulia Caminito und Mattia Insolia bezieht auch Mario Desiati in der „Arte“-Doku vor der Kamera dazu Stellung, wie unkritisch und einseitig derzeit geschichtliche Narrative öffentlich bedient werden. Die filmische Momentaufnahme illustriert die augenblickliche Lage Italiens „zwischen“ dem ehemaligen linken römischen Arbeiterviertel Garbatella – in dem (Ironie des Schicksals) Meloni aufwuchs, und wo heute noch ein kritisch-solidarisches Miteinander von Kreativen in Italiens Hauptstadt gelebt wird – auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Einflussnahme Melonis auf die Kreativwirtschaft „von oben“ bis hinab in die Subkultur, dank des Aufstiegs der Fratelli d’Italia.
Bevor der nächste Italienschwerpunkt im Rahmen des internationalen Buchhandels vom 4.-9. Februar 2025 auf der Taipei International Book Exhibition in Taipeh, Taiwan stattfindet, sprechen wir mit Mario Desiati über das Lebensgefühl seiner Romanfiguren in „Spatriati“, dem zweiten auf Deutsch bei Wagenbach erschienenem Roman (nach „Zementfasern“, 2012; ital. Original: „Ternitti“, 2011), sowie über die Südfrage, das heutige Italien und sein Verhältnis zu Deutschland, den Deutschen und der deutschsprachigen Literatur.
Dagmar Reichardt (DR): In Ihrem Roman „Spatriati“ (Berlin, Wagenbach, 2024) präsentieren Sie uns eine ganz besondere Seelenlandschaft des italienischen Südens. Genauer gesagt erscheint in der intimen, gefühlvollen und spirituellen Landschaft, die Ihr Buch nachzeichnet, der Süden Italiens als komplex, einzigartig und wie in ein ganz neues Licht getaucht. Diese stimmungsvolle Ästhetik, die Sie dem Leser vermitteln, ist eine Post-Punk-Ästhetik, die zwischen rebellischer Postmoderne und einer Art „realistischem Futurismus“ für das dritte Jahrtausend oszilliert. In einer medienwirksamen Verflechtung scheinen alle Subjekte gleichzeitig „verbunden“ und doch „getrennt“, d.h. enthaltsam, abstinent und voneinander entfernt zu sein. Sie verwenden eine sehr visuelle Sprache und einen Stil, der sowohl lakonisch als auch feurig ist. Das dichotome Flair, das Sie kreieren, ist gleichzeitig leidenschaftlich und desillusioniert, fesselnd und nüchtern, sehnsüchtig und fatalistisch, und mündet insgesamt in einen frischen, spritzigen, spannenden, packenden Schreibstil. Dieser Mix, diese Hybridität und Bandbreite machen „Spatriati“ so reizvoll: Die Lektüre ist ein aus dem Leben gegriffenes Vergnügen und regt gleichzeitig zur Selbstreflexion an.
Was meinen Sie: Wie lässt sich Ihr Roman treffend bezeichnen? Welche Art „Soulscape“ wollten Sie einfangen? Welche „alten“ (auch stereotypen) Aspekte des italienischen Südens wollen Sie dem Leser mit Ihrem Werk näherbringen, und welche Eigenschaften des fernen italienischen Südens, der wenig interessant – für Italiener, für Europäer, für den Leser – ist, wollen Sie hinter sich lassen, überwinden, umkodieren oder erneuern? Gibt es Aspekte des Südens, die Sie umdefinieren oder zumindest in Frage stellen möchten, wie z.B. das Klischee eines „verlorenen“ italienischen Südens: rand- und rückständig, lahm, eintönig, öde, abgehängt, desolat und weit entlegen?
Mario Desiati (MD): Ich meine, bestimmte Klischees sind bereits von anderen Intellektuellen und Schriftstellern vor mir hinreichend revidiert worden. Einer davon ist der Protagonist des letzten Kapitels, vor dem ich mich in den „Notizen aus dem Schreib- oder Geisterzimmer“ verneige. Nämlich der apulische Philosoph und Soziologe Franco Cassano, der 1996 in seinem Meisterwerk „Il pensiero meridiano“ (Deutsch etwa: „Gedanke und Geist des Südens“) schrieb, dass alles, was als „rückständig“, „eintönig“ oder „weit entlegen“ – um Ihre Worte aufzugreifen – gilt, stattdessen eine Chance zur Entwicklung sein kann.
Es ist kein Zufall, dass der erste Satz von Cassanos soziologischem Traktat mit dem provokativen Imperativ „Wir müssen so langsam sein wie ein alter Zug auf dem Lande...“ beginnt, gefolgt von einem Lobgesang auf die Langsamkeit, auch wenn sich das heute wie der Prolog zu einem Text über eine Wachstumswende – Stichwort: „degrowth“ – anhören mag. In Wirklichkeit tritt Cassanos Abhandlung für eine Momentaufnahme der unbestreitbaren Vorteile ein, die der Sorgfalt oder Aufmerksamkeit für Menschen und Dinge entspringen. Was Cassano vor fast dreißig Jahren hier umschrieben hat, ist im Laufe der Jahre zu einem Lebensmodell und auch zu einem politischen Modell geworden, mit dem sich verschiedene Südländer, darunter auch Schriftsteller, auseinandergesetzt haben. Wenn ich meinen Roman mit einem Wort zusammenfassen müsste, würde ich den Begriff „Rhythmus“ wählen und auf den Zeitfluss verweisen, mit dem die Figuren in dieser von mir geschriebenen Erzählung ihre Entscheidungen koordinieren. Claudia und Francesco sind zwei ungewöhnliche Charaktere, die versuchen, „den Bäumen einen Namen zu geben“, wie Cassano sich ausdrückt.
DR: In seinem dritten Kapitel mit dem Titel „Die Grenze denken“ (italienisch: „Pensare la frontiera“) beschäftigt sich Cassano intensiv mit dem Begriff von Grenzen und widmet der „Ambivalenz der Grenze“ (italienisch: „L’ambivalenza della frontiera“) sowie der „Entwurzelung“ und dem „Westen“ (italienisch: „Lo sradicamento e l’Occidente“) jeweils eigene Abschnitte. Was Ihren – schönen, weil symptomatischen – Titel „Spatriati“ betrifft, so frage ich mich, ob der „Verlust“ der „Heimat“ tatsächlich ein solch gravierender Nachteil ist. Oder wie sehen Sie diese „postmodernen Nomaden“, diese „entwurzelten“ Globetrotter und Herumtreiber, die Sie so wohlwollend, warmherzig und menschlich „nahbar“ beschreiben? Bedeutet heimatlos zu sein nicht auch, mit sich selbst im Reinen zu sein, frei über einen Raum zu verfügen, in dem man über sich selbst und andere nachdenken und sich ungehindert verwirklichen kann, ohne dass man sich einem vorgegebenen sozialen System anpassen muss? Was für ein Leben führen diese jungen Auswanderer oder „Umherirrende“: Genießen sie ihre grenzenlose Freiheit oder haben wir es hier mit einer „Lost“-Generation zu tun? Sind sie eher auf der Suche nach ungehinderter persönlicher Entfaltung oder nach einer lebenswerten Zukunft für alle?
MD: Die Idee der „Spatriati“ ergibt sich gerade aus dem umstrittenen Wort „Heimat“, denn in meinem Dialekt ist „spatriato“ nicht nur jemand, der weggeht, sondern vor allem jemand, der eine vorherrschende Idee verrät, sich einer Konvention, die die Ordnung der Gemeinschaft, in der man lebt, aufrechterhält, entgegenstellt. Ein „Spatriato“ ist jemand, der keine Familie hat, keinen festen Wohnsitz besitzt, offensichtlich nicht einmal über einen festen Arbeitsplatz und eine klare sexuelle Identität verfügt. Als ich mit dem Schreiben dieses Romans begann, war ich solch ein Auswanderer oder Aussteiger. Das heißt, einer, der das Land verlassen hatte, und mir hing – und hängt noch heute – diese „irreguläre“, expatriierte, aus der Art schlagende Komponente an. Ohne dieser identitären Facette wäre ich vielleicht nicht in der Lage gewesen, den Roman zu Ende zu schreiben. Was die Überlegungen betrifft, die Ihre zuletzt gestellten Fragen implizieren, so möchte ich vorausschicken, dass ich kein Soziologe oder Wissenschaftler bin und dass ich im Roman ganz allgemeine Empfindungen und Wahrnehmungen darstelle. Ich blicke hoffnungsvoll auf die jungen Menschen, die, auch wenn sie dafür nicht reisen oder auswandern müssten, die Tücken des Systems erkennen, in dem sie aufgewachsen sind, und versuchen, es zu ändern, indem sie es nachhaltiger gestalten.
DR: Sexualität ist dabei ein zentrales Thema für Ihre „Spatriaten“, „Spatrioten“ oder „Spatriati“. – Ist auch der Verlust der sexuellen Unschuld eine Beeinträchtigung? Oder bedeutet Sex in erster Linie Fortschritt, Befreiung, Selbstfindung? Welchen Wert messen Sie den sexuellen Episoden innerhalb des Erzählrahmens Ihres Romans bei?
MD: Sexualität ist ein zentrales Thema der Menschheit. Ich mag das Tabu nicht, das sexuelle Fragen umgibt. Ich denke dabei an Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906), als der Protagonist versucht, sich selbst darüber klar zu werden, worauf sich sein Begehren richtet, und feststellt, dass angesichts der Unzulänglichkeit der Zeichen und der Vielfalt der Sinne Worte nicht ausreichen. Magris schreibt in „Der Ring der Clarisse“ (1987; italienisches Original: „L’anello di Clarisse“, 1984), dass jener Sex, der Musil beschäftigt, einem Chaos von undeutlichen, nicht objektiven Trieben gleichkäme, sei er doch nichts anderes als eine Chiffre der Seele und ihrer unerforschten Tiefen schlechthin. Eben diese „Tiefen“ durch die Erzählung ans Licht zu befördern und das zum Vorschein zu bringen, was zuvor unsichtbar war, stellt für jeden Schriftsteller eine Herausforderung dar. Diese Art Sondierung ermöglicht es uns, die Ränder der Seele – das heißt jenes „Territorium“, das sich, laut Magris, „nicht auf eindeutige Beziehungen reduzieren lässt“ – auszuloten. Carl Gustav Jungs Schülerin Louise von Franz hat in ihrer Studie über Apuleius’ „Goldenen Esel“ etwas Ähnliches gesagt wie Musil und Magris. Sexuelle Fantasien erlauben uns, das Gebiet der Seele zu erforschen. Das Dunkle ans Licht zu bringen ist für viele, die schreiben, ein grundlegendes Anliegen.
DR: Apropos „Territorium der Seele“: Was bedeutet Ihnen dann „der Süden“ in diesem Zusammenhang? Würden Sie ihn als Ihre Heimat bezeichnen? Verbinden Sie mit ihm eine bestimmte Hoffnung, die möglicherweise einem Akt der Auflehnung oder des Protests entspringt? Fühlen Sie sich als Botschafter oder als Beschützer des Südens? Oder sind Sie ein stolzer Kritiker des Südens? Was braucht der Süden oder was will er loswerden? Und worin besteht sein geheimnisvolles Faszinosum?
MD: Ich glaube, es gibt viele Süden, sofern wir unter Süden eine gemeinsame Vorstellung von Weltanschauung, Leben und Vision verstehen wollen. „Mein“ Süden ist mit der Idee eines multiethnischen Apuliens verbunden, das ich – der gebildete Leser möge es mir nachsehen – als das Zentral- oder „Mitteleuropa des Meeres“ auffasse. Ein Land des Transits für verschiedene Ethnien, Kulturen und Religionen. Jede einzelne hinterlässt etwas, was man später in kulturellen und sprachlichen Spiegelungen wiederfindet. Apulien ist ein Grenzland, es hat eine Form, die einer Brücke ähnelt, eben jener Brücke, die den Osten mit dem Westen verbindet.
DR: Sehr schöne Metaphern sind das: eine multiethnische apulische „Brücke“ und der Süden als eine solide „gemeinsame Vorstellung von Weltanschauung, Leben und Vision“! – Sie sind in Apulien geboren und in Locorotondo sowie Martina Franca aufgewachsen, leben heute zwischen Italien und Deutschland, und pendeln zwischen dem Süden und dem Norden: Fühlen Sie sich dabei oft „fremdbestimmt“? Oder welche andere Formel verwenden Sie, um Ihr Sein, Ihre biografische und kulturelle Identität zu lokalisieren?
MD: Ich betrachte mich als einen „Mitteleuropäer des Mittelmeers“. Es ist kein Zufall, dass sich Dutzende von Kulturen und Sprachen durch Apuliens Geschichte hindurchziehen: Die Spuren vieler Völker sind geblieben, etwa die der Griechen, Araber, Franzosen, Deutschen, Orthodoxen und Katholiken, aber auch die der jüdischen oder balkanischen Kultur sowie die der Sinti und Roma. Spuren dieser Vermischungen zeigen sich heute noch etwa in den Dialekten und sogar in den Mundarten provenzalischer Sprachminderheiten wie im italienischen Celle und Faeto, oder im Griko [ein griechisch-italienischer Dialekt; A.d.R.]. Apulien ist ein „Mitteleuropa des Mittelmeers“, aber wir schämen uns oft ein wenig dafür, weil wir lieber eine „reine“ Identität besitzen, eine Zugehörigkeit zu einer Wurzel haben würden, die ganz anders wäre als ihr wahres Wesen. Stattdessen sind wir die am wenigsten Reinen von allen. Wenn ich etwas über meine kulturelle Biographie erzählen wollte, dann würde ich den Status der Menschen aus Apulien genau als den eines Expats bezeichnen – also als denjenigen eines „Spatrianers“ oder „Spatriato“ – beinhaltet er doch Eigenschaften des Unregelmäßigen, Unreinen, aber auch Kontaminierten.
DR: Als jemand, der aus Apulien stammt und, wie Sie sagen, ein grenzüberschreitender „Mitteleuropäer des Mittelmeerraums“ ist, sich demzufolge positiv als „unrein“ und „Auswanderer“ bezeichnet, haben Sie doch bestimmt eine besondere Beziehung zu Albanien, oder? Was verbinden Sie mit den sogenannten Italo-Albanern in Apulien: Sprechen – oder lesen – Sie, als Apulier, Arbëreshë? Gibt es eine Beziehung zwischen Kolonialismus, Minderheiten- oder „subalternen“ Kulturen (wie Gramsci sagen würde) und Ihren „Spatriati“? Ich frage das auch, weil sich Apulien – und die „Apulier“ – auf der Grundlage der Magna Graecia herausgebildet haben. Ich frage mich, inwieweit wir auf kultureller Ebene definieren können, worin die postkoloniale Identität der Region Apulien besteht. Gilt deren „Emanzipation von der Vergangenheit“ auch für andere italienische Regionen? – Welche der zwanzig italienischen Regionen ist mit Apulien am ehesten vergleichbar? Erzählen Sie uns ein wenig über „Ihr“ Italien, das – wie ich annehme – ein „südliches“ Italien ist, oder irre ich mich?
MD: Wie bereits erwähnt, fühle ich mich mit diesem Thema angesichts der verschiedenen Kulturen, die meine Region geprägt haben, sehr eng verbunden. Es gibt ein Apulien vor und nach 1991, als Zehntausende von Albanern an der apulischen Küste landeten. Höhepunkt war der August 1991: Die „Vlora“ lief mit 20.000 Menschen im Hafen von Bari ein. Eine immer noch unvorstellbare Zahl. Die Apulier reagierten, indem sie die albanischen Flüchtlinge willkommen hießen, ganz im Sinne des Bischofs von Molfetta, Don Tonino Bello [1935–1993, katholischer italienischer Bischof und Präsident der internationalen katholischen Friedensbewegung Pax Christi Italien; A.d.R.]. Nach einigen unvermeidlichen Spannungen zwischen Apuliern und Albanern setzte sich bald die Integration durch, und viele der durch die Auswanderung der Italiener entleerten Städte bevölkerten sich neu. Ich habe immer öffentlich gesagt, dass wir Apulier den Albanern viel zu verdanken haben, weil wir gegenläufige Blicke über unser Land austauschen konnten. Für uns Apulier waren diese Tage so ähnlich wie die Herbsttage 1989 in Berlin für die Deutschen, als sich Ost und West umarmten und nach langer Zeit erstmals wieder zueinanderfanden.
DR: Dann lassen Sie uns kurz bei Berlin bleiben und über diesen Austausch „gegenläufiger Blicke“ zwischen Ihnen und Deutschland sprechen! In der italienischen Version von „Spatriati“ sind drei der insgesamt sieben Kapitelüberschriften (einschließlich des Epilogs) auf Deutsch verfasst: „Ruinenlust“ (vierter Teil), „Sehnsucht“ (fünfter Teil) und „Torschlusspanik“ (sechster Teil).
Was verbinden Sie mit der deutschen Sprache? Was zieht Sie am Norden, an Deutschland an, und welche Beziehung haben Sie zur deutschen Kultur? Wie kam es zu dieser Wahlverwandtschaft? Und wie passen die beiden Hälften Ihres Romans zusammen – die erste Hälfte über das Erwachsenwerden im Süden und die zweite Hälfte über Berlin als Paradebeispiel eines nordeuropäischen Schmelztiegels? Woraus besteht die „Brücke“, die Martina Franca (oder auch Locorotondo) mit Berlin verbindet, beziehungsweise worauf basiert sie?
MD: Auf einer großen Bewunderung für die Literatur und deutsche Sprache. Insbesondere für deren Wortschatz, deren Wirkmacht und einzelne Wörter, mit denen Konstruktionen gebildet werden können, die wiederum komplexe Bedeutungen hervorbringen. Außerdem war Berlin als „Stadt der Mauer“ genau der richtige Schauplatz, um die Geschichte zweier Menschen zu erzählen, die versuchen, ihre inneren Mauern, mit denen sie aufgewachsen sind, einzureißen. Wie gesagt, haben der Fall der Berliner Mauer und der Fall der Grenze zwischen Albanien und Italien viel gemeinsam. Dort wurden zwei Teile derselben Stadt wiedervereinigt; hier wurden zwei frontale, sich zusammensetzende Blicke zusammengeführt.
DR: Wie nehmen Sie persönlich als Schriftsteller und Reisender „zwischen“ diesen beiden Welten die deutsch-italienischen Beziehungen wahr? Wie blicken Sie aufgrund Ihres neuen deutsch-italienischen Lebensstils auf das Nord-Süd-Verhältnis?
MD: Ein berühmtes Klischee besagt, dass die Deutschen die Italiener lieben, aber nicht schätzen, die Italiener die Deutschen schätzen, aber nicht lieben. Ich glaube nicht, dass man persönliche Erfahrungen oder politischen Opportunismus verallgemeinern kann, aber an den Deutschen habe ich immer ihr abrufbares Bewusstsein für die eigene Geschichte und für die Fehler ihrer Vorfahren bewundert. Das ist insofern gut, dass es den jüngeren Generationen das Leben erleichtert: Sie müssen sich keine Schuldfragen stellen, die sie nicht selbst zu verantworten hätten.
DR: Wo Sie gerade die „jüngeren Generationen“ ansprechen: Soziologisch gesehen gehören Sie als zwischen den Jahren 1965 und 1980 Geborener zur Generation X, die zwischen der Generation der – vorangehenden – Babyboomer (der Jahrgänge 1946-1964)) und der – folgenden – Millennials oder Generation Y (der Jahrgänge 1981-1996) anzusiedeln ist. Douglas Coupland hat in seinem postmodernen Bestseller „Generation X: Tales for an Accelerated Culture“ (1991) die Generation X über deren „Lessness“ (d.h. ihren Verzicht auf Überfluss und gesteigertes Konsumverhalten) versucht zu charakterisieren. Nicht ohne Ironie prägte er den Begriff der „Schlüsselkinder“: Während beide Eltern als Doppelverdiener zu arbeiten pflegten, wurden die „Gen X kids“ zwar weniger intensiv betreut und erzogen, waren andererseits aber auch schon in jungen Jahren selbstbestimmt und autonomer. Haben Sie mit „Spatriati“ einen Generationenroman geschrieben?
MD: Ich mochte den Begriff „Generationenroman“ nie, aber die Ironie des Schicksals hat es gewollt, dass ich ihn auf die Buchrückseite ausgerechnet in dem Text wiederfand, mit dem mein italienischer Verlag „Spatriati“ einem breiten Publikum vorgestellt hat. Die Kunst, den Rückseitentext für ein Buch zu verfassen, ist komplex und wird oft unterschätzt: Zuweilen legen dabei die selbstbewusstesten Autoren persönlich Hand an. Aber man ist immer gut beraten, diese Arbeit Lektoren zu überlassen, die den Finger am Puls jener Sprache haben, die ganz anders beschaffen ist als die des Romans, den der Autor geschrieben hat. Um eine alte Debatte aufzugreifen, ähnelt die Frage nach der Definition eines Generationenromans zudem ein bisschen der Frage danach, wie man einen Roman überhaupt definieren kann, aber die Bezeichnung des Generationenromans impliziert gleichzeitig, dass in dieser Geschichte eine Figur auftritt, die stellvertretend für eine ganz bestimmte Zeitspanne steht.
Als ich jung war, liebte ich es, mich in einem Buch wiederzuerkennen, das als Generationenroman bezeichnet wurde, weil ich beim Lesen in der Geschichte nach Zügen meiner sich verändernden Jugend, meiner Konflikte mit der Welt und mit den Menschen, die älter waren als ich, suchte. Doch als „Generation“ bezeichnet man sowohl die Gesamtheit der Menschen etwa gleichen Alters als auch die aller Menschen, selbst unterschiedlichen Alters, die während eines bestimmten Zeitabschnitts leben. Einige Wissenschaftler sind sich darin einig, dass es sich dabei um den zeitlichen Abstand zwischen der „Reife“ der Eltern und der „Reife“ der Kinder handelt, wobei sich die Frage stellt, wann die sogenannte „Reifezeit“ eigentlich beginnt. Nach Ansicht von Fachleuten wie dem Psychoanalytiker Christopher Bollas – der in einem symbolträchtigen Kapitel von „Being a Character“ (1992) aufschlussreiche Seiten über den Begriff der Generation verfasst hat – entspricht die „Reife“ dem Alter von etwa zwanzig Lebensjahren.
Aber damit nicht genug: In den letzten anderthalb Jahrhunderten wurde ein sehr kurzes Segment verwendet, um die verschiedenen Generationsintervalle voneinander abzugrenzen. Bücher können von derart eingegrenzten Zeiträumen beeinflusst worden sein, aber ich glaube, dass Bücher letztlich immer mehreren Zeiten angehören: der Zeit des Autors, der des Protagonisten und der des Lesers.
DR: Der Leser bildet sich sicherlich seine eigene Vorstellung von einem Buch, das gewisse Zeitgrenzen einhält oder überschreitet. Auch Literaturpreise – von denen es in Italien auf regionaler Ebene zahlreiche gibt, auch wenn es in der Nachkriegszeit nur wenige von ihnen auf die internationale Bühne geschafft haben – können die Perspektive eines Lesers beeinflussen. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Literaturpreise? Der Strega-Preis wird seit 1947 Jahr für Jahr in Rom verliehen: Hat sich für Sie etwas geändert, nachdem Sie ihn 2022 für „Spatriati“ erhalten haben? Und beeinflusst Sie der Preis jetzt bei der Ausarbeitung Ihres nächsten Buchprojekts?
MD: Ich bin kein Leser, der sich nach der Vergabe von Literaturpreisen richtet, um ein Buch zu lesen. In der Vergangenheit habe ich mich mit meinen Büchern an Preisverleihungen beteiligt, wenn es der Verlag wollte oder, wie im Fall des Strega-Preises, weil mich einige Juroren vorgeschlagen hatten. Der vorherrschende Geist ist dabei der des Spiels, sicher eines ernsten Spiels, aber immerhin auch nur eines Spiels, dessen Ergebnis man mit olympischem Sportgeist zu akzeptieren hat. Im Fall des Strega-Preises habe ich den ersten Entwurf meines neuen Romans für ein paar Monate unterbrochen, aber inzwischen die Arbeit längst wieder aufgenommen. Der Strega-Preis hat „Spatriati“ neue Lesekreise erschlossen und Leser dazugewonnen, die den Roman sonst nie gelesen hätten. Das hat auf jeden Schriftsteller mit Sicherheit einen stimulierenden Effekt. Aber natürlich bin auch ich an erster Stelle ein Leser und erst dann ein Schriftsteller, und eigentlich hat fast keiner meiner Lieblingsschriftsteller im Laufe seines Lebens je einen Preis oder eine Auszeichnung erhalten.
DR: Vielen Dank für Ihre Antworten und Ausführungen! Wir freuen uns, dass Sie und Ihre zahlreichen italienischen Schriftstellerkolleg/inn/en sich für die Freiheit der Kultur in Italien durchsetzen konnten und zum zweiten Italien-Auftritt auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse – 36 Jahre nachdem der erste Italienschwerpunkt in der Messegeschichte 1988 stattgefunden hat – nach Deutschland gekommen sind, um Ihren Kontakt mit dem deutschsprachigen Lesepublikum zu pflegen. Bis bald in Berlin, Rom, Apulien, Taipeh oder in einem anderen literarischen Kontext und sowohl Ihnen als auch allen Bücherfreunden weiterhin gutes Lesen, Spaß am Schreiben und viel Erfolg!
Mario Desiati: „Spatriati“
Roman (aus dem Italienischen übersetzt von Martin Hallmannsecker
Wagenbach, 2024)
- Weitere Informationen (Verlag)
- Mario Desiatis Webauftritt im Rahmen der Frankfurter Buchmesse:
- Hinweise zur Buchmesse Frankfurt (Ehrengast 2024 Italien)
- Der Ehrengast Italien auf der Buchmesse 2024 (mit einer Neuerscheinungsliste aller über 100 aus dem Italienischen ins Deutsche neu übersetzten Titel, die bei rund 60 Verlagen erscheinen)
Mediatheken-Videos:
„Kulturkampf auf Italienisch“ – Doku (arte, D 2024, 53:26 Min.)
„Der Ehrengast Italien“ (ttt – Titel, Thesen, Temperamente) – kulturpolitische Kurzreportage vom 20.10.2024 (verfügbar bis 20.10.2025)
Mario Desiatis 2021 geschriebener Roman „Spatriati“, der 2022 mit dem Strega-Preis ausgezeichnet worden ist und nun unter dem gleichen Titel auf Deutsch (und Englisch) vorliegt, erzählt die Geschichte der zwei jugendlichen Protagonisten Francesco Veleno und Claudia Bianchi, die in Apulien in beengten Patchworkverhältnissen aufwachsen und sich danach sehnen auszubrechen, einen eigenen unkonventionellen Lebenswandel zu führen und die Freiheit sowohl des Scheiterns als auch des Andersseins für sich in Anspruch zu nehmen. Nach dem Schulabschluss ziehen beide getrennt voneinander ins europäische Ausland und treffen sich in Berlin wieder. Hier leben die rebellischen Freiheits- und Querdenker aus Martina Franca eine bislang unbekannte sexuelle Freizügigkeit aus und eignen sich eine neue Sprache, Denkweise und Kultur an. Desiati kehrt mit seinen beiden jungen Glückssuchern den deutschen Arkadientopos nicht nur geographisch um: Statt wie die Deutschen ihr Glück im archaischen Süden zu suchen, suchen diese beiden Südländer ihr Glück im diversen, postmodernen, norddeutschen Berlin.
Die Geschichte enthält offensichtlich autobiographische Elemente ihres vielseitig engagierten und kulturell aktiven Autors aus Apulien, der selbst aus der Kleinstadt Martina Franca wegzog, um für längere Zeit in Deutschlands Hauptstadt Berlin zu leben. Hier entdeckt Desiati das ideale urbane Setting für sein Werk: Sein Berlin ist hybride, metrosexuell und als Phoenix aus der Asche Inbild eines perpetuellen Umbruchs und Wiederbeginns. In der deutschen Romanübersetzung sind leider die letzten zehn Originalseiten des Romans auf eine einzige zusammengestrichen worden. Seinem ambivalenten, zwischen Desillusion und Hoffnung schwankenden, in Berlin Weißensee 2019 abgefassten Romanende hat Desiati jene ursprünglich weit ausführlicheren, zwischen materieller und spiritueller Realität hin und her springenden, als separates Kapitel erscheinenden „Notizen aus dem Schreib- oder Geisterzimmer“ mit einer bestimmten, dezidiert künstlerischen Absicht hinzugefügt. In der deutschen Version stellt Desiati Robert Walsers (1880–1942) Erzählung Der Spaziergang (1917) als literarische Vorlage vor allem dem postmodernen Gegenentwurf eines Meridian-Konzepts aus der Feder des süditalienischen Soziologen und Politikers Francesco Cassano (1943–2021) an die Seite. Die deutsche Wagenbach-Ausgabe enthält dem deutschen Leser jedoch zahlreiche weitere kulturelle, literarische und sprachliche Besonderheiten, Inspirationsquellen und „Seelenlandschaften“ im Anhang vor, die Desiati seinem italienischsprachigen Publikum im Originalkapitel proaktiv zur Verfügung gestellt hat: von Leopardi, über Tondelli, Kafka und Pažitnov sowie diverse Filme und Musikstücke bis hin zu bekannten und unbekannten süditalienischen Autor/inn/en wie Marniti, Verga oder Ruggeri.
Diese Kurzfassung des deutschsprachigen Schlusskapitels ist (neben dem Weglassen eines Inhaltsverzeichnisses) ein qualitativ empfindlicher verlegerischer Lapsus, denn die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ wird dadurch – als zentrales Romananliegen – vereitelt und dem Leser die Möglichkeit genommen, literarisch und kulturell Neues aus einem fremdsprachlichen Kontext für sich zu entdecken. Am Ende der emotionalen, einnehmenden und wirklichkeitsnahen Geschichte der zwei Protagonisten, die von Neugier, Nostalgie, Vitalität, intimen Gedanken und plötzlichen Entwicklungen durchdrungen ist, wechselt in diesen „Notizen“ die Erzählerstimme von der männlichen Hauptfigur (Francesco) zur Stimme des Autors selbst (Mario Desiati). Auf einer erzählerischen Metaebene präsentiert letzterer dem Leser des italienischen Originals einige literarische, intertextuelle, transkulturelle und autobiografische Überlegungen, um ihm die kulturellen Hintergründe der Handlung und den Aufbau des Romans zu erklären. Erst in Desiatis Anmerkungen aus seinem alltäglichen, transmedialen und literarischen „Geisterzimmer“ wird der „Geist“ des Romangeschehens interpretatorisch deutlich und die Gedankenwelt dieses postmodernen Schriftstellers konkret und transparent. Wie sein jugendlicher Held Francesco bewegt sich der Autor selbst in einem lebendigen glokalen Umfeld, das Apulien mit der deutschen Hauptstadt Berlin und anderen geografischen und/oder fiktiven Orten überbrückend verbindet.
Erst dank dieser von Desiati uns direkt mitgeteilten privaten und intellektuellen Beweggründe, wird er selbst für den Leser als „freier und expatriierter Schriftsteller“, wie Desiati sich selbst bezeichnet, sicht-, nah-, greif- und verstehbar. Seine Blütenlese gebildeter Details, persönlicher Interessen und verschiedener Informationen, die eine Reihe von Daten, Hinweisen, Anekdoten und Leseanregungen in der Originalfassung enthalten, erschließt uns die ganze Fülle, innovative Breite und transkulturelle Kraft seines lebendigen, belesenen und ebenso bewussten wie dynamischen, ansonsten schwer klassifizierbaren Werks, das Desiati allen Seelenverwandten, Gleichgesinnten und – im übertragenen Sinn – „Südländern“ gewidmet hat, wo auch immer deren (derzeitige) Heimat sein mag. Diese eint das „aushäusige“, „ent-heimatete“ Grundgefühl der „Spatriati“, das sich aus Bruchstücken der Attribute des „Nicht-Ausgerichteten“, Irregulären, Vagabundierenden oder Desorientierten und Prekären zusammensetzt. Als Substantiv ist ein „Spatriato“ demnach als jemand, der sich in den beruflichen, moralischen, sexuellen, religiösen oder institutionellen Rahmen nicht wohlfühlt zu beschreiben.
Dieses Lebensgefühl schriftstellerisch einzufangen, stilistisch zu prägen und neu zu codieren entspricht, auch gemäß unseres hier geführten Gesprächs, Desiatis schriftstellerischer Absicht. Aus der Perspektive des Schriftstellers zeichnet sich die semantische Bedeutung des Titels durch weitere Nuancen aus, die das Unsichere, Orientierungslose, Umherirrende, Betäubte einschließen, in manchen Fällen sogar den Zustand eines Waisen: „patria“ (deutsch wörtlich: „Vaterland“) – so schreibt Desiati in den „Notizen aus dem Schreib- oder Geisterzimmer“ der Originalfassung, jenseits des „Plots“ – kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Land der Väter“. Von daher kann der Auswanderer oder „Expat“ oder „Expatriierte“, also aus der Heimat „Weggegangene“ oder „Heimatlose“, auch jemand sein, der ohne Vater geblieben ist oder nie einen hatte.
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