Literatur

Der Rabe, der mich liebte“ ist die tragische Geschichte des Sudanesen Adam Ingliz, der sich – nach mehreren abgelehnten Asylanträgen – auf den illegalen Weg nach Europa macht.

 

Adam ist nicht allein. Sein Freund Al-Nur begleitet ihn. Doch irgendwann verlieren sie einander aus den Augen. Als sie sich zwei Jahre später wiedersehen, ist alles verändert: Adam erkennt seinen Freund nicht mehr. Er lebt als Obdachloser in Graz. Er ist verrückt. Und er ist schon wieder verschwunden. Al-Nur begibt sich auf die Suche nach dem verlorenen Freund. Leider vergeblich: Adam stirbt auf dem Weg zurück, am Anfang des Ameisenweges, auf dem Heimweg in den Sudan.

 

Mehrstimmige Lebensgeschichte eines Migranten

Adam ist oder besser war Der Rabe, der mich liebte. So nannte ihn Zarah Farah, die Adam im Dschungel von Calais kennen und lieben lernte. Zarah ist eine der Stimmen, mit deren Hilfe uns in diesem Buch Leben und Tod des Adam Ingliz geschildert und ans Herz gelegt werden. Eine andere Stimme ist die von Muwanza aus Kenia, der ebenfalls (weitgehend) zu Fuß über den Ameisenweg geflüchtet ist und dafür zwei Jahre und fünf Monate benötigt hat. Mama Eva ist eine weitere Stimme. Eigentlich hat Eva mit sich selbst genug zu tun, vor allem mit der Erinnerung an ihr verlorenes Kind; Kind einer flüchtigen Schwangerschaft, von der sie nicht einmal sagen kann, wer der Vater des Kindes war. Dennoch oder gerade deshalb kümmert sich Eva um Adam und sorgt im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten wie eine Mutter für ihn.

 

Der Rabe COVERDieses Buch ist eine eindringliche Erzählung, ein berührender Augenzeugenbericht. Ein Bericht über Sein und Nichtsein, über Leben und Sterben eines Menschen, dem wir lesend begegnen, dem wir uns lesend annähern. Wir erfahren hier Wesentliches zum Thema Migration und zwar weitaus eindringlicher, als Radio und Fernsehen uns trotz all der tagtäglichen erschreckenden Töne und Bilder vermitteln können. Das liegt auch an der bildhaften, ehrlichen, nicht manierierten Sprache, die Abdelaziz Baraka Sakin zu eigen ist. Erzählt wird zudem eine zu Herzen gehende Geschichte von Menschen auf der Flucht, von sogenannten Raketen, die (noch) ohne Status in der Illegalität leben. Wir wussten, dass mit Rakete ein Flüchtling gemeint war, der gerade in Europa angekommen ist und noch keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung, keine Unterkunft und keine Adresse besitzt, ein Mensch, der in der Luft hängt zwischen seinem Ursprungsort, dem er entkommen, ist, und seinem angestrebten Ziel und der niemals wieder zurückkehren würde. All diesen Menschen begegnet der Schriftsteller mit großer Empathie, die wir Lesenden uneingeschränkt teilen.

 

Einer von ihnen ist Adam Inglitz. Der Philologe aus dem Sudan hat ein einziges Ziel: Er will Professor für Sprachwissenschaften in Oxford werden. Und zwar nur dort und nirgendwo anders. Nicht ein einziges Mal hatte er sein Glück in Frankreich, Österreich oder Deutschland probieren wollen, wo sein Asylantrag möglicherweise angenommen worden wäre. Er wiederholte immer nur ein Wort, trotzig, beharrlich und mit einer unergründlichen Hoffnung: Ingliz. So lange, bis ihm ein fliegender Händler im Dschungel von Calais den Spitznamen Adam Ingliz (England) verpasst. Um sein Ziel zu erreichen, hatte Adam den Sudan verlassen und Europa auf dem Ameisenweg durchquert, eine Strecke, die in keiner Landkarte der Welt verzeichnet und der Geografie unbekannt ist. […] Dieser Weg treibt manchmal seine Scherze mit den Flüchtlingen, spielt ein falsches Spiel mit ihnen und ziert sich wie eine kokettierende Frau.

 

Geflohen war Adam mit seinem Freund aus Kindheitstagen Al-Nur. Jener hatte Glück gehabt: sein Asylantrag war angenommen worden. Jetzt ist Al-Nur routinemäßig (als selbstständiger Schrotthändler) aus Paris kommend unterwegs, als er zufällig in Graz am Bahnhofseingang seinen verloren gegangenen Freund Adam wiedertrifft. Er erkennt ihn sofort, obwohl Adam sich in den zwei Jahren, die sie sich aus den Augen verloren hatten, sehr verändert hat. In der rechten Hand hielt er eine fast heruntergebrannte Zigarette […]. Die linke hatte er ausgestreckt und bettelte damit die Leute um Geld an. So beginnt der Bericht von Al-Nur. Diese Wiederbegegnung endet im Nicht-Wieder-Erkennen durch Adam, im Wiederverschwinden von Adam.

 

Anders als Al Nur hatte Adam kein Glück: Nach vielen vergeblichen Versuchen, England zu erreichen, ist er verrückt geworden an der Welt. Am liebsten würde er in ein Paralleluniversum gehen und dort leben, erzählt er Mama Eva und zeichnete eine Linie über dem Horizont, ein Fenster, hinter dem sich das vermeintliche, gewünschte Paralleluniversum befindet. Es ähnelt der Welt, in der wir leben, aber es ist nicht diese Welt. Es existiert parallel zu ihr. Nur die Raben leben in beiden Welten und können ganz einfach von einer in die andere Welt wechseln, wann immer sie wollen. Einmal, in Venedig beim Taubenfüttern hatte Adam zu seinem Freund Al-Nur gesagt, Tauben stammen von Raben ab. Aber die Tauben lieben die Sanftmut und die Unterwürfigkeit, während die Raben die Rebellion und die Weisheit lieben, weil sie klüger sind und einen reineren Geist haben. Raben und Tauben sind so weit voneinander entfernt wie Lehm und Keramik. Raben haben es Adam schon in der Kindheit angetan, vor allem das Poe-Gedicht Der Rabe, das er schon als kleiner Junge auswendig kannte.

 

Einmal, im Dschungel von Calais, da ist ein Rechtsanwalt aus Syrien als Gesprächspartner der beiden Freunde anwesend. Der Anwalt behauptet von sich, er kenne sich mit dem Gesetz aus: Weder das britische noch das französische Gesetz kriminalisiere die Flucht oder verbiete es auf irgendeine Art und Weise, betont er, weder über Land noch durch die Luft oder übers Meer. Migration sei ein legitimes Menschenrecht, das in der internationalen Charta der Menschenrechte niedergeschrieben stehe. Genauer gesagt, eine illegitime Migration gebe es nicht. Flucht sei kein Verbrechen, das vom Gesetz bestraft werde, sondern die Inanspruchnahme von Bewegungsfreiheit…

 

Es geht in diesem Buch um Flucht, um Entscheidungen, um die Liebe im Allgemeinen und im Besonderen, um das Dublin-Verfahren, um Schleuser und Raketen, Asylgesetze, Asylanträge und Abschiebungen, um das Leben im illegalen Raum am Rande der Gesellschaft, um fehlende Versicherungen und Sozialhilfe, aber auch um das Geheimnis einer weißen Plastikblume. Es geht um Leben, Liebe, Tod. Man fand den Leichnam auf dem felsigen Ufer des Flusses Kainach östlich von Graz, um ihn herum mindestens zehn krächzende Raben, die die Bauern daran hinderten, sich der Leiche des Afrikaners zu nähern. Sie erschwerten später auch die Arbeit der Polizei. […] Todesursache war der Verzehr von hochgiftigen Pilzen. So steht es geschrieben im ersten Drittel des Buches.

 

So schlimm kann Heimweh sein. So ungewiss die Zukunft. So gewiss das traurige Ende. So in dieser Erzählung von Abdelaziz Baraka Sakin. In seinem Heimatland ist der Großteil seiner Bücher verboten. In Europa gilt er als eine der bedeutendsten Stimmen der arabisch-sprachigen Literatur. 2012 verließ der Autor den Sudan und ging ins Exil nach Österreich. 2022/23 war er Stadtschreiber von Graz. In dieser Zeit entstand „Der Rabe, der mich liebte“. Zum Glück für uns Leser*innen. Denn trotz aller Tragik ist dies ein schönes Buch, einfühlsam übersetzt von Larissa Bender.


Abdelaziz Baraka Sakin: „Der Rabe, der mich liebte“

Übersetzt aus dem Arabischen von Larissa Bender

Klingenberg Verlag. Roman
136 Seiten, Hardcover, fade
ngeheftet
ISBN 978-3-903284-27-2

Weitere Informationen (Verlag)

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