„Zum Ausruhen ist mir die Prosa lieber, für neuen Input die Lyrik.“ Oder: „… und plötzlich rieche ich den Duft von warmem Stein.“
Heute, am 21. März jährt sich der „Welttag der Poesie“ zum 25. Mal. Der Tag wurde 2000 von der UNESCO ausgerufen und wird seitdem jährlich gefeiert. Gewürdigt werden soll mit diesem besonderen Tag der Stellenwert der Poesie. Erinnert werden soll auch an die Vielfalt des Kulturguts Sprache und die Bedeutung mündlicher Traditionen.
Anlässlich des „Welttags der Poesie“ fragten wir die Bochumer Autorin Anja Liedtke über ihr persönliches Verhältnis zu Poesie, Lyrik und Sprache. Das Gespräch mit Anja Liedtke führte Marion Hinz.
Marion Hinz (MH): Lyrik gehört neben Epik und Dramatik zu den drei literarischen Hauptgattungen. Den Begriff Gedicht verwenden wir heute für poetische Texte, die zur Gattung der Lyrik gehören. Lyrische Texte wiederum sind in gebundener Rede verfasst, Prosa zeichnet sich durch ungebundene Rede aus. Prosa ist also nicht strukturiert, weder durch Reime noch durch Verse oder Rhythmus (Metrum). In Ihren jüngsten Texten findet sich sowohl Prosa als auch Lyrik. Ihre Prosa ist hier sehr stark lyrisch geprägt. Da stellt sich mir die Frage: Was ist für Sie ein „richtiges Gedicht“?
Anja Liedtke (AL): Ein Gedicht zeichnet sich für mich durch Verknappung aus. Es sucht die Essenz des Erlebten, Erfahrenen, Gedachten, des Lebens.
MH: Bekannt geworden sind Sie mit längeren Prosatexten. Jetzt schreiben Sie vor allem kürzere Texte mit lyrischem Charakter und Gedichte. Wie ist es dazu gekommen?
AL: In meinen Romanen habe ich innere Konflikte und Gesellschaftskonflikte gelöst. Nach dem letzten Roman war ich frei. Endlich konnte ich tun, was ich immer schon wollte: In die Natur gehen. Sie riechen und befühlen. Das Wasser der Ruhr umfloss meine Haut, das weiße Hermelin in der Schneelandschaft ließ mich staunen, ich genoss die Natur, um sie in meiner Erinnerung zu bewahren, und meine Erinnerung funktioniert am besten, wenn ich aufschreibe, was ich erlebe.
Landschaftsschilderungen bildeten bereits den Hintergrund meiner Romanhandlungen, insbesondere in „Stern über Europa“, einer Utopie über die sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft. Einige breiteten sich zu eigenständigen Reiseerzählungen aus. Schließlich suchte ich eine Literaturform, in der die Natur ihr Eigenleben entfalten kann wie die Libelle ihre Flügel nach dem Schlüpfen. Mit der Gattung „Nature Writing“ habe ich diesen Traum verwirklicht.
MH: Fällt es Ihnen leichter, Prosa zu schreiben oder fließt Ihnen Lyrik leichter aus der Feder?
AL: Das Prosaschreiben bin ich von jeher gewohnt. Die Lyrik ist neu für mich. Ich habe immer gesagt, ich schreibe niemals Gedichte. Aber die Natur bietet eine solche Vielfalt, die lässt sich nicht schildern. Da waren zu viele Dimensionen, zu viele Ebenen, zu viele Sinneswahrnehmungen, um sie linear aufzuschreiben. Was tun? Ich konnte nicht nur auswählen, ich musste auch verknappen und reduzieren, Essenzen suchen und finden. Auf diesem Weg bin ich zu Prosagedichten und Gedichten gekommen.
MH: Was bedeutet Lyrik allgemein betrachtet für Sie persönlich?
AL: Lyrik bietet mir die Möglichkeit, mich auf den bedeutenden Moment zu konzentrieren, ihn einzufangen ohne jegliches Drumherum. Ich atme ein und plötzlich rieche ich den Duft von warmem Stein. Im Prosatext würde dieser sofort überlagert von allen möglichen anderen Sinnesreizen. Nur das Gedicht kann allein diesen Moment herausgreifen und ihn zu der bleibenden Erinnerung machen – und zu einem Empfinden, das nicht mehr vergessen wird.
MH: Welche LyrikerInnen liegen Ihnen besonders am Herzen?
AL: Saigyō, Matsuo Bashō, Heinrich Heine, Rilke, Celan, Mascha Kaléko, Daniela Danz, Esther Kinsky, der Band Zwischengesang der GEDOK-Kollegin Ursula Contzen, mein Kollege Achim Stegmüller, mit dem ich den Band Von Hängen fallen – Meraner Sammlung publiziert habe.
Buchumschläge
MH: Ist Poesie immer von Prosa zu unterscheiden?
AL: Für mich sind die Grenzen fließend. Meine Lautmalereien, Sprachspiele und Rhythmisierungen tauchten zuerst in Prosatexten auf, bis sie sich immer mehr verknappten.
MH: Ist Nature Writing für Sie vor allem eine poetisch anzugehende, poetisch zu bewältigende Aufgabe?
AL: Über diese Frage muss ich erst einmal nachdenken. Ich stolpere, weil ich Nature Writing kaum als eine zu bewältigende Aufgabe ansehe. Noch nie ist mir eine Arbeit so leicht von der Hand gegangen. Ich habe mir keine Aufgabe gestellt. Ich habe angefangen mit dem, was meine Natur mir vorgab: Ich ging raus und genoss die Natur. Dann hörte ich in mir den Rhythmus des Gehens, die Geräusche um mich herum, denen ich Sprache zuordnete, sah die Farben, Formen und Bewegungen, die ich versuchte zu beschreiben. Das sang ich, bis ich zuhause war und es aufschrieb oder einen Pilz, eine Pflanze, ein Tier nachschlug und recherchierte.
Wenn mich ein Tier oder eine Pflanze fasziniert oder ich ihm oder ihr zum ersten Mal begegne, schreibe ich auch mal sachlich darüber. Zum Beispiel beobachte ich das Knicksen der Wasseramsel auf dem Stein, bevor sie sich mit einem Hechtsprung in den strömenden Fluss stürzt, um nach Kriebelmücken, Köcherfliegen, Würmern und Wasseramseln zu tauchen. Dabei verwendet sie ihre Flügel wie Flossen oder wir unsere Arme beim Brustschwimmen.
MH: Entstehen Ihre Nature Writing-Texte in der freien Natur oder am Schreibtisch?
AL: Ich wandere durch die Natur, das bringt nicht nur Sauerstoff ins Hirn und in die Blutbahnen, das regt auch alle Sinne an, und die bekommen mehr zu tun und werden stärker gereizt als indoor. Wörter und Sätze, die das Erlebte schildern wollen, bekommen durch das Gehen einen Rhythmus, und der Versuch, das Wahrgenommene zu beschreiben, wird zum Spiel. Dabei kommen Neuschöpfungen und ungewöhnliche Zusammensetzungen zustande. Insbesondere bei Farbadjektiven, aber auch bei der Suche nach präzisen Ausdrücken für Gerüche oder Gehörtes.
MH: Was bedeutet Ihnen die Natur?
AL: In der Natur spüre ich mich leben. Über natürliche Böden zu laufen, durchs Wasser zu schwimmen, Luft und Pflanzen zu riechen, Tiere zu hören, ist für mich Selbstzweck. Den Sinn meines Lebens sehe ich im Leben selbst. Um mich herum befühle, belausche, beobachte ich Tiere und Gewächse, deren Lebenszweck gleichfalls im Leben selbst besteht. Ich fühle mich zugehörig, in der passenden Gemeinschaft.
Anja Liedtke beim Beobachten von Tieren. Foto: privat
MH: Hat sich Ihr Blick auf die Natur durch das poetische Schreiben verändert?
AL: Blick und Erleben intensivieren sich noch einmal durch das Notieren.
MH: Ist Nature Writing für Sie auch eine politische Aufgabe, z.B. im Verhältnis Mensch und Natur?
AL: Im August letzten Jahres hatte ich ein Stipendium in Meran, die Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte. Ich schrieb unter dem Motto: Natur ist ein Menschenrecht. Damit meine ich: Qua seiner Geburt auf diesem Planeten müsste eigentlich jeder Mensch nicht allein das Recht auf frisches Wasser und reine Luft haben, sondern auch das Recht auf Ruhe, Rückzug, Raum, sich zu bewegen, und das Recht auf ein Stück Land, auf dem Menschen gesunde Nahrung für sich oder andere anbauen können. Außerdem das Recht auf die Begegnung mit Pflanzen und Tieren, die wir brauchen, um uns sowohl abzugrenzen als auch zu identifizieren und unser eigenes Menschsein zu definieren.
MH: Möchten Sie mit Ihrem Schreiben etwas verändern?
AL: Rund um Meran beobachtete, belauschte und befühlte ich die vom Verschwinden gezeichnete Natur, um sie zu genießen, zu bewahren und das Erlebte in poetischer Sprache weiterzugeben.
Wenn ich die Natur an der Ruhr schildere, hoffe ich auf eine stärkere Identifikation mit dem Fluss als Lebens-, Genuss-, Kultur- und Gesundheitsraum. Die Natur rückt in den Fokus als ein Ort, an dem man sich treffen kann, wo gemeinsam etwas unternommen werden kann, ohne dass dafür bezahlt werden muss. Es kommt bestenfalls zu einer Wechselwirkung: Die Natur tut gut und wir tun der Natur gut.
Ich hoffe, Tiere und Pflanzen, die um meine MitbürgerInnen herum leben, vertrauter zu machen. Denn nur was bemerkt wird, bekannt und beliebt ist, wird von Bürgerinnen und Bürgern geschützt. Ich vermittle aber Flora, Fauna, Geologie und Geografie nicht auf anstrengende oder abstrakte Weise, sondern künstlerisch, spielerisch als Freizeitbeschäftigung. Leserinnen oder Hörerinnen auf poetischen Spaziergängen stärken einfach nur ihre Sinneswahrnehmung. Das dient der größeren Aufmerksamkeit gegenüber ihrer Umwelt, aber auch gegenüber ihrer eigenen Gesundheit. Die aufmerksame Wahrnehmung von Geräuschen, Licht, Temperatur und anderer Umweltbedingungen führt unmittelbar zum Erkennen, was dem Einzelnen guttut, entspannt und als ästhetisch empfunden wird, bzw. was stört.
MH: Welche Bedeutung hat Sprache für Sie?
AL: Sie ist ein Mittel des eigenen Ausdrucks, der Persönlichkeit, des Empfindens. Andere Lebewesen haben andere Ausdrucksmöglichkeiten, wir haben die Sprache. Sie befähigt mich, mich mit anderen zu streiten, Standpunkte und Interessen zu klären, Konflikte zu lösen, Situationen und historische Ereignisse zu analysieren. Wenn sie missbraucht wird, manipuliert sie, schafft Feindbilder, schafft ein „Wir“ gegenüber einem „Die Anderen“, schafft Herrschaft und Demütigung, Entwürdigung.
MH: Ist Ihnen das gesprochene Wort genauso wichtig wie das geschriebene?
AL: Mir persönlich ist das geschriebene lieber, weil es mir mehr Zeit zum Denken lässt. Kurznachrichten und E-Mails konterkarieren den Vorteil allerdings wieder und sorgen gern für Missverständnisse. Muss es schnell gehen, hilft das Ansehen der Person in einer face-to-face-Situation oder zumindest das Hören der Stimme am Telefon.
MH: Was ist Ihnen wichtiger: die Lyrik oder die Prosa?
AL: Beide sind mir gleich wichtig. Zum Ausruhen ist mir die Prosa lieber, für neuen Input die Lyrik.
MH: Glauben Sie an die Wirkung von Büchern, an die Wirkung von Sprache?
AL: Ich bin in den 70er und 80er-Jahren aufgewachsen und hatte 68er Lehrer. Die Bücher, die wir in der Gesamtschule lasen und die ich in der Schulbibliothek fand, haben meine Einstellungen maßgeblich geprägt, ebenso wie meinen Lebenslauf. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Nachkriegsliteratur mehr zur „Entnazifizierung“ und zur Demokratiefähigkeit beigetragen hat als Vorträge und Autoritäten.
MH: Was wünschen Sie sich am Welttag der Poesie?
AL: Ein Bildungssystem, das größten Wert aufs Lesen von Büchern legt.
Welttag der Poesie
Die zentrale Veranstaltung wird vom Haus für Poesie, Knaackstr. 97 (Kulturbrauerei), in 10435 Berlin organisiert.
Weitere Informationen (Haus der Poesie)
Anja Liedtke: „Der Himmel ist altes Silber“
Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
188 Seiten, 2023
ISBN: 978-3-910732-08-7
Anja Liedtke/Achim Stegmüller/Sabine Hey: „Von Hängen fallen“ – Meraner Sammlung
Achter Verlag, Weinheim
112 Seiten, 2022
ISBN. 9783948028251
Weitere Informationen (Verlag)
Die Autorin Anja Liedtke wurde 1996 mit dem renommierten Bettina-von-Arnim-Preis ausgezeichnet. Seitdem erhielt sie zahlreiche Stipendien. Bis vor kurzem veröffentlichte sie ausschließlich Prosa: Romane und Reiseerzählungen über Israel, über David Bowie, eine sozial und ökologisch nachhaltige Gesellschaft und über die Folgen des Nationalsozialismus für ihre Generation. Nun sind fast zeitgleich zwei Bücher ganz anderer Art erschienen. Die Autorin hat sich von der Langprosa abgewandt und der Kurzprosa zugewandt, hat kurze, lyrisch geprägte Texte geschrieben. Vor allem aber hat Anja Liedtke sich der Natur zugewandt, dem Nature Writing. Nachzulesen ist dies in „Der Himmel ist altes Silber“ (Dittrich Verlag). Hier nimmt Anja Liedtke uns mit auf eine nunmehr literarische Reise durch Flora und Fauna. Sie tut dies auf unterschiedlichste Art und Weise: mal stimmungsvoll-selbstvergessen, mal konkret-reflektierend, mal phantastisch-schwelgend, mal nüchtern-real beschreibend. Im Vorwort zu diesem Buch schreibt sie: „Momente höchsten Glücks sind mit dem Gehen in der Natur verbunden.“ Auch für uns LeserInnen eröffnen sich viele solcher Momente. Wir wandern lesend mit der Autorin durch die Natur. Wir genießen die aus der Natur heraus entstandenen Texte, die selbst dann lyrisch sind, wenn es sich augenscheinlich um Prosa handelt. Das gilt auch für „Von Hängen fallen“ (Achter Verlag). Hier verarbeiten Anja Liedtke und Achim Stegmüller in kurzen Prosatexten und mit Gedichten ihre Natur- und Kultur-Erfahrungen und Erlebnisse in Meran. Gemeinsam verbrachten die beiden den August 2022 in Meran innerhalb des Franz-Edelmaier-Residenz-Stipendiums für Menschenrechte. Auf diese Weise entstand ein nun schriftlich vorliegendes literarisches Gespräch über das Verhältnis von Mensch und Natur. Wobei die Texte sich stark unterscheiden, die Blickwinkel unterschiedlich und vielfältig sind. Sukzessive entwickelt sich in „Von Hängen fallen“ ein stimmiges Zwiegespräch zwischen Liedtke und Stegmüller. Die bildende Künstlerin Sabine Hey führt dieses Gespräch mit ihren Illustrationen weiter.
Weitere Informationen und die nächsten Termine für Lesungen.
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