Es klingt fast wie ein Wintermärchen: Vor über drei Jahrzehnten kam dem aus Sizilien nach Frosinone in Mittelitalien umgesiedelten Dichter und Romancier Giuseppe Bonaviri (1924-2009) eines Tages die Idee, seinem Nachbardorf Arpino ein Gedicht zu schenken. Es wurde der Auftakt zu einem großangelegten europäischen Lyrikprojekt: Ein einzigartiger öffentlicher Gedichtepark war geboren. 2021 feiert die Ortschaft Arpino nun schon das 37. Jahr von Bonaviris dichterischem Vermächtnis „Das Buch aus Stein”.
Freilich war es nicht irgendein Gedicht, das der ursprünglich aus Mineo – nahe Catania – auf Sizilien stammende Verfasser von über 60 Büchern – darunter allein elf Gedichtbänden – der Stadt Arpino 1984 geschenkt hat. Vielmehr vermittelt das Werk “Der weißeste Wind” (italienisch: „Il bianchissimo vento“) dem Leser jene typisch „kosmische” Atmosphäre, für die ihn Bonaviris Landsmann, Schriftstellerkollege und Mentor Elio Vittorini (1908-1966) breits in den 1950-er Jahren rühmte und förderte. Längst sind die poetischen Worte, die Bonaviri für „Der weißeste Wind” fand, von beflissenen Steinmetzen aus dem ländlichen Umland in Stein gemeißelt. Sie legten 1984 den Grundstein für einen Gedichtepark, der im Herzen der Kulturlandschaft der Ciociaria, vor den Toren Roms, im Laufe der folgenden 25 Jahre entstehen sollte. Bonaviris Gedicht wurde in einen weißen Steinblock mit schwarzen Lettern eingelassen, neben dem Stadttor – der Porta Napoli im Viertel „Quartiere Colle” – in der Altstadt von Arpino aufgestellt, mit Pomp und Würde offiziell eingeweiht und stolz der Öffentlichkeit präsentiert.
Der gebürtige Sizilianer und ab den 2000er Jahren wiederholt für den Nobelpreis vorgeschlagene Lyriker verband mit seinem transkulturell ebenso einfallsreichen wie literarisch nachhaltigen Arbeitskonzept für „Das Buch aus Stein” (1984-2009) – italienisch: „Il libro di pietra” – die glokale Intention, sein Gedicht als Gründungstext für ein kollaborativ ausgelegtes „Buch” im übertragenen Sinn zur Verfügung zu stellen. Verschiedene Gedichte aus unterschiedlichen Federn und Kulturen wurden ab 1984 in regelmäßigen Abständen in Stein gehauen und in Bonaviris Nachbardorf Arpino im öffentlichen Raum – zur Freude der Bürger und Besucher – ausgestellt.
Es war allerdings auch nicht irgendein Dorf, dem Bonaviri seine ersten Zeilen für dieses Vorhaben vermachte: Vielmehr ist Arpino der Geburtsort des antiken Rhetorikers, Autors und Staatsmanns Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.). Ihm zu Ehren treffen sich seit 1980 in Arpino alljährlich Schulklassen aus aller Herren Länder in Begleitung ihrer Lateinlehrer, darunter auch viele deutsche Schüler, um ihre Lateinkenntnisse mit anderen Schulkameraden zu messen, sie zu verbessern, den Klassenzusammenhalt zu stärken und neue internationale Freundschaften zu schließen. Noch heute reisen jeden Frühling die Klassen im Rahmen des „Certamen Ciceronianum Arpinas” – kurz: „Certamen“ – an und nehmen in Arpino, wo einst Cicero auf den Dorfstraßen spielte, an einem weltweiten Lateinwettbewerb teil. Dessen junge Preisträger werden am Ende unter freiem Himmel mitten auf dem Rathausplatz unter den Augen der örtlichen Autoritäten feierlich gekürt.
Zeitgleich lud Bonaviri – gewissermaßen als poetisch-kreatives Workshop- und Rahmenprogramm des „Certamen“ – ab 1984 im Auftrag der Stadt Arpino regelmäßig einen ausländischen Autor nach Arpino ein, um sich von der mediterranen Landschaft anregen und zu einem poetischen Zeugnis inspirieren zu lassen. Je nach Absprache kamen die Dichter für ein oder zwei Wochen in die Ciociaria, traten als Gast von Bonaviri sowie der Stadt Arpino im Zuge der Feierlichkeiten für das Schüler-„Certamen” mit Lesungen oder Vorträgen in Erscheinung, wurden vor Ort gastfreundlich bewirtet und mit der Umgebung kulturell vertraut gemacht, bevor (oder schon während) sie dichteten. Insgesamt folgten Bonaviris erstem Gedicht, das er 1984 mit dem sphärisch-ländlichen Titel “Der weißeste Wind” ebenso naturverbunden wie zielsicher überschrieben hatte, bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2009 auf diese Weise weitere neunzehn Dichtersteine – davon einer sogar von einem Papst: dem polnischen Papst Johannes Paul II. (1920-2005), mit bürgerlichem Namen Karol Józef Wojtyla.
Stadtpanorama von Arpino von der höhergelegenen Akropolis seiner Altstadt aus gesehen. Foto: © Piergiorgio Mariniello. Quelle: Wikipedia
Rechnet man Bonaviris eigenen Beitrag mit, so entstanden insgesamt 20 Gedichte, die den folgenden Sprachräumen zuzuordnen sind: Italienisch, Russisch, Schwedisch, Chinesisch, Spanisch, Arabisch, Tschechisch, Englisch, Französisch, Polnisch, Rumänisch, Deutsch, Ungarisch sowie Portuguiesisch und 2009 schließlich – als Abschlussgedicht – ein auf der italienischen Dialektalsprache aus Arpino verfasstes Poem. Weitläufig sind sie an einzelnen Standorten über das Städtchen von rund 7.000 Einwohnern sowie in der fußläufigen Umgebung verteilt. Dabei ließ Bonaviri alle fremdländischen Beiträge – zusätzlich zu jeder individuell gestalteten Steinplatte mit dem Originalwortlaut – auf einer zweiten skulpturalen Tafel ins Italienische übersetzen, somit bilingual zu spiegeln und permanent aufstellen. So entstanden mit den Jahren eine Reihe polyglott beschriebener Steinobjekte, deren melodische Zeilen noch heute wie ein stilles vielsprachiges Konzert durch die Straßen von Arpino schwingen, zum Flanieren, Schlendern und Spazieren einladen und den Alltag der Arpinobewohner und -gäste mit Poesie versüßen.
Ein Vierteljahrhundert lang engagierte sich Bonaviri hingebungsvoll für sein „Buch aus Stein”. Geschickt nutzte er die verjüngenden und aufstrebenden Bildungskräfte, die das Latein-Festival verströmte, für die eigene Sache: Literatur und Dichtkunst. Dabei standen ihm Cicero – als der berühmteste Sohn Arpinos – und die jugendlichen Besucher althumanistischer Gymnasien, die es aus der weiten Welt zum „Certamen” zog, hilfreich zur Seite. Ähnlich wie der Altphilologe Emanuele Narducci (1950-2007) das dynamische Geschehen vor Ort jeden Sommer mit einem wissenschaftlichen Kolloquium – dem sogenannten „Symposium Ciceronianum Arpinas” – auf Bildungsebene komplementär begleitete und in wiederkehrendem Turnus von 2001 bis 2006 auch veröffenlichte, verband Bonaviri die kulturellen Aktivitäten mit seiner Dorf-Verschönerungs-Maßnahme „Das Buch aus Stein”. Erst der frühe Tod des anerkannten Latinisten und Cicero-Spezialisten Narducci im Jahr 2007 setzte dem Forschungsformat ein vorzeitiges Ende, auf das zwei Jahre später auch der als vollendet befundene Abschluss vom „Buch aus Stein” durch Bonaviris Lebensende folgte.
Bonaviris kooperative Weltoffenheit, seine fremdländisch extrovertierte Neugier und poetische Ader waren ihm auf Sizilien bereits in die Wiege gelegt. Im Nordosten der Insel versammelten sich selbsternannte Mundartdichter aus der Gegend, so die Legende, bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Nähe seines Geburtsortes Mineo rund um einen Findling, den die einfache Bevölkerung – meist Bauern, die überwiegend Analphabeten waren – als „Dichterstein” („Pietra della poesia”) kannte. Das Zusammentreffen wiederholte sich auf der Hochebene von Camuti jedes Jahr im August zur Erntezeit. Gemeinsam wurde aus dem Stegreif deklamiert und Improvisiertes in Form eines Wettbewerbs vorgetragen: eine regionale Vorform des Slam-Poetry sozusagen. Den Rest des Jahres über diente er den Menschen als Wunschstein oder magisch beseelter Ort der Besinnung. Wenn sich eine Frau etwa ein Kind wünschte, kam sie zunächst hierher. Die orale Tradierung des mythischen Erzählens und literarischen Vortrags wurden durch die Geschichten, die Bonaviri von seiner Mutter in seiner Kindheit hörte, verstärkt. Als junger Arzt und späterer Kardiologe nahm er diese Erfahrungen im Herzen und Gedächtnis mit nach Oberitalien, wo er sich Mitte der 1950-er Jahre nach seiner Heirat und der Familiengründung in Frosinone in der Region Latium schließlich niederließ.
Mit fortschreitender Schriftstellerkarriere festigte der gebürtige Süditaliener hier eine hybride Bindestrich-Identität, die seinen Geburtsort auf Sizilien mit der Kulturlandschaft seiner neuen Lebenswirklichkeit in der Ciociaria verband. Diese äußeren Umstände, seine persönliche Sensibilität und sein künstlerisches Talent mögen dazu beigetragen haben, dass Bonaviri zu Beginn der Postmoderne das kollaborative, oxymorotische und synkretistische Konzept für „Das Buch aus Stein” in Arpino erfand. Dessen über dreißigjährige Erfolgsgeschichte ist Anlass genug, um im Folgenden einige übersetzerische und originale Kostproben sowie fotografischen und lyrischen Eindrücke rund um Bonaviris Gründungsgedicht, das für Kultur-Port.De zum ersten Mal auch auf deutscher Sprache veröffentlicht wird, ausschnitthaft genauer zu betrachten.
Giuseppe Bonaviri nebem dem legendären “Dichterstein” Anfang der 1970-er Jahre auf der Hochebene von Camuti, nahe seines Heimatorts Mineo bei Catania auf Sizilien (die Aufnahme stammt von einem unbekannten Fotografen um 1970). Quelle: Wikimedia
Der weißeste Wind
Es fiel der Mond in den Rivieto
wellenförmig, weißestens erhob sich
ein Wind. Das Alantkraut
erstaunt erzitterte. Die Frauen
legten Leinen auf den Felsen
um Lichtstrahlen aufzunehmen. Plötzlich
krähte der Hahn, blassbleiche Alte
betrachteten den Himmel
im Dunkeln. Die Schnecke, der Bauer
aus Arpino, die neunzigjährige Mutter
süß wie Honig, sahen sich
im Staub des Ytterbiums drehend
und im Mondgestein unseren
Satelliten über Gewässern.
Giuseppe Bonaviri (1984)
(Aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt von Dagmar Reichardt)
Giuseppe Bonaviri zu Gast am Romanischen Seminar der Universität Hamburg am 23.5.1990. © Heinz Willi Wittschier, Fotoarchiv Romanischer Autoren, Hamburg (1990)
Il bianchissimo vento
Cadde la luna nel rivieto
in onde, e venne bianchissimo
il vento. L’erba ínula
tremula si stupì; le donne
stesero lini controroccia
per assorbire lumi. Inaspettatamente
il gallo cantò, pallidissimi vecchi
guardavano il cielo
in tenebra. La chiocciola, l’arpinate
contadino, la novantenne madre
dolcezza di miele, vedevano
rotolarsi in polvere d’itterbio
e sassi lunari il nostro
satellite per acque.
Giuseppe Bonaviri (1984)
Das Gründungsgedicht „Der weißeste Wind” von Giuseppe Bonaviri (italienischer Originaltext von 1984) vor bewegtem Wolkengeschehen bei Sonnenuntergang und aufgehendem Mond (rechts oben) in einer künstlerischen Fotomontage des italienischen Fotografen und Graphikers Piero Luigi Albery von 2019. © Piero Luigi Albery (2019)
The Whitest Wind
Down plumped the moon in Rivieto’s
rills, and the wind sprang up
very white. The herb elecampane
was a-quiver astounded: women
spread linens on rocks
to mop up the lights. Out of the blue
the rooster crew. Very pale old men
in the shade checked
out the sky. The snail, the peasant
of Arpino, the mother on ninety,
sweetness of honey, tracked
as it cartwheeled in gadolinic dust
and lunar scree our
satelite through the waters.
Giuseppe Bonaviri (1984)
(Aus dem Italienischen ins Englische übersetzt von Sandy Hutchison)
Der deutsche Beitrag für „Das Buch aus Stein” von 2005: Das Gedicht „Bar Fabbrizio” hängt heute neben der zentral gelegenen Bar auf dem Rathausplatz von Arpino an einer Außenwand des exponierten Gebäudekomplexes auf deutscher und italienischer Sprache, verfasst vom Hamburger Dichter Matthias Politycki. © Piero Luigi Albery (2019)
Zu guter Letzt noch ein Nachtrag, um die Geschichte von Bonaviris Literaturpark und geistiger Hinterlassenschaft aus deutsch-europäischer Sicht abzurunden, wobei Literaturparks ein Format darstellen, das wir in Deutschland leider in dieser kreativen Form überhaupt nicht kennen. Eines der letzten großformatigen steinernen “Seiten” für das von Giuseppe Bonaviri initiierte Lyrikprojekt “Das Buch aus Stein” kam ein Jahr nach Papst Wojtylas Gedicht über den “Gott der Verbundenheit” (“Dio dell’Alleanza”) – 2004 hoch oben auf der Akropolis der Altstadt platziert – aus Deutschland. 2005 besuchte der Hamburger Dichter und Romanschriftsteller (“Herr der Hörner”, 2005) Matthias Politycki (geb. 1955 in Karlsruhe) auf Bonaviris Einladung erstmals das Städtchen Arpino und ließ sich vom geschichtsträchtigen Ort zu seinem deutschen Lyrikbeitrag anregen. Der Funke des “genius loci” sprang in der Bar auf dem zentral gelegenen Rathausplatz auf Politycki über. So betitelte er sein sowohl humoresk-ausgelassenes als auch selbstironisch-tiefgründiges Gedicht über Lebenslust und Vergänglickeit kurzerhand mit der in allen Sprachen verständlichen Überschrift “Bar Fabbrizio”. Darin greift Politycki als Hommage an Bonaviri den “Wind”, der “weiß zu ahnen” ist, in der 2. Strophe auf und setzt dem als “wilden Kerl in gelber Jacke, mit gelber Fliege, gelbem Schuh” auftretenden Freund Bonaviris (und dann auch Polityckis) sowie Mitbegründer vom “Buch aus Stein” seit den frühen Achtziger Jahren Massimo Struffi – seines Zeichens Senator auf Lebenszeit und langjähriger Kulturvermittler in leitender Funktion im Auftrag von Arpino – ein literarisches Denkmal.
Ein Jahr nach Polityckis Aufenthalt in der Ciociaria, als seine vor Ort allmählich reifenden Zeilen im Mai 2006 feierlich auf zwei Steintafeln – eine im deutschen Original und eine in italienischer Übersetzung – eingravierten Verse während des 26. „Certamen” eingeweiht wurden, lernte der deutsche Autor Giuseppe Bonaviri drei Jahre vor dessen Ableben in Frosinone noch persönlich kennen. Am 21. März jährt sich nun Bonaviris Tod zum zwölften Mal. Sein Gedichtepark hat ihn längst überlebt: „Das Buch aus Stein” gibt es jetzt schon mehr als drei Mal so lange. Dessen mannigfaltige, vielsprachige, polyphone, glokal-poetische Botschaften umwehen die Dorfgemeinschaft, den Parkbesucher und die europäisch-transkulturelle Lyrikszene weiterhin mit seiner Stille und Melodik. Die vielen leisen, einprägsam vernetzten und gefühlvollen Wortassoziationen der insgesamt zwanzig steinernen Gedichte in Arpino bezeugen, bestätigen und potenzieren Bonaviris Vermächtnis und Liebe zur Lyrik als einzigartiges Gemeinschaftswerk auf kaleidoskopisch-orchestrale Weise – jenseits von sprachlichen, ethnischen und sozialen Unterschieden – täglich aufs Neue.
Libro di Pietra in Arpino (Lazio/Italien)
- Weitere Informationen (Ital.) mit Lage und Abbildungen aller Bücher aus Stein: La documentazione del patrimonio culturale
- Weitere Informationen (engl.): The Stone Book
YouTube-Video:
Il Libro di Pietra ad Arpino – Un progetto ideato nel 1984 da Giuseppe Bonaviri e Massimo Struffi per la Città di Arpino (ital. 13:08 Min.)
Facebook-Video:
Rundgang durch den Gedichtpark "Das Buch aus Stein" in Arpino (mit Dokumentaraufnahmen von 1997-1998): https://www.facebook.com/watch/?v=1586984190842
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