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1985 erschien als einer der ersten Bände der „Anderen Bibliothek“ das Standardwerk über „Die Inquisition“ aus der Feder Charles Henry Leas (1825–1909). Lea war ein grundgelehrter amerikanischer Autor, der die infamen Prinzipien dieser Institution in einer kraftvollen Prosa auf den Punkt brachte: „Der Sohn mußte den Vater verraten, der Gatte ward schuldig, wenn er sein Weib nicht einem schrecklichen Tode auslieferte. Jedes menschliche Band wurde durch die Schuld der Ketzerei getrennt.“

In seiner ursprünglich dreibändigen Arbeit beschreibt Lea die „wilde Grausamkeit eines barbarischen Eifers, der so viele Jahrhunderte hindurch im Namen Christi namenloses Elend über die Menschheit brachte“.

 

Er bringt die Verhältnisse auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die Inquisition „ein beständiger Hohn auf jede Gerechtigkeit, ja vielleicht das ungerechteste Verfahren war, das menschliche Willkür und Grausamkeit jemals ersonnen haben“.

 

Das bedeutende Werk erschien in Deutschland nicht allein in der „Anderen Bibliothek“, sondern einige Jahre später noch dazu in einer Taschenbuchausgabe; aber leider sind heute beide Ausgaben vergriffen.

 

Obwohl wir seit langem wissen, was es mit der Inquisition auf sich hatte, besaß ich dereinst einen katholischen Freund – ganz nebenbei ein Bewunderer Adornos und dazu Arno Schmidts, der sich selbst „tapfer gottlos“ nannte –, der diese Perfidie ganz ernsthaft mit dem Hinweis verteidigte, dass es ja nicht die Kirche gewesen sei, die den Häretiker dem Feuertod am Pfahl überantwortet habe. Vielmehr sei dies die weltliche Gewalt gewesen, der die Kirche den Verurteilten zur freien Verwendung übergeben habe. Ihre Hände könne sie, die Kirche, deshalb in Unschuld waschen. So dieser junge Mensch in vollem Ernst unter dem Eindruck, den ein gewisser Pater Gottfried bei ihm hinterlassen hatte. Der große Philosoph Giordano Bruno, so ließ er mich wissen, habe eben ein „vermintes Feld“ betreten. Also selbst schuld! Das konnte ich natürlich einsehen: So einer musste verbrannt werden, am besten lebendig.

 

Mieth Ketzerflammen in Paris COVER

Der schreckliche Tod eines großen Mannes vollzog sich im Jahr 1600. Aber schon gute dreihundert Jahre zuvor, in der Blütezeit der Gotik, legte die Kirche und mit ihr die Inquisition in der Darstellung Leas endgültig jeden „Anschein der Mäßigung“ ab. In dieser Zeit, am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts, spielt der Roman des Tübinger Theologen Dietmar Mieth, dessen Thema die Verfahren gegen die Beginen und gegen Meister Eckhart sind. Von Meister Eckhart, einem der bedeutendsten Theologen und Philosophen seiner Zeit, ist es seit langem auch weniger Informierten wie dem Rezensenten bekannt, dass er es ganz am Ende seines Lebens mit der Inquisition zu tun bekam, und in dem Wikipedia-Artikel über ihn können wir uns sogar Bilddateien seiner Akten anschauen. Aber wer die Beginen waren und dass es auch gegen sie ging (Lea nennt sie „Begarden“), das hatte ich nicht auf dem Schirm. Dabei wird in guten Philosophiegeschichten wie etwa derjenigen Karl Vorländers die Beziehung Eckharts zu den Beginen sehr wohl dargestellt, und zwar im Zusammenhang mit der Bedeutung der deutschen Sprache, deren sich der Meister als erster großer Philosoph bediente.

 

„Die stärksten Anstöße“, schreibt Vorländer, wenn er die Bedeutung Eckharts für die Akzeptanz unserer Muttersprache in der Philosophie anspricht, „gingen von der Nonnenseelsorge aus, die die mit ihr Betrauten nötigte, sich der deutschen Sprache zu bedienen.“ In seiner Darstellung besitzt Eckhart eine Bedeutung, die meist für Martin Luther in Anspruch genommen wird: „Wie in Dante der Geist Italiens seine eigene Sprache schuf, so der deutsche Geist in Eckhart.“ Sein weibliches Publikum war ein Grund (wohl nicht der einzige…), dass Meister Eckhart auf Deutsch predigte, nicht wie die überwiegende Mehrzahl seiner Kollegen auf Latein. Auf Deutsch zu predigen, schreibt Vorländer, „war veranlaßt durch die starke religiöse Bewegung, die damals gerade in Frauenkreisen die Gemüter erfaßt und zu hochtheologischen Debatten und mystischen Spekulationen geführt hatte.“ Aber die Beginen – bescheidene Frauen, deren Tätigkeit wir heute als Sozialarbeit bezeichnen würden – stellten sich damit in Konkurrenz zu der katholischen Priesterschaft, die ihr Privileg der Bibelauslegung bedroht sah und ebenso anmaßend wie brutal antwortete. Grausam ist ein fast schon zu schwaches Wort, wenn es um das lebendige Verbrennen von Menschen geht, denen nichts vorzuwerfen war als eine – möglicherweise – im Detail andere Form des Glaubens. Wie schrecklich muss ein Tod gewesen sein, wenn die vorherige Erdrosselung noch heute als Akt der Gnade gilt?

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Die erste Hälfte des Romans von Dietmar Mieth handelt nur von den Beginen, nicht von dem Leben und den Gedanken Meister Eckharts. Das Buch besteht aus einer Abfolge meist kurzer Kapitel, die größtenteils die Form von eher trockenen Berichten besitzen, nicht etwa innere Monologe darstellen oder ein fiktives Geschehen, dargestellt aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers, womöglich in einer poetischen Sprache.

 

Wahrscheinlich lässt sich das meiste dessen, was wir hier lesen, tatsächlich mit Quellen belegen, denn der Autor ist ein ausgewiesener Kenner der Epoche. Gleich zu Beginn des Buches findet sich eine Liste von 28 Personen, deren Berichte an ein fiktives Tribunal zusammen den Roman ergeben. An der Spitze dieser Liste stehen der Papst, König Philipp IV., Meister Eckhart und endlich Königin Marguerite von Navarra (Verfasserin des „Heptaméron“, einer Novellensammlung). Königin Marguerite ist hier wichtig als die Leserin des Buches von Marguerite Porete, dem „Le mirouer des simples ames“, dem „Spiegel der einfachen Seelen“. Dieses Buches wegen wurde die Begine 1310 öffentlich verbrannt, aber ihr Werk ist erhalten, wenn auch nicht ganz vollständig im Original, so doch immerhin in einem größeren Teil und in einem späteren Französisch. Eigentlich stellt die Geschichte dieser bedeutenden Frau das Zentrum des Buches dar.

 

Zu Wort kommen vor dem Tribunal aber auch noch ganz andere Personen, vor allem Guillaume-Imbert von Paris, ein Dominikanermönch, seines Zeichens Großinquisitor in Frankreich, der sich in derselben trockenen und distanzierten Sprache äußert wie die anderen Figuren. Die Schilderung eines Geschehens aus den verschiedensten Perspektiven kann den einzelnen Figuren Gerechtigkeit widerfahren lassen, auch solchen, die eine so fragwürdige Rolle spielten wie ein Inquisitor. Nüchtern und faktenbezogen müssen sie sich äußern, denn sie legen ja im Rahmen eines juristischen Verfahrens Zeugnis ab, und emotional oder aufregend wird es deshalb trotz der Drastik des Geschehens wirklich nie. Vielleicht war das eine gute Entscheidung des Autors, denn welche Sprache könnte dem Geschehen gerecht werden? Wer will denn die Qualen eines Feuertodes beschreiben? Oder hätte sich Mieth daran versuchen sollen?

 

Hohn Das undenkbare Universum COVERMieth hat ein eher sprödes Werk vorgelegt, das die Aufmerksamkeit des Lesers fordert, wogegen, ebenfalls ein Kenner der Epoche und Meister Eckharts dazu, über diesen großen Menschen einen schmissigen Unterhaltungsroman mit einer philosophischen Note geschrieben hat. Thomas Hohns „Das undenkbare Universum“ betiteltes Buch kennt zum Beispiel die erlebte Rede – Meister Eckhart kommt uns als ein ganz normaler Mensch entgegen, auch wenn zwischen ihm und anderen Theologen von anspruchsvollen philosophischen Projekten die Rede ist. Aber manchmal geht auch er auf den Markt, und dann geschieht es…

 

Meister Eckhart „war ganz in Gedanken versunken. Bruder Horatio hatte letztens so eine seltsame Andeutung in Bezug auf Ibn Ruschd gemacht [den arabischen Philosophen Averroes], die etwas mit der Achtsamkeit auf das Jetzt zu tun hatte, auf der der Prior immer herumritt.“ Während er über das „nunc stans“, das „stehende Jetzt“, nachdenkt, rennt Eckart fast in eine Frau hinein, und als sie sich umdreht, „blieb die Zeit stehen. Es war, als ob um ihn herum alles weiterlaufen würde, er jedoch mit ihr in einer Blase gefangen war.“

 

Ich sehe einmal davon ab, dass das „stehende Jetzt“ ganz gewiss nicht der unerwarteten Begegnung mit einer verflossenen Liebe galt. Schlimmer: In einer „Blase“? Fehlt nur noch, dass der Autor von einer „Bubble“ schreibt! Es ist das Deutsch, nein der Jargon unserer Tage, in dem der Autor das Geschehen von vor einigen Jahrhunderten lebendig werden lassen möchte und auf diese Weise versimpelt. Nun, das kann natürlich nicht gelingen, nicht hier und auch nicht an anderen Stellen – Meister Eckhart tritt uns als ein sehr gewöhnlicher Mensch unserer eigenen Zeit entgegen, der sich ein wenig philosophische Gedanken macht.

 

Zurück zu dem Buch Mieths, in dem sich derartige Stellen nirgendwo finden, der sich aber auch nicht an der Nachahmung einer mittelalterlichen Sprache versucht, wie man sie in Heimito von Doderers „Dämonen“ findet. Dort lässt sich ein im altertümlichen Deutsch verfasster Bericht über die Hexenverfolgung nachlesen. Mieths Roman bietet einige wenige Beispiele, und so kann ich auf Marguerites eigenes Zeugnis verweisen – wohlgemerkt: dem Zeugnis einer Toten, denn sie ist ja bereits verbrannt worden: „Noch bevor ich vernichtet werde, bin ich zu Nichts geworden. Ich bin nicht mehr da, niemand kann mich erreichen, mich betören, mich zu einem falschen Leben wiedererwecken. Ich fühle das Fühlen, und wer fühlt, ist nicht tot. Nicht tot und doch tot? Nicht tot in der lebendigen Liebe, aber tot in der versteinerten Welt der verkleinerten Kirche.“

 

Unmittelbar zuvor, am Ende des Kapitels, in dem der Prozess gegen Marguerite geschildert wird, äußert sich ein Wachsoldat: „Ich wurde zur Wachablösung an einer Beginen-Wohnung abgestellt.“ In seinen Worten gibt der Platz, auf dem die Hinrichtung Marguerites – ihr grauenhafter Feuertod – vollzogen wurde, „ein prächtiges Bild“ ab. Der Glanz dieses Anblicks kann ihn aber nicht daran hindern, den schrecklichen Vorgang in sehr, sehr dürren Worten zu beschreiben: „Die Polizisten schaufelten die Holzstücke auf die Podeste. Sie gerieten in Brand und verhüllten mit dem aufsteigenden Rauch die Verurteilten. Ihre Schmerzen und ihre unterdrückten Schreie mischten sich mit dem lauten Knacken des Feuers.“

 

Wohl nicht jeder hätte in dieser Weise ein Autodafé geschildert, sondern viele Autoren mit einem literarischen Anspruch hätten sich daran versucht, die Sprache der Zeit nachzuahmen. Oder sie hätten sich in ein metaphorisches Vokabular geflüchtet. Eine ungefähre Vorstellung habe ich davon, wie Klabund, der expressionistische Autor der Zwanziger Jahre, sich dieser Thematik angenommen hätte. Aber wäre das passender gewesen? Ich weiß nicht, was hier angemessen ist. Die folgende Schilderung jedenfalls ist es ganz gewiss nicht – sie beschreibt eine Folterkammer der Inquisition und ist dem Roman Thomas Hohns entnommen:

 

„Die Luft war erfüllt von dem Geräusch brechender Knochen und dem unhörbaren Laut von Seelen, die wie trockene Strohhalme brachen, als ob sie von den Rädern eines Fuhrwerks zermalmt würden.“ Wenige Zeilen später werden die Vorlieben eines Inquisitors geschildert: „Er liebte es, wenn Frauen in der Blüte ihres Lebens den Brenneisen auszuweichen suchten, sie unter Hieben zuckten. […] Dann waren sie reif für das Feuer, für das lüsterne Vergnügen der Massen, die sich begierig an den grauenvollen Todeskämpfen weideten.“

 

Da ist mir die zurückhaltende Art Mieths weitaus lieber! Seinem Roman hat dieser Autor ein Gedicht vorangestellt, so dass ich zunächst eine eher poetische Ausdrucksweise erwartete – auch weil Meister Eckhart, ein großer Sprachschöpfer, Teil des Geschehens ist –, aber auch hier ist der Autor sehr zurückhaltend und nimmt die bekannten Topoi einer mystischen Sprache kaum auf. Wer nach der Lektüre des Buches zu dessen Anfang zurückblättert, stößt auf diese beiden Zeilen aus dem Gedicht von Nelly Sachs:

 

„Nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer

Das Feld des Vergessens.“

 

Noch im ersten Viertel des Buches sinniert ein Mönch namens Etienne: „Ist es möglich, sich die Zeit steil, als eine Säule, zu denken? Nicht als einen Fluss, der horizontal in eine Richtung treibt und dabei mäandert?“ Es hätte mir gut gefallen, wenn es in diesem Buch mehr Stellen gegeben hätte, die die Sprache und mit ihr eine andere Erfahrung thematisiert hätten. Bruder Etienne ist eine der wenigen Figuren, die so sprechen: „Die Zeitwolke zieht sich zurück. Manchmal sehe ich, Etienne, jetzt Bruder Paulus, eine Zeit-Säule, die von der Erde aufsteigt und sich am Himmel hält. Ich sehe eine steile Säule und einen unendlichen Horizont.“

 

In der Sprache der Mystik – Eckhart war der bis heute bedeutendste Mystiker deutscher Sprache, und in seiner Nähe bewegte sich ja auch Marguerite – in der mystischen Sprache spielt das Anhalten der Zeit und mit ihm der Blitz als Symbol einer nur sehr kurz währenden Erleuchtung der Welt eine bedeutende Rolle. Auch Hohn betont die Bedeutung des „Jetzt“ oder dessen „Erfindung“ schon im Untertitel seines Buches und kommt in seiner Geschichte immer wieder darauf zu sprechen.

 

Aber wenn mystische Erfahrungen geschildert werden, dann in der Lyrik. Wer in der deutschen Dichtung hätte sich sprachmächtiger dem Jetzt genähert als Gottfried Benn in einem der schönsten seiner „Statischen Gedichte“? „Ein Glanz, ein Flug, ein Feuer…“

 

Diese Thematik ist nicht peripher, denn Meister Eckhart war hochbedeutend für die Entwicklung unserer Muttersprache. Über sein Vokabular schreibt Rudolf Eucken in seiner „Geschichte der philosophischen Terminologie“, es sei „besonders ausgezeichnet durch die Kraft, mit der er den Gehalt des Inneren gegenständlich zu machen versteht. Die Gedanken und Empfindungen lösen sich gleichsam ab von ihrem Grunde, erhalten eine Seele eingehaucht und stehen lebend und handelnd uns vor Augen.“ Zu den Begriffen, die Eckhart der deutschen Sprache schenkte, zählt Eucken unter anderen „demüetikeit, einekeit, einvaltekeit“ sowie „ewikeit“, „gewordenheit“ und „herzelichkeit“. Auch „widerwertic“ oder „neigung“ werden ihm zugeschrieben. Aber hat wirklich er selbst diese Worte geprägt, oder finden sie sich nur zuerst in seinen Predigten, hatte er sie irgendwo gesammelt?

 

Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen lauten mag: Bereits als bloßer Sammler von Neologismen wäre Meister Eckhart hochbedeutend. Es ist gut, dass Dietmar Mieth auf sein Werk wie das Marguerite Poretes aufmerksam macht. Sie waren große Menschen.


Dietmar Mieth: Ketzerflammen in Paris

Verlag Der blaue Reiter

286 Seiten

ISBN 978-3933722881

 

Thomas Hohn: Das undenkbare Universum

Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt.

Acabus Verlag 2022

384 Seiten

ISBN 978-3862828210

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