Rembrandt van Rijn (1606-1669) war nicht allein einer der größten Maler seiner Zeit, sondern sein Name ist bis heute – dreihundertfünfzig Jahre nach seinem Tod! – ein Synonym für einen großen Künstler; und René Descartes (1596-1650) gilt vielen als der Vater der neuzeitlichen Philosophie – erst mit ihm nahm die intellektuelle Welt Abschied von der Scholastik des Mittelalters.
Was kann einen Autor dazu bringen, zwei zwar sehr bedeutende, aber eben auch grundverschiedene Menschen in einem Essay zu behandeln?
Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp folgt hier dem französischen Lyriker Paul Valéry (1871-1945), der die beiden Größen in einem Essay, den er angeblich im Nachtzug von Amsterdam nach Paris schrieb, zusammenbringt. Es sind zwei sehr große Menschen, die gemeinsam porträtiert werden, und wir sehen den einen wie im Spiegel: Wir denken an Rembrandt, wenn Descartes vorgestellt wird, und erleben den Philosophen als das Gegenbild zu dem Künstler. Ein hervorragendes Verfahren – die beiden waren mir noch nie so nahe wie in diesem Essay.
Der Inhalt des auf jeder Seite interessanten Büchleins ist nicht leicht zu referieren, weil der Autor seinem Thema entsprechend immer wieder von dem einen Helden zu dem anderen wechselt – und wieder zurück. Mit der kleinen Anzahl von Themen, die er behandelt, gelingt ihm zunächst eine lebhafte Signatur der Zeit, des Barock. Sodann erhalten wir einen lebhaften Eindruck von Rembrandts kommerziellen Strategien und Interessen wie auch von dem Leben im Verborgenen, das der menschenscheue Descartes führte. Vielleicht ist es die eigentliche Absicht des Autors gewesen, zwei Grundtypen des öffentlichen Lebens miteinander zu konfrontieren: den extrovertierten Maler und den zurückgezogenen Meisterdenker?
Es sind also zwei einander entgegengesetzte, aber eben auch aufeinander bezogene Charaktere und Lebensentwürfe, die für zwei Möglichkeiten des Menschseins überhaupt stehen. Denn beide Phänotypen gibt es auch heute, aber ob es sie schon zuvor gab, das steht dahin. Der heimatlos umherziehende Descartes scheint ein sehr moderner Mensch – gerade in seinem die Verborgenheit liebenden Leben –, und ähnliches gilt für Rembrandt, denn welcher mittelalterliche Künstler besitzt für uns ein Gesicht? Diese offensive und dabei doch immer maskierte, für die Öffentlichkeit hergerichtete Individualität findet sich erst seit der italienischen Renaissance, seit dem Dreigestirn Raffael, Leonardo und Michelangelo, oder in Deutschland mit Albrecht Dürer: mit jedem von ihnen verbinden wir ein Bild, aber vielleicht mit kaum einem Künstler vor ihnen.
Am überzeugendsten gelingt Kemp sein Pendeln bei dem Thema „Täuschung“, das deshalb nicht von ungefähr den Titel für das Buch hergab. Rembrandt, der geschäftstüchtige Malerstar, führte ein großes Atelier mit etlichen Mitarbeitern und Schülern, Descartes hingegen schätzte Anonymität und suchte die Einsamkeit. Selbstverständlich führte er einen ausgedehnten Briefwechsel, aber er ging die Straßen entlang, ohne dass ihn irgendjemand erkannte, und hat es entschieden abgelehnt, sich selbst in den Vordergrund zu drängen.
Anders als Rembrandt, dem Kemp einen „Hut-Tick“ attestiert, weil er sich selbst mit unzähligen verschiedenen Kopfbedeckungen abbildete und phantasievolle Verkleidungen über alles liebte, trug Descartes immer denselben Hut und dieselbe unauffällige Kleidung und kleidete sich schwarz wie ein Calvinist – der er doch gar nicht war. Und trotzdem schrieb er von und über sich selbst – aber es war ein Selbst, dessen Überlegungen jeder andere für sich in Anspruch nehmen durfte, ja sollte. Descartes‘ Motto – „Larvatus prodeo“ („mit einer Maske trete ich vor) – hätte eigentlich das Motto Rembrandts sein sollen, und es wird von Kemp auch wirklich für den Maler in Anspruch genommen.
Das Ich des Philosophen ist kein individuelles Ich, sondern eines, das ein Jeder für sich in Anspruch nehmen kann oder sogar soll; Rembrandt dagegen ging es um die Darstellung des Individuums, wie besonders Georg Simmel in seinen verschiedenen Rembrandt-Studien zeigen konnte. Was Simmel für die Porträts Rembrandts in Anspruch nimmt – dass ihr Gegenstand „die absolute Individualität der Person“, ist, „ihr Geworden-Sein“ –, das könnte niemals für Descartes gelten, dessen persönliche Erscheinung die Individualität leugnete, während seine Philosophie sein Ich in einem leiblosen Raum schob. Die Verkleidungssucht des einen, die ewig gleiche Tracht des anderen ließen sich als eine Bestätigung dafür sehen, dass es dem einen um die Individualität, dem anderen, um deren Gegenteil zu tun war.
Für einige Zeit lebten beide gleichzeitig in Amsterdam – der französische Aristokrat im selbstgewählten Exil, für Rembrandt dagegen war es die Stadt, wo sein Atelier stand und er viel Geld verdiente. Für den Naturforscher Descartes war Holland darüber hinaus der Ort, an dem er Wetterphänomene studierte, denn er war nicht allein ein bedeutender Mathematiker und großer Philosoph, sondern darüber hinaus auch an „Meteoren“ (= Himmelserscheinungen) interessiert. Kemp stellt seine äußerst subtilen Beobachtungen einer wechselvollen Realität auch im Bild vor (also in den Illustrationen seiner Abhandlungen) und vergleicht eine akkurate, mit exakten Linien operierende Illustration, auf der sich selbstverständlich keine Wolken finden, mit Rembrandts berühmter Radierung „Die drei Bäume“ von 1643.
Der Ausgangspunkt von Kemps Überlegungen ist die Bedeutung der Täuschung im Werk des einen wie des anderen. Descartes ging es darum, zu einer klaren und bestimmten und selbstverständlich richtigen Erkenntnis zu gelangen, wogegen seine Antipode Rembrandt „sich und seinen Schülern exakt zur selben Zeit eine Malweise antrainiert“ hatte, „Täuschungen möglichst überzeugend zu produzieren.“ Damit spielt der Autor auf die Trompe-l’œil-Malerei an, die illusionistische Malerei, die den gemalten Rahmen eines Bildes nutzt, um eine Figur scheinbar aus diesem Bild in die reale Welt entfliehen zu lassen. Sein Beispiel ist das „Mädchen im Bilderrahmen“ von 1641, in dem Rembrandts Modell seine linke Hand auf den (aber nur gemalten!) Rahmen legt. Für Kemp fängt „der marktgängige Illusionismus 1641“ eben mit diesem Bild an, und die Passagen, in denen er die Entwicklung dieser Bilder durch Rembrandt, Gerrit Dou, Frans Hals und andere beschreibt, gehören zu den stärksten des Buches.
„1641 ist insofern eine kleine Zeitenschwelle, als ein Philosoph und ein Maler parallel ein Trompe-l’œil einsetzen, für sehr verschiedene Zwecke freilich. Sie handeln darin übereinstimmend, daß sie die Täuschung ausnutzen – und zerstören, der Maler, der den systemischen Zusammenhang der täuschenden Elemente halbiert, der Philosoph, der sein Versuchsobjekt, das allen Sinnen so nahe Wachs, in seine unsinnlichsten, abstraktesten Reste ‚transmutiert‘.“
Rembrandt: Mädchen im Bilderrahmen, 1641. Frans Hals: Der lachende Kavalier. Wallace Collection London
In jenen Jahren schreibt Descartes seine schmalen, kristallklar argumentierenden Hauptwerke, den „Discours de la méthode“(1637) und die „Meditationen“ (1641). In diesen Büchern versucht der Philosoph, so fasst Kemp zusammen, „mit exorzistischem und ganz praxisnahem Furor alle Täuschungen und Irrtümer auszumerzen.“ In den „Meditationen“ finden wir eine ausführliche Schilderung, wie er allein in seinem Zimmer sitzt und über das Wachs einer Kerze meditiert, um auf diese Weise das Wesen der Materie zu erfassen. „Das Wachsexperiment“, kommentiert Kemp, ist „der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, die trügerischen Sinne insgesamt funktionslos zu machen“, also in der Nachfolge von Galilei dem Rationalismus und seinen Deduktionen das Feld zu bereiten: „Descartes wird sein Stück Wachs zum Schmelzen bringen, das ist bekannt.“ Ernst Cassirer, einer der besten Descartes-Kenner des vergangenen Jahrhunderts, schreibt zusammenfassend: „Er zerstört die Welt der Sinne und er negiert die geschichtliche Tradition. Er hebt die Geltung der Natur wie die der Kultur auf.“
Damit stufte Descartes die Bedeutung der Sinne und ihrer Erfahrungen in eben der Weise zurück, in der auch Galilei das getan hatte. In den Worten Kemps wird damit eine „metaphysische Wende“ eingeläutet, „die statt Physik Geometrie sagt“, weil sie nämlich von den „sekundären Qualitäten“, also von Farbe oder Geruch und damit von allem absieht, das nicht messbar ist. Eben diese Qualitäten werden insbesondere in der angelsächsischen Philosophie als subjektiv abqualifiziert. Und sie sind es auch, die in der Illustration der metereologischen Abhandlung Descartes‘ durch Abwesenheit glänzen. Die Vielfalt der von Augenblick zu Augenblick ihre Gestalt verändernden Wolken passt nicht in dieses Weltbild.
Bis heute dient Descartes wegen seiner ziemlich fragwürdigen Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans, der ausgedehnten Materie und dem raumlosen Geist, vielen Philosophen als Feindbild. Nicht allein Kemp stellt Descartes und Rembrandt einander gegenüber, sondern hier ging ihm Georg Simmel in seiner großen Studie von 1916 voraus. In diesem Buch verlieh er nicht allein seiner Bewunderung für Rembrandt Ausdruck, sondern spürte auch den Themen seiner Spätphilosophie nach – der Realität, der Individualität, dem Tod.
In unserem Zusammenhang wichtig ist Simmels Auseinandersetzung mit der cartesischen Vorstellung, nach der „uns das Seelische einer menschlichen Erscheinung auf eine ganz getrennte und andere Art als das Körperliche zugängig werde, daß wir dieses unmittelbar sehen, jenes aber nur mittelbar erschließen“. Dieser Gedanke, der aus der radikalen Trennung von res extensa und res cogitans folgt, lässt sich kaum mit unserem Erleben in Übereinstimmung bringen und führte Philosophie und Psychologie auf manche Abwege. Simmel möchte zeigen, dass es in den Bildnissen Rembrandts unmittelbar anschaulich wird, dass wir kein anderes Bild einer menschlichen Seele haben „als eben jene gegebene körperliche Anschaulichkeit.“ Wir sehen einen Menschen, und in seiner körperlichen Erscheinung erleben wir seine Seele. Wir schließen nicht auf sie zurück, sondern erfahren sie unmittelbar in der Haltung seines Körpers, in seinem Gesicht und in seinen Bewegungen.
Nur zu leicht vergisst man aber über der berechtigten Kritik an Descartes‘ Überlegungen, wie revolutionär seine Arbeitsweise gewesen ist. Hatten die Scholastiker die Thesen und Meinungen anderer Philosophen in ihren sehr, sehr trockenen Abhandlungen nacheinander aufgelistet, verglichen und miteinander ins Gespräch gebracht – viele philosophische Untersuchungen gehen bis heute nicht anders vor –, so besann sich Descartes auf den eigenen Verstand – und nur auf ihn. In seinem „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ überschriebenen Werk formuliert er den radikalen Zweifel an buchstäblich allem – „an allen Dingen, besonders den materiellen“. Diese Zweifel macht der Autor ganz allein mit sich selbst aus, ohne zu zitieren oder irgendjemanden anzugreifen, sondern sein Text besteht aus nichts als ruhig und nachdenklich vorgetragenen Überlegungen.
Dabei geht es ihm zunächst um das Verhältnis von Geist und der sinnlichen Wahrnehmung der materiellen Dinge. „Damit“, schreibt Kemp – und das ist ein kühner Brückenschlag! –, „operiert Descartes in der Nähe der Malerei in ihrer niederländischen Spielart, für die alltägliche Gegenstände und ihre Sinnlichkeit ein vollgültiges Thema sind. “Kemp fährt fort, indem er die Beschreibung des Kerzenwachses „ein Stillleben für alle Sinne“ nennt. Ich muss gestehen, dass ich die Schilderungen Descartes‘ ganz anders lese, eigentlich sogar gegensätzlich. Anders als Rembrandt, der die Materialität auf der Leinwand zur Erscheinung zu bringen wusste, sah doch der Philosoph ganz systematisch von den vielen sinnlich erfahrbaren Eigenschaften ab, bis vom Wachs endlich allein die res extensa blieb, die bloße Ausdehnung.
Rembrandt: Die Muschel, Radierung, 1650
Als Beispiel für ein Stillleben aus der Werkstatt Rembrandts nimmt Kemp die Radierung einer Muschel von 1650 – aber kann diese Radierung seine Argumentation wirklich unterstützen? Das Blatt gilt der Forschung als das einzige Stillleben Rembrandts – aber ist das tatsächlich ein Stillleben, stellt ein Stillleben nicht in aller Regel eine bedeutungsvolle, oft genug symbolträchtige Zusammenstellung verschiedener Gegenstände dar? Das ist mein erster Einwand, und mein zweiter: Stellt Rembrandt die sekundären, die sinnlichen Qualitäten der Muschel dar, oder ist es nicht vielmehr einzig und allein ihre Kegelform, die in der Radierung zur Erscheinung kommt? Hätte Kemp nicht die Ölgemälde Rembrandts, zum Beispiel die gemalte Materialität eines Stück Stoffs, nehmen müssen? Wenn er die Wiedergabe der Kleidung auf einem Porträt lobt, dann schreibt er aber nicht über ein Gemälde Rembrandts, sondern über den „Lachenden Kavalier“ von Frans Hals (1624): „Man kann sich sogar eine Vorstellung davon bilden, wie die Unterseite des Wamses beschaffen ist.“ Das ist etwas, das bei Rembrandt fehlt.
Zuletzt werden die Hände behandelt – und auch hier wieder, wenig überraschend, tritt ein Gegensatz auf. Die einzigen Hände, über die Descartes schreibt, sind seine eigenen, die sich mit dem Wachs beschäftigen, wogegen Kemp zeigt, wie „wichtig Rembrandt das Thema Hand nimmt, wenn er nicht sich, sondern andere malt“. Das nun allerdings ist eine feine Beobachtung: der Maler, der sich selbst über die Jahre hinweg immer wieder porträtierte, „vergaß“ seine Hände! Die Augen dagegen vergaß er nicht, und auch hier wieder gibt es einen Gegensatz zu notieren. Die Optik war wohl die wichtigste Wissenschaft der Zeit: für die Physiker und die Astronomen, für Galilei oder Kepler; und auch Philosophen wie Descartes und einige Zeit später Baruch de Spinoza, der einiges von der Optik verstand. Aber wie gegensätzlich behandelten der Maler und der Philosoph das Sehen!
Auf der letzten Seite angekommen, habe ich das Buch gleich noch einmal gelesen, so gut hat es mir gefallen: ein konzentrierter Text, dessen Autor eine sehr eigene Position einnimmt, enorm viel Wissen zu vermitteln weiß und uns anregt, uns mit dem einen wie mit dem anderen, mit Descartes wie mit Rembrandt auch weiterhin zu beschäftigen. Und: Für den Rezensenten war die Lektüre der Anlass, wieder einmal nach Georg Simmels ingeniöser Rembrandt-Studie zu greifen. In ihr beschäftigt sich Simmel mit Rembrandts Gemälden und Stichen und kommt von ihnen aus auf Individualität und Tod zu sprechen, den beiden großen Themen seiner Spätphilosophie. Anders als Kemp berührt dieser Philosoph, der quasi nebenbei auch ein bedeutender Soziologe war, mit keiner Silbe das Leben oder die Geschäftspraktiken Rembrandts, sondern sein Interesse gilt der Kunst und allein ihr. Die Fülle seiner Beobachtungen und Gedanken ist ebenso beeindruckend wie die Schönheit seiner Sprache.
Wolfgang Kemp: Die ehrbaren Täuscher. Rembrandt und Descartes im Jahr 1641
Schlaufen Verlag 2023
160 Seiten
ISBN: 978-3987610028
Weitere Informationen (Verlag)
Georg Simmel: Goethe. Deutschlands innere Wandlung. Das Problem der historischen Zeit. Rembrandt.
Gesamtausgabe, Band 15
678 Seiten
ISBN: 978-3518284155
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