An Selbstbewusstsein mangelt es dem afroamerikanischen Journalisten Howard W. French nicht: Mit seinem Buch über Afrika, im Original „Born in Blackness“ genannt, erhebt er den Anspruch, eine Globalgeschichte vorzulegen, in der er den Aufstieg Europas zum herrschenden Kontinent in ein gänzlich neues Licht taucht.
Kann sein Buch diesen Anspruch einlösen? Kann er zeigen, warum Europa in dieser Zeit die Welt zu beherrschen begann? War es tatsächlich sein technologischer oder kultureller Vorsprung, oder gab es dafür ganz andere Gründe?
Seine Geschichte lässt French im späten Mittelalter beginnen, im 14. und 15 Jahrhundert, als insbesondere Portugal Afrika für sich entdeckte. Im Auftrag von Heinrich dem Seefahrer segelten portugiesische Schiffe südwärts, aber ihren Kapitänen ging es nicht allein um den Weg nach Asien, um von dort Gewürze zu holen, sondern auch um Afrika selbst: Afrika war den Portugiesen mehr als nur ein Hindernis, das es zu umsegeln galt. Zunächst war es das Gold Westafrikas (der „Goldküste“), das sie für sich gewinnen wollten, und bald darauf sollte es um Sklaven gehen. – In diesen Passagen wird ein erstes Mal deutlich, woran es diesem sonst schönen Buch fehlt: an Landkarten. Eine ganze Reihe von Orten, die immer wieder genannt werden, wird der Leser nicht kennen und bestenfalls nur so ungefähr verorten. Oder wer weiß spontan zu sagen wo Fort Elmina zu suchen ist? Warum der Verlag sich nicht für eine Übersichtskarte entscheiden konnte – oder auch deren mehrere –, will sich mir nicht erschließen.
Afrika war immer mehr als nur der Spielball kulturell überlegener Mächte, so French, sondern spielte eine aktive Rolle und vertrat eigene Positionen. So war es keinesfalls nur die Heimstatt unzivilisierter Völker, sondern vielmehr einer der „übersehenen Eckpfeiler unserer atlantischen Welt“. Auch schon vor dem Mittelalter gab es gut organisierte afrikanische Staaten mit einer eigenständigen Kultur; es gab in der Folgezeit diplomatischen Kontakt mit Europa; und French berichtet von der Pilgerreise eines sagenhaft reichen Fürsten namens Mansa Musa nach Mekka, die den Europäern und Arabern schon im 14. Jahrhundert zeigte, wieviel es in dem angeblich dunklen Erdteil zu gewinnen gab. Der Autor möchte Afrika also in einem anderen Licht zeigen, und er möchte darüber hinaus die verschiedensten Faktoren im Weltgeschehen anders gewichten.
Von Afrika geht es in die Karibik und nach Brasilien, und damit kommt der Zucker in den Blick, der lange in Europa unbekannt blieb. Erst in der frühen Neuzeit erhielt er für die Geschichte der europäisch-afrikanischen Beziehungen und für den Sklavenhandel eine immense Bedeutung: Mit ihm konnte man ungeheuerliche Summen verdienen. Das funktionierte zunächst in Brasilien, wo die Portugiesen gigantische Zuckerrohrplantagen anlegten, aber ebenso oder noch mehr in der Karibik. In einer Fußnote (S.280) schreibt French (und zunächst glaubt man, es gehe ihm um die Verteidigung seiner Heimat): „Die Vereinigten Staaten nahmen weniger als 4 Prozent der Gesamtzahl aller Sklaven auf, die man in die Neue Welt verschleppt hatte.“ Ungeheuerliche Menge von Sklaven wurden in die Karibik und nach Südamerika verschifft, wo sie meist nach wenigen Jahren ihrer maßlos schweren Arbeit erlagen. Denn die Sklaverei der Neuzeit war viel brutaler und menschenverachtender, als es die Sklaverei der Antike je gewesen war. Die antiken Besitzer der Sklaven wurden nicht in dieser Weise von nackter Geldgier bestimmt.
Natürlich waren die amerikanischen Verhältnisse von größtem Einfluss auf Europa – nicht zuletzt deshalb, weil es den Zucker noch im Mittelalter kaum gegeben hat und weil es sein Anbau war, der ungeheuerliche Summen in die Kassen der europäischen Kolonialmächte spülte. Das war zweifellos einer der Faktoren für den Aufstieg Europas, wie French überzeugend darlegt. Aber gelegentlich wird es auch abstrus. So führt der Autor den Prozess der Aufklärung – genauer gesagt den Wandel der Öffentlichkeit durch Kaffeehäuser – auf den Import von Zucker zurück, als hätte es diesen Wandel, dieses „Aufkommen eines umfassend gestärkten und gemeinschaftlichen Bewusstseins“, ohne den Zucker niemals gegeben. Warum eigentlich gab es in der Türkei oder in den arabischen Ländern niemals eine Aufklärung? Gab es dort etwa keine Kaffeehäuser?
Zuckerrohrplantage. Foto: James DeMers
Ein besonders interessantes Kapitel erzählt von Haiti, das seine Gründung dem ersten erfolgreichen Sklavenaufstand der Geschichte zu verdanken hat. Hier ist es das napoleonische Frankreich, das auf unheilvolle Weise in das Geschehen verstrickt ist – zunächst, indem die Französische Revolution mit ihrer Proklamation der Menschenrechte den Anstoß zu dem Aufstand gab, sodann, weil Napoleon seine Finger im Spiel hatte und für eine Weile die Aufständischen unterstützte. Der Anführer der Aufständischen, der militärisch hochbegabte Toussaint Louverture (1743-1803), war Bonapartes Bruder im Geiste, litt nämlich so wenig wie der Kaiser der Franzosen unter ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexen. In einem Schreiben an den Kollegen stellte er sich ihm sogar gleich. Aber eine der Großmannssucht gleich der seinen konnte Napoleon natürlich keinesfalls dulden, so dass er Toussaint festnehmen und nach Frankreich schaffen ließ, wo er schon sehr bald den unmenschlichen Haftbedingungen erlag.
Die Revolte von Haiti war ein weltgeschichtlich, wie French betont, singuläres Ereignis, und sie war wichtig für spätere Aufstände im Süden der Vereinigten Staaten. Denn dort hörten die Sklaven von dem erfolgreichen Aufstand, und den Sklavenhaltern, denen dieser Vorgang durchaus klar war, begannen sich zu fürchten. In die deutsche Literatur ist das Geschehen eingegangen, weil es 1811 Heinrich von Kleist zu seiner Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ anregte – einer Erzählung, die wohl zunächst den deutschen Kampf gegen die französische Besatzung spiegeln soll. Leider ist sie von rassistischen Vorurteilen geprägt. Dass die Aufständischen „Neger“ genannt werden: geschenkt, das war der Zug der Zeit. Aber dass dem weißen Helden die Gesichtsfarbe seiner späteren Verlobten „anstößig war“, lässt doch tief blicken, ebenso wie der durch und durch bösartige Charakter der meisten farbigen Protagonisten. Ein „fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango“, sticht dabei hervor. Dass die Hautfarbe die Schwärze ihres Charakters symbolisiert, zeigt sich, als Toni, die farbige Verlobte des unschuldig verfolgten Schweizers (dabei nur eine „Mestize“), von sich selbst sagt, sie sei „eine Weiße“. Gemeint ist: sie ist unschuldig.
Anlässlich von Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“, also einem Roman aus den frühen Fünfzigern, wurde während der vergangenen Monate eifrig über Rassismus in der Literatur diskutiert. Soll man jetzt auch Kleists Erzählung von irgendwelchen Listen streichen, auf denen sie womöglich steht? Die Art, in der er von „Negern“ spricht, ist nun allerdings ziemlich anstößig. Und wenn er von der „unmenschlichen Rachsucht“ der Aufständischen erzählt, vergisst er die an ihnen begangenen Grausamkeiten näher zu benennen oder gar sie selbst oder ihre Folgen zu schildern. Tatsächlich ist die Erzählung auch deshalb hervorragend geeignet (übrigens genau wie Koeppens Roman), über Rassismus zu diskutieren, denn die Zeitbedingtheit des Vokabulars steht außer Frage, und außerdem sind selbst bei einem Giganten wie Heinrich von Kleist seine Grenzen nur zu deutlich: eine aufmerksame Lektüre legt die Schwächen der Erzählung leicht offen.
French scheint „Die Verlobung in St. Domingo“ nicht zu kennen, denn sonst, so darf man vermuten, wäre er auf sie eingegangen. Er selbst stellt dar, dass die Versklavung der Afrikaner ja nur gelingen konnte, weil ihre Hautfarbe sie bloßstellte; in Kleists Erzählung ist es genau umgekehrt, denn der Schutzsuchende ist ein Schweizer und aufgrund seiner Hautfarbe Freiwild, das sich verstecken muss. Deshalb kann das Geschehen auch nicht den Gegensatz zwischen Franzosen und Deutschen spiegeln, denn schließlich hätte sich sowohl ein Deutscher in Frankreich wie auch ein Franzose in Deutschland unerkannt durchschlagen können – er hätte nur nicht sprechen dürfen. Eben darin lag ja die Perfidie der Versklavung der Afrikaner: Sie konnten sich auf der Flucht nicht in der Masse verstecken.
Es war Großbritannien, das 1833 als erstes europäisches Land den Sklavenhandel verbot, und es wäre verständlich, wenn dieser Akt auch das Ende der in dem Buch erzählten Geschichte bedeutete. Es folgen aber noch einige Kapitel, so eines, in dem French seiner Liebe zum Jazz und vor allem zum Blues Ausdruck verleiht und unter anderem über Muddy Waters schreibt. Sehr gehaltvoll ist das alles aber nicht. Im Anschluss daran geht er noch einmal auf die Vereinigten Staaten ein, und hier zerstreut sich der Verdacht, er wolle jeden Verdacht von seiner Heimat ablenken. Nein, ganz im Gegenteil, die Vorgänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden ganz ungeschminkt dargestellt, und insbesondere wird einer der Nationalheiligen der USA, Thomas Jefferson, gründlich demaskiert. Ähnliches gilt für den Sklavenbefreier Abraham Lincoln. Zusätzlich finden wir manches Detail, das der Mehrzahl der Europäer nicht bekannt sein dürfte. Das gilt zum Beispiel für den Transport der Sklaven innerhalb der USA aus dem Norden in den Süden: „In den 1830er Jahren importierte allein Mississippi 130.000 Sklaven aus den nördlichen Sklavenhalterstaaten. Insgesamt wurden in den 50 Jahren vor dem Bürgerkrieg etwa eine Million Sklaven auf dem Land- oder Seeweg in die Baumwollstaaten verbracht. Das sind etwa doppelt so viele, wie von den Briten aus Afrika in ihre nordamerikanischen Kolonien verschifft worden waren.“ French spricht von einer „Massenmigration oder besser gesagt Massendeportation, die den Umfang der weißen Planwagentrecks in den amerikanischen Westen weit übertraf.“ Merkwürdigerweise spielen diese Vorgänge in den Hollywood-Western keinerlei Rolle… Es ist nur verständlich, wenn French seine Landsleute dazu auffordert, „endlich damit“ aufzuhören, „die entscheidende Rolle der Sklaverei bei der Entstehung von Macht und Reichtum in den Vereinigten Staaten zu leugnen.“
Es dürfte ihm mit seinem thesenstarken Buch gelungen sein, die ungeheure Bedeutung der Sklaverei für den Aufstieg der Vereinigten Staaten und darüber hinaus für die Entstehung unserer Wirtschaftsordnung darzustellen.
French ist ein erfahrener, sogar prominenter Journalist, der für die New York Times in allen möglichen Ländern der Welt gearbeitet hat. Aber es sind trotzdem die journalistischen, in einem persönlichen Ton gehaltenen Teile seines Buches, die abfallen. Dagegen ist es ihm gelungen, einen ungeheuren Stoff übersichtlich darzustellen – das ist ein wirkliches Kunststück. Dazu konzedieren ihm Fachleute, dass er sowohl die klassische Literatur der letzten hundert Jahre als auch eine Vielzahl von jüngeren Studien zitiert, so dass dieses Buch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollte. Es ist unbedingt empfehlenswert.
Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karin Schuler, Thomas Stauder, Andreas Thomsen
Klett-Cotta 2023
512 Seiten
ISBN 978-3608986679
Weitere Informationen (Homepage Verlag)
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