Kultur, Geschichte & Management

Wie fing alles an? Warum versuchten sich Menschen erstmals mit der Landwirtschaft, warum gründeten sie Städte und später sogar Staaten, und wie kam es zur gesellschaftlichen Ungleichheit?

Kann man überhaupt herausfinden, wie alles begann?

 

Nun, vielleicht nicht mit den im Grunde ziemlich ideologischen Geschichtskonstruktionen, mit denen Thomas Hobbes (1588-1679; „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778, „der Mensch ist von Natur aus gut“) Epoche machten. Mit diesen und anderen ziemlich simplen Urgeschichtsszenarien räumen die beiden Anthropologen und Archäologen David Graeber (1961-2020) und David Wengrow (*1972) in einer sehr lesenswerten Weise auf. Sie glauben weder an eine logische Abfolge der Gesellschaftsformen noch an eine allmähliche, nie unterbrochene Höherentwicklung, und an die Notwendigkeit einer hierarchisch organisierten Gesellschaft glauben sie schon einmal überhaupt nicht.

 

Jean Jacques RousseauThomas Hobbes

Jean-Jacques Rousseau, Pastell von Maurice Quentin de La Tour, 1753 und Thomas Hobbes (Ausschnitt aus einem Gemälde von John Michael Wright, circa 1669–1670)

 

Eigentlich drückt bereits der Titel sehr schön aus, worin sich der Entwurf der beiden Autoren, von denen ihrer Vorgänger unterscheidet: sie schreiben über „Anfänge“, nicht etwa über einen einzigen Anfang, der sich aus einem Impuls entwickelte und dann in linearer Form weiterentwickelte. Sondern ihr Konzept kennt verschiedene Anfänge und dazu auch Korrekturen und parallele Entwicklungen, ja sogar Rückzüge, also die Aufnahme eines erneuten Wanderlebens nach einer vielleicht sehr langen Zeit als sesshafte Bauern – ein Beispiel dafür sind die Nationen in der nordamerikanischen Prairie.

 

Also nicht: erst die Gegend durchstreifende Wildbeuter-Horden, anschließend Sesshaftigkeit und landwirtschaftliche Revolution, darauffolgend die Gründung von Städten und endlich sogar Staaten; das scheint zwar eine hübsch gleichmäßige und auch irgendwie logische Weiterentwicklung der Menschheit bis zu unserer erstaunlichen Höhe, ist aber für die Autoren „schlicht und einfach unwahr“. Sie bekennen sich zum Anarchismus, und so sind diese Szenarien für sie „mit schlimmen politischen Konsequenzen verbunden“, denn all dies führe ja zum Verlust der Freiheit – nicht allein des Einzelnen, sondern auch der ganzen Gesellschaft. Und noch dazu – und aus der Sicht des interessierten Lesers wiegt dieses Argument besonders schwer – erscheint „die Vergangenheit langweiliger als nötig“. Und es ist wahr: Der „Karnevalszug politischer Formen“, den Graeber/Wengrow an uns vorbeimarschieren lassen, die wirklich erstaunliche Vielfalt von Regierungs- und Organisationsformen, von Lebensentwürfen und Lebensformen, ist so bunt und abwechslungsreich und birgt so viele Überraschungen, dass „Anfänge“, von anderen Qualitäten einmal abgesehen, eine niemals langweilige Lektüre darstellt. Das ist doch etwas!

 

Zunächst: Von einem Naturzustand, über den die oben angesprochenen Philosophen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert spekulierten, wollen die Autoren nichts wissen, sondern geben unumwunden zu, „nicht die geringste Ahnung“ zu haben, wie die Menschen waren, bevor sie überhaupt zu modernen Menschen wurden. Woran sie glaubten, welche Sprache sie sprachen, ob sie Kunst besaßen – man weiß es nicht. Den Rückschluss von den wenigen Wildbeutergruppen, die es auch heute noch gibt, auf einen Zustand der frühen Menschheit halten Graeber/Wengrow jedenfalls nicht für legitim: aus sehr guten Gründen. Neben anderem geben sie zu bedenken, dass heutige Wildbeuter in kargen Steppenlandschaften herumstreifen, wogegen ihre vorgeschichtlichen Kollegen sich, bevor sie von dort verdrängt wurden, größtenteils an Küsten oder Flussdeltas aufhielten, wo es ein breites und bequemes Nahrungsangebot gab.

 

Anfaenge COVERUnd – das ist ein Punkt, auf den Graeber/Wengrow großen Wert legen – die allmähliche Entwicklung von Landwirtschaft war nicht etwa ein tiefer Einschnitt, von dem aus es kein Zurück gab, keine wirkliche Revolution, sondern es folgte in vielen Fällen ein saisonales Hin und Her, eine Gleichzeitigkeit von sesshafter Landwirtschaft und Streifzügen. Und manchmal sogar die vollständige Rückkehr zum unsteten Jägerleben. In vielen Fällen ergänzte die Landwirtschaft das Nahrungsangebot, aber trotzdem fand im Wechsel der Jahreszeiten die vollständige Rückkehr zu Jagd- und Streifzügen statt, wie sie auch mit ethnographischem Material zeigen können. Und im Zusammenhang damit gab es auch einen Wechsel der politischen Strukturen; mal – besonders auf der Jagd – beherrschte eine starke Persönlichkeit die Gruppe, der die anderen strikt zu gehorchen hatten, dann wieder, zurück im Dorf und bei der Landwirtschaft, herrschten quasi basisdemokratische Verhältnisse.

 

Wiederholt sprechen die Autoren von Freiheit – auf diese kommt es ihnen besonders an. Aber natürlich ist es nicht die Freiheit der (Neo-) Liberalen, sondern eine eher anarchische Freiheit, eine individualistische Selbstbestimmung, aber übertragen auf eine Gruppe, eine Stadt oder gar eine Kultur. Zum Beispiele stellen sie sich die Hinwendung zur Landwirtschaft nicht als Fron vor, der sich die frühen Menschen selbst unterwarfen, sondern ihr (etwas merkwürdiger…) Begriff der „Ökologie der Freiheit bezeichnet die Neigung menschlicher Gesellschaften, (freiwillig) mehr oder weniger Landwirtschaft zu betreiben“. An späterer Stelle heißt es: „Ausgeklügelte und unberechenbare Daseinsroutinen sind eine ausgezeichnete Abwehr gegen den kolonialen Staat, eine Ökologie der Freiheit im wörtlichen Sinne.“ Immerhin, eine „ausgeklügelte und unberechenbare Daseinsroutine“ scheint mir kein kleiner Widerspruch, aber trotzdem: aus diesen Bemerkungen wird deutlich, worin der Anarchismus der Autoren besteht. Sie stellen sich Gruppen vor, die sich nicht immer an einem Ort aufhalten und sich hinsichtlich ihrer Ernährung, aber auch in ihrer sozialen Organisation jederzeit flexibel verhalten.

 

Besonders im Amazonasbecken (dergleichen vertreten auch andere Forscher), liefen die Leute nicht nur nackt und dumm herum, sondern es scheint durchaus eine ansehnliche Kultur gegeben zu haben, die in einer riesigen, auch offenen, also keinesfalls überall mit Dschungel bedeckten Gartenlandschaft zu Hause war. In diesem Paradies (war es wirklich eines?) befanden sich dann auch größere Ansiedlungen. Gerade in beiden Amerikas gab es grüne Städte – keine engen Steinwüsten, sondern großzügig angelegte Siedlungen, die so gar keine Ähnlichkeit besaßen mit europäischen oder asiatischen Städten.

 

Auch für die frühen Städte nicht allein in Amerika nehmen die Autoren Freiheit in Anspruch. Keineswegs immer und überall hierarchisch organisiert, gab es trotzdem schon in der Frühzeit Selbstverwaltung, „ohne das geringste Anzeichen für Tempel und Paläste, die erst viel später gebaut wurden.“ Man kann sich auch selbst organisieren, so lautet die Botschaft dieses Buches, man braucht keine institutionelle Herrschaft, keine Priester und keine Könige. Aber hier möchte ich doch kritisch einwenden: Das ist ein Argumentum e silentio, also eine Schlussfolgerung aus dem Schweigen – weil sich etwas nicht auffinden lässt, wird auf sein Gegenteil geschlossen. Kein Palast, kein Tempel, also eine basisdemokratische Verwaltung? Das ist doch etwas dünn. Oder eben gewagt.

 

Der eine der beiden Autoren ist Archäologe, der andere Anthropologe, und es ist auffallend, worauf sie ihre Argumentation kaum jemals stützen: Etymologie einerseits, Mythologie andererseits sind für viele Forscher die Hauptquellen, aus denen sie das Wurzelwerk ihrer Theorien begießen. Aber beides spielt in diesem Buch eine ganz untergeordnete Rolle. Auf Mythen kommen die Autoren wohl manchmal zu sprechen, aber Wortverwandtschaften und die weitreichenden Spekulationen darüber, die viele (besonders der gelehrten) Autoren sehr lieben, kommen hier nicht vor.

 

Wie sieht also ihre alternative Theorie aus? Graeber/Wengrow stützen ihre Argumentation zu einem bedeutenden Teil auf das, was erst in den letzten Jahrzehnten über die Geschichte der indigenen Nationen Nord-, Mittel- und Südamerikas herausgefunden wurde. Eine große, und natürlich wegen des Fehlens schriftlicher Quellen keineswegs vollständig aufgeklärte Rolle spielen die Trümmer der rätselhaften Stadt Cahokia, die einmal das Zentrum einer großen, den Südwesten Nordamerikas beherrschenden Kultur gewesen zu sein scheint, der „Mississippi-Kultur“. Ein anderer Aspekt ist das Clan-Wesen, das neben der Einteilung in Völkerschaften und Kulturen bestand, ja, diese Einteilung wie ein Netz überspannte – war man Teil eines Clans, so konnte man weite Reisen unternehmen und auch, wenn man niemanden kannte und die Sprache nicht beherrschte, fast überall auf gastliche Aufnahme und Schutz vertrauen; ein populäres Beispiel ist die kleine, auf seine Brust tätowierte Schildkröte, die bei James Fenimore Cooper dem gefangenen Chingachgook das Leben rettet, als seine Gegner sie entdecken und in ihm, der schon am Marterpfahl steht, das Mitglied des eigenen Clans erkennen.

 

M Mauss 1872 1950Ein wahrscheinlich wirklich weiterführender, dem Rezensenten zuvor ganz unbekannter Begriff der Psychologie und zusätzlich der Soziologie ist die „Schismogenese“, mit dem Graeber/Wengrow das sich aufeinander beziehende, vor allem aber voneinander abgrenzende Verhalten von Kulturen beschreiben (ursprünglich scheint sich der Begriff nur auf Kleingruppen oder sogar Individuen bezogen zu haben). Warum, fragen die Autoren, „verwenden Menschen so viel Mühe darauf, sich von ihren Nachbarn zu unterscheiden (Schismogenese)?“ Es kommt also weniger darauf an, von wem Menschen Gebräuche oder Kulturtechniken übernahmen, als vielmehr darauf, dass und warum sie es nicht taten. Nach dem großen Anthropologen Marcel Mauss (1872-1950) waren Kulturen „also gewissermaßen Verweigerungsstrukturen.“

 

Es würde zu weit führen, die weitgespannte und sehr differenzierte, vielleicht auch gelegentlich (nicht selten?) über ihr Ziel hinausschießende Argumentation der Autoren in ihrer ganzen Breite zu referieren. Allerdings möchte ich noch einen Einwand vortragen. Sind menschliche Gesellschaften wirklich, wie Graeber/Wengrow denken, „Projekte kollektiver Selbsterschaffung“? Der Gedanke einer vielleicht sogar totalen „Selbstbestimmung“ durchzieht das ganze Buch, und zu den Konsequenzen zählt, dass „politische Institutionen als bewusste menschliche Schöpfungen“ ausgelegt werden. Klingt das nicht ein wenig nach Hybris oder doch wenigstens nach einer erheblichen Selbstüberschätzung? Wird der Mensch, werden seine Institutionen nicht mindestens ebenso sehr von der Umgebung bestimmt? Man braucht nicht gleich mit Heidegger von „Geworfenheit“ zu sprechen, um einzusehen, dass wir immer und in jedem Fall auch einer Fremdbestimmung unterliegen.

 

Abschließend sei aber noch auf den Bogen hingewiesen, der sich zwischen den ersten Kapiteln und dem Schluss spannt – er zeigt, wie überlegt dieses Buch komponiert wurde. Zunächst schreiben Graeber/Wengrow über die Faszination, die im 17. Jahrhundert der Irokese Kondiaronk (1649-1701) auf einer Europareise auf die Intellektuellen insbesondere Frankreichs ausübte; Graeber/Wengrow machen diesen Mann geradezu zu einem Ausgangspunkt aufklärerischer Staatsphilosophie. Und es klingt nicht unwitzig, wenn sie in den letzten Kapiteln des Buches das „Kaffeehaus der Aufklärung“ auf indianische Lebensweise zurückführen. Wie Irokesen, so wird uns suggeriert, haben sich die aufklärerischen Philosophen versammelt, „um den Tag überwiegend damit zu verbringen, im Geiste rationaler Debatten zu diskutieren und zu politisieren, wobei die Gespräche immer wieder unterbrochen wurden, um in den Pausen Tabak zu rauchen und koffeinhaltige Getränke zu sich zu nehmen.“

 

Freunde unserer staatlichen Organisation sind sie ja nun gerade nicht, und für sie ist Kondiaronk deshalb wichtig, weil sie mit dem Beispiel des großen Irokesen zeigen können, dass es aus „der Falle der Staatenbildung […] sehr wohl einen Ausweg“ gibt – „selbst dann, wenn man bereits tief hineingetappt ist.“ „Ein Irokese“ – und so etwas muss Anarchisten gut gefallen – „ließ sich nichts gefallen, denn das hätte seine persönliche Autonomie beschnitten.“ Kondiaronk war kein Barbar, sondern vielmehr ein kulturell hochstehender Mensch, der die europäische Zivilisation keineswegs höher schätzen mochte als die eigene – und das ist eine Bewertung unserer Lebensweise, die Graeber/Wengrow vorbehaltlos übernehmen.


David Graeber und David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen

Klett-Cotta 2021

672 Seiten.

ISBN: 978-3608985085

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