Um 1900 hatte Hamburg weltweit nach London und New York den drittgrößten Hafen. Doch diese Erfolgsgeschichte von Hafen und Handel leidet bis heute unter einer kolonialen Amnesie.
Das Buch „Hamburg: Tor zur kolonialen Welt“ versucht, das Vergessene wieder ins öffentliche Bewusstsein zu holen. Darin präsentiert die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ der Universität eine erste Zwischenbilanz ihrer Studien.
Knapp 30 Autor*innen behandeln auf 590 Seiten ein denkbar weites Themen-Spektrum lokaler Stadtgeschichte: es reicht vom Welterbe Speicherstadt über das umstrittene Bismarck-Denkmal bis zu Käppen Haases Seemannskneipe im Hafenviertel St. Pauli, vom großbürgerlichen Übersee-Club über Hagenbecks Tierpark und den Sammlungen im ehemaligen Völkerkundemuseum (heute MARKK) bis zu den Programmzetteln früherer Unterhaltungstheater: überall sind die Spuren kolonialer Ausbeutung, rassistischer Positionen oder einseitiger Heldenverherrlichung ehemaliger Kolonialherrscher und -Profiteure nachweisbar.
Dieser Sammelband liest sich daher nicht wie eine linear chronologische Stadtgeschichte. In sieben Kapitel (darunter z.B. ´Wirtschaft und Politik` oder ´Kunst, Kultur und Gesellschaft`) nehmen die Autor*innen jeweils einzelne Bauten, Institutionen, Denkmäler oder Begriffe in den Blick, um deren historischen Bezüge zum Kolonialismus herauszuarbeiten. Ziel ist es, Erinnerungsorte in der Stadt zu benennen. Das ist Teil des Auftrags, mit dem der Senat die Forschungsstelle 2014 gegründet hat. Seit 2017 gibt es unter der Ägide der Kulturbehörde einen Runden Tisch mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, an dem dazu ein Erinnerungskonzept entwickelt werden soll.
Dahinter steht die Erkenntnis, dass eine internationale Stadtgesellschaft ihre lokale Geschichte unter einem globalen Blickwinkel neu betrachten und erzählen muss. Aktivistengruppen wie z.B. der Verein Schwarze Menschen in Deutschland oder der Arbeitskreis Postkolonial fordern das schon lange.
Die Brisanz des Themas hat zuletzt die Debatte um die millionenschwere Restaurierung des Hamburger Bismarck-Denkmals gezeigt: repräsentiert und ehrt das Denkmal den Vollender der deutschen Einigung und den Begründer des Sozialstaats oder den Initiator der Sozialistengesetze und -verfolgung? Den Kolonialskeptiker oder den geschickten Außenpolitiker, der in Berlin 1884/5 die sogenannte Kongo-Konferenz einberief, auf der die europäischen Großmächte Afrika in Einflußzonen aufteilten? Wer darf mitreden, wer hat die Deutungshoheit für das Denkmal?
Berlin war das politische Zentrum der deutschen Kolonialpolitik von 1884 bis 1914, Hamburg das ökonomische. 1883 verfasste die Hamburger Handelskammer auf Anfrage des Auswärtigen Amtes eine Denkschrift, in der sie die Errichtung von Kolonien forderte, um Rohstoffe und Märkte zu sichern. Der Historiker Kim Todzi bewertet dieses Schlüsseldokument der deutschen Kolonialpolitik als einen „Erinnerungsort im Erinnerungsort“ Handelskammer. Der Begriff „Erinnerungsort“ wird also von den Herausgebern des Sammelbands Jürgen Zimmerer und Kim Todzi sehr weit gefasst. Der Forschungsstellenleiter und Historiker Zimmerer bezeichnet in seiner Einleitung die Hafenstadt selbst als einen (post-)kolonialen Erinnerungsort und meint damit das „Netz an historischen Orten, Vorstellungen und Inszenierungen“, dass es im Spannungsfeld von lokaler und globaler Geschichte zu erforschen gilt. Einerseits bekommt der Begriff Erinnerungsort damit etwas Unscharfes, Beliebiges, andererseits erlaubt diese weit gefasste Definition auch die verdeckten Spuren des Kolonialerbes aufzuspüren, wie sie sich z.B. in den Marketingbroschüren für das Überseequartier der Hafencity manifestieren.
Die Hafencity entsteht an einem Ort, an dem Rohstoffe aus den Kolonien umgeschlagen wurden, an dem deutsche Militärs, die sogenannten Schutztruppen, festlich verabschiedet und empfangen wurden, bevor oder nachdem sie Aufstände in den Kolonien blutig niederschlugen. Der neue Stadtteil für Wohnen, Freizeit und moderne Büroarbeit schöpft sein Image aus der Geschichte und verleugnet sie gleichzeitig, wie die Wissenschaftlerin Tania Mancheno Moncada in ihrem zeichentheoretisch aufgeladenen Beitrag nachweist. Bis auf die Mahatma-Gandhi-Brücke werden Plätze wie z.B. die Magellan-Terrassen häufig mit Namen ehemaliger Eroberer geehrt, Namen wie Koreastraße oder Dar-es-Salaam-Platz suggerieren ein vages internationales Flair und erinnern indirekt an die koloniale Vergangenheit. Ganz ungeschminkt geschieht das mit dem Begriff Überseequartier für die zentrale Einkaufsmeile, Moncada: „Der Begriff ´Übersee`, welcher auf die religiöse Kartographierung der Welt des Augustinus zurückgeht, teilt die Welt in ein christliches Europa (Diesseits) und einen kolonisierbaren Rest (Jenseits oder Übersee).“ Die Perspektive der ehemals Kolonisierten ist nirgends sichtbar.
Erste Ansätze für diese umgekehrte Perspektive, den Blick von außen auf Europa, Deutschland und Hamburg, finden sich in der Geschichte des Hamburger Afrika-Reisenden Heinrich-Barth. Dessen Diener Dorugu verfasste über seinen Aufenthalt in Deutschland und England von 1855 bis 1864 eine Art Tagebuch und beschrieb die hiesigen Sitten durchaus spöttisch und ironisch. Nach seiner Rückkehr nach Nigeria musealisierte er in seinem Haus in Kano Mitbringsel wie europäische Kleidung und Alltagsgegenstände in einer Ausstellung. Ein Beispiel für einen mindestens zeitweise erfolgreichen Widerstand gegen koloniale Repression ist die Geschichte des hoch gebildeten und reichen Kaufmanns Mpondo Akwa aus Kamerun. Ihm gelang es 1905 bis 1909 mehrmals, die deutsche Öffentlichkeit und die deutschen Gerichte von der Unrechtmäßigkeit einiger kolonialer Willkürmaßnahmen in seinem Land zu überzeugen. Er scheiterte später an einer zunehmend rassistisch orientierten Rechtsprechung.
In einem abschließenden Beitrag des Buches thematisiert der Geschichtsdozent Oswald Masebo an der Universität von Dar es Salaam in Tansania, dass gerade bei dem Aspekt der umgekehrten Perspektive ein hoher Forschungsbedarf besteht. Das koloniale Unternehmen war auf die Kooperation der Bevölkerung angewiesen, die Menschen arbeiteten in den christlichen Missionen und in der Verwaltung, als Hausangestellte, als Soldaten und Arbeiter etc. Wie haben sie sich angepasst oder widersetzt? Diese Geschichten finden sich kaum in den von den Kolonialmächten überlieferten Archiven, sondern sind fast nur als ‚oral history‘ überliefert und noch nicht ausreichend untersucht. Nach der Unabhängigkeit 1961 übernahm der neue Staat Tansania die Institutionen und die Infrastruktur der alten Kolonialherren, die Geschichte und Identität des afrikanischen Landes sind dadurch eng mit Deutschland und England verknüpft – doch was heißt das konkret? Wie prägt das die gegenseitige Beziehung, wenn ein Teil der Erinnerung ausgeblendet wird?
Die Kolonialbegeisterung des wilhelminischen Bürgertums um die Jahrhundertwende war breit gestreut – manche versprachen sich sogar eine Lösung der sozialen Frage durch die Besiedelung neuer Erdteile. Die Hamburger Kaufleute verstanden es, diese diffuse Sehnsucht nach Größe geschickt zu kanalisieren und ganz pragmatisch in einem politischen Programm zu formulieren, das ihren Zugang zu Rohstoffen wie Palmöl, Kautschuk, Kaffee, Kakao absicherte. Die Wirtschaft anderer Erdteile wurde an die Erfordernisse der europäischen Industrialisierung gewaltsam angepasst, die Folgen reichen bis in die Gegenwart. Der legitime, teilweise legale und erfolgreiche Widerstand der kolonisierten Bevölkerung wurde zunehmend mit militärischer Gewalt beantwortet. Dass bis heute - unkommentiert! - eine Gedenktafel in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis einseitig an die Gefallenen der kolonialen Schutztruppen erinnert, bezeugt die wiederholte koloniale Amnesie, die dieser Sammelband aufheben will.
Hamburg: Tor zur kolonialen Welt, Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung
Hrsg.: Jürgen Zimmerer und Kim Sebastian Todzi,
Wallstein Verlag
Buch und eBook, 591 Seiten, 99 Abb., November 2021
ISBN 978-3-8353-5018-2
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