Tiere kennen selbst keine Mimik und schauen schon deshalb nicht in das Gesicht. Für sie sind neben der Blickrichtung der Augen die Bewegungen viel wichtiger.
Antilopen wissen genau, wann ihre Fressfeinde auf der Pirsch sind, und ängstigen sich nicht bei dem Anblick eines gesättigten und entsprechend entspannt durch das Gras schweifenden Leoparden. Und in Tierparks, in denen man Tieren frei begegnen kann, berichten die Wärter, dass Wildtiere wie Rehe und Wildschweine auf Menschen mit dem Down-Syndrom anderes reagieren: Sie fürchten sich weniger. Ganz offensichtlich empfinden sie diese Menschen aufgrund ihres Bewegungsbildes als weniger zudringlich und gar nicht als aggressiv.
Den Menschen bestimmen und begrenzen zahlreiche Hemmungen – zum Beispiel das Schamgefühl, das allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten (und auch ihm selbst in seiner Kindheit) unbekannt ist. Das gilt bereits für die kleine Schwester der Scham, für bloße Befangenheit. Wie schwierig ist es doch, entspannt über eine Bühne oder überhaupt vor Publikum zu gehen! Man fühlt sich beobachtet und ist sich deshalb seiner unwillkürlichen Bewegungen bewusst. Die sonst flüssig aufeinander folgenden Schritte werden eckig, weil man auf seine Empfindungen achtet und nicht mehr so nach vorne auf ein Ziel ausgerichtet ist, wie man es ohne diese Hemmungen wäre.
Ein Säugling kennt kein Selbstbewusstsein und deshalb auch noch keine Befangenheit oder Scham. Selbstbewusst wird das Kind erst allmählich, nachdem es sich aufgerichtet hat und geht und wenn es verstanden hat, wie man von sich selbst nicht mehr mit der Hilfe seines Namens, sondern als einem Ich spricht. Wenn ein solches drei-, vierjähriges Kind Blicke auf sich gerichtet fühlt, geht es plötzlich anders, es bewegt sich steif und unbeholfen. Und erwachsene Menschen können manchmal nicht mehr einen großen leeren Platz überqueren oder eine lange Straße hinuntergehen. Eine unbestimmte Angst hat sie im Griff und lässt sie erstarren. Es ist ihr Bewusstsein, dass ihnen die Bewegungen erschwert. Um diesen Vorgang zu verstehen, kann es nützlich sein, über den Zusammenhang von (Selbst-) Bewusstsein und Bewegung nachzudenken, zum Beispiel mit der Hilfe eines Aufsatzes von Heinrich von Kleist.
Kleist hat in „Über das Marionettentheater“ die Faszination erklärt, die von Marionetten ausgeht. Sie liege darin, dass der „Schwerpunkt der Bewegung“ sich immer in dem einzelnen Glied der von fremder Hand bewegten Puppen befinde, wogegen es zu „Ziererei“ führe, wenn dieses Zentrum bei einem Menschen in irgendeinen anderen Punkt verlagert sei – vor allem, weil dieser Mensch seiner selbst bewusst sei, weil er sich von anderen beobachtet fühlt oder sich selbst beobachtet. Wir können anstelle von Ziererei auch andere Begriffe benutzen, vielleicht als Oberbegriff nicht Eitelkeit, sondern Verlegenheit oder Befangenheit. Es ist, als schaute man von einem Punkt außerhalb seiner selbst auf sich zurück; und das können wir, wie Kleist erläutert, „seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben“, sprich seitdem wir bewusst geworden sind. Der Auszug aus dem Paradies – die Menschwerdung – vollzog sich, als sich die Menschen ein erstes Mal schämten; und sie taten es, weil sie dank der verbotenen Frucht auf sich selbst schauten, um erschrocken erstmals ihre Nacktheit zu bemerken: „Da wurden jr beider Augen auffgethan / vnd wurden gewar / das sie nacket waren.“
Marionetten. Foto: Anita Jankovic
Bewusstsein hat also Hemmung zur Folge; oder mehr noch, ist ein einziges großes Hemmnis. Nur bewusste Wesen (also wir alle von einem gewissen Alter an) können eitel sein, sich zieren oder sich von Befangenheit wie gelähmt fühlen. Ist es nicht interessant, dass zuerst die Bewegung beeinträchtigt ist, dass man nicht länger seiner Bewegungen sicher ist? Das Schamgefühl wiegt schwer, es lastet auf einem Menschen – es nagelt ihn fest, wie es manchmal auch die grundlose Angst tut, die Agoraphobie.
Das Zentrum unseres bewussten Verhaltens befindet sich außerhalb unserer selbst. Unser Selbstverhältnis nennen wir deshalb exzentrisch, und Helmuth Plessner, der diesen Begriff einführte, spricht in seinen „Stufen des Organischen“ von der „exzentrischen Positionalität“ als dem, was den Menschen vor dem Tier auszeichnet. Dieses ist in der „Frontalität“ seiner Umwelt gegenüber gefangen, ohne aber, wie wir das tun, zu sich selbst auf Distanz gehen zu können. Der Kreatur fehlt das Vermögen, sich selbst in Relation zu seiner Umgebung zu setzen; es befindet sich immer in der Mitte seiner Welt. Besäße es ein Ich, müssten wir es egozentrisch nennen.
Kleist bringt nach der Marionette noch ein anderes Beispiel, das des fechtenden Bären und seinen unschlagbaren Reaktionen. Dieses Tier, anders als wir ganz in sich selbst zuhause, ist durch keine Finte zu täuschen, sondern pariert jeden Stoß seines menschlichen Gegners mit traumhafter Sicherheit. Der Bär ist dazu fähig, weil „in dem Maße, als in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt“, wie Kleist erläutert. Seiner Unbewusstheit wegen kann das Tier nicht bezwungen werden, denn seine Bewegungen werden nicht irritiert und gehemmt. Und diese Bewegungen sind einerseits schöner, weil geschlossener und direkter, andererseits weniger ausdrucksvoll, weil sie nicht von seinem Bewusstsein gebrochen sind.
In den Jahren, die dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 folgten, entdeckten einige prominente Psychiater eine vollkommen neue Krankheit, die sie zunächst „Agoraphobie“ und wenig später „Platzangst“ tauften. „Der Kranke“, notierte Emil Kraepelin in einem Standardwerk der Psychiatrie, „ist nicht im Stande, allein über einen großen, menschenleeren Platz oder durch eine lange, weite Straße zu gehen; bei jedem Versuche dazu überfällt ihn eine namenlose, unüberwindliche Angst mit heftigem Herzklopfen, die ihm den freien Gebrauch seiner Glieder vollständig raubt. Eine klare Vorstellung verbindet sich mit dieser Angst nicht, nur die unbestimmte Befürchtung einer drohenden Gefahr.“
Léon Spilliaert. links: Hofstraat in Oostend, 1908. Rechts: De Duizeling, 1908
Furcht und Angst sind nicht dasselbe. Furcht kennt einen konkreten Gegenstand, Angst nicht. Sehr schön findet sich diese Ungerichtetheit der Angst in einer zunächst ganz beiläufigen, bereits im vorigen Artikel angesprochenen Episode in „Anna Karenina“ hervorgehoben. Die Angst ist unbestimmt, weil sie sich auf etwas jenseits des Horizonts richtet, auf etwas Unbekanntes, das erst noch kommt. Manchmal nennt man das auch Grauen. Konkrete Furcht, zu einem Schreck dramatisch zusammengezogen, und das unbestimmte, irgendwie in der Luft liegende Grauen bilden denselben Gegensatz. Bereits der schwindsüchtige Ippolit bemerkt in Dostojevskijs „Idiot“, dass Tiere kein Grauen empfinden können, Sherlock Holmes stimmt dieser These zu („where there is no imagination there is no horror“, sagt er in „A Study in Scarlet“), und Heidegger weiß, dass sich das Tier zwar erschrecken kann, aber doch immer seiner Umwelt verhaftet, immer in seinem Gehäuse stecken bleibt: „Das Wovor des Erschreckens ist zunächst etwas Bekanntes und Vertrautes. Hat dagegen das Bedrohliche den Charakter des ganz und gar Unvertrauten, dann wird die Furcht zum Grauen.“ Die Unheimlichkeit kennt allein der Mensch.
Und besonders der intelligente Mensch. Einer der Entdecker der Agoraphobie fügte seinen Fallbeispielen die Beobachtung hinzu, dass Platzangst eine häufige, ja gewöhnliche Krankheit sei und dass sie in aller Regel intelligente, kultivierte und gebildete Personen treffe – „Dumme Menschen mit Platzangst sind mir bis jetzt nicht vorgekommen“, schrieb er –, vor allem aber auch aktive und im Leben stehende Menschen. Deshalb ist es eine Erkrankung, an der das Wesen des Menschen aufscheint.
Die von den Psychiatern der 1870-er Jahre geschilderte Hemmung, über einen freien Platz zu gehen, wurde mehrfach und schon lange zuvor geschildert, ohne dass man einen Begriff dafür gesucht oder gefunden hätte. Die ersten mir bekannten Autoren waren die beiden Verfasser des berüchtigten „Hexenhammers“, also eines Buches von 1486. Wie man dort lesen kann, reichen bereits die Blicke einer alten Frau auf einer Brücke aus, den entspannten und natürlichen Gang eines Mannes empfindlich zu stören. Und schon ist eine arme Frau der Hexerei verdächtig. Der „Hexenhammer“ bringt noch zwei Beispiele mehr dieser Art, also Verhexungen der Gehwerkzeuge und Beeinträchtigungen eines normalen Ganges mittels eines zudringlichen Blickes.
Malleus maleficarum (Hexenhammer), Ausgabe von 1669, Gemeinfrei
Es gibt aber auch weniger dunkle Quellen. Die erste ist das 1841 veröffentlichte Meisterwerk von Charles Sealsfield, „Die Prärie am Jacinto“. Eine Figur dieser Erzählung, Bob Rock, hat einen Menschen ermordet und leidet deswegen unter furchtbaren Gewissensqualen, die in eine Agoraphobie münden. Der Ich-Erzähler – ein Offizier – berichtet, wie er auf einer weiten, von blühenden Blumen und gelegentlichen Bauminseln übersäten Ebene einen Spazierritt unternimmt. Er durchstreift ein Paradies! Aber dieser Garten Eden ist so topfeben, dass den Reiter schon bald jede Orientierung fehlt, und schließlich verirrt er sich hoffnungslos. Als er kurz vor dem Verdursten steht, findet ihn Bob Rock. Der Erzähler erwähnt nicht allein dessen „zerstörtes Wesen“, sondern dieser Mann kann trotz seiner körperlichen Stärke nicht einmal mehr richtig gehen. Seine Bewegungen sind „verrenkt, schwankend, taumelnd“. Er krümmt sich „wie ein Wurm.“ Als ein an Agoraphobie leidender Mensch kann Bob keine offene Fläche ertragen, und diese offene Fläche ist im Roman die von einem blühenden Dahlienteppich bedeckte, für das Auge schier unendliche Prärie, deren leere Weite ihn auf sich selbst und sein schlechtes Gewissen zurückwirft.
Um ein gestörtes Selbstverhältnis geht es auch in dem Roman „Ein Mord, den jeder begeht“. Heimito von Doderer schildert bei seinem Helden Conrad Castiletz dasselbe Phänomen wie Sealsfield oder Kraepelin. Der noch sehr junge, fast kindliche Conrad hat seinen natürlichen Gang verloren, nachdem er zuvor nicht den Mut fand, sich gegen die Tierquälerei seiner Spielkameraden zur Wehr zu setzen. Castiletz wird als Opportunist geschildert, der keine Hoffnungen hegt oder Pläne schmiedet, sondern bereits als Kind „Geschäftsdispositionen“ trifft – in dieser leitmotivisch wiederholten Wendung leuchtet sein berechnender Charakter auf. Castiletz schaut, als er eine der vielen Chancen verwirft, die ihm sein Leben bietet, an „dieser Möglichkeit entlang, und in ihre Verlängerung sozusagen durch Augenblicke hinein.“ Es bleibt aber wie immer beim Schauen, denn zum Ergreifen kommt es auch in seinem weiteren Leben nie – der Mord, den jeder begeht, ist die Ermordung seines besseren Selbst. Nachdem Conrad wieder einmal eine Möglichkeit ungenutzt verstreichen ließ – er hätte den Tierquälern Einhalt gebieten sollen –, sind „seine Beine ganz steif, jeder Schritt schüttelte bis in den Kopf hin – er wäre jetzt völlig unvermögend gewesen, etwa eine kleine Strecke zu laufen.“ „Ein Mord, den jeder begeht“ ist 1937 erschienen; ungefähr gleichzeitig (wahrscheinlich 1936) schrieb Doderer seine Erzählung „Das letzte Abenteuer“, in dem ein junger Mensch mit ähnlichen Problemen wie der noch kindliche Castiletz zu kämpfen hat. Denn auch das Leben Gauvains steht an einem Wendepunkt. Zunächst hat der eben erst zum Ritter geschlagene, noch sehr junge Mann eine Unterredung mit einem Marschall, in der ihm „das Schicksal selbst in Gestalt einer weißen glatten Hand“ begegnet, in der ihm also der wohlmeinende Marschall nahelegt, um die Herzogin und ihr Reich zu werben. Unter der Last dessen, was ihm der alte Herr erzählt, verliert Gauvain fast „sein körperliches Gleichgewicht“, und er muss achtgeben, „um beim Gehen nicht zu schwanken.“ Anschließend findet Doderer eine in ihrer Bildhaftigkeit schlagende Formulierung: der Ritter Gauvain empfindet „seinen Leib wie eine aus den Angeln gehobene Tür, die nur leichthin am Pfosten lehnt.“ Weil seine Glieder steif und ungelenk sind, kann er sie „nur an der äußersten Oberfläche als sein eigen“ empfinden. So kann man Befangenheit auch beschreiben: alles Selbstverständliche ist verschwunden, man ist in sich selbst nicht mehr heimisch. Und dann kann man nicht mehr gut gehen.
Vielleicht spielt in keinem Roman der Weltliteratur das Gehen eine größere Rolle als in „Die Brüder Karamasoff“ (ich zitiere diesen Roman nach der Übertragung von E.K. Rashin). Ganz konsequent werden fast sämtliche Figuren des gewaltigen Buches nach ihrer Art des Gehens charakterisiert, und dazu gibt es eine ganze Reihe von Nebenfiguren, deren Beine krank sind und die deshalb überhaupt nicht mehr gehen können – vielleicht aus psychosomatischen Gründen, wie hier und dort angedeutet wird. Auf jeden Fall spricht aus und in der Art des Gehens der Charakter eines Menschen zu uns, wie Frau Chochlakoff Dmitrij Karamasoff erläutert. Als der sich darüber wundert, woher sie ihr Urteil über seinen, Dmitrijs, Charakter und seine Zukunft nimmt, antwortet sie: „selbstverständlich aus Ihrem Gang! Leugnen Sie etwa, daß man den Charakter eines Menschen nach seinem Gang beurteilen kann?“
Links: Titelseite der ersten Ausgabe des Romans Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski, November 1880. Rechts: Porträt des Schriftstellers Fjodor Dostojewski, Öl auf Leinwand (1872) von Wassili Grigorjewitsch Perow, Tretjakow-Galerie, Moskau. Gemeinfrei
Als eines von vielen Beispielen, die uns der Roman bietet, kann uns Iwan Karamasoff dienen, der seinem Bruder Aljoscha, einem Mönch, in einem Wirtshaus die Geschichte vom Großinquisitor erzählt. Als er später fortgeht, fällt Aljoscha „plötzlich auf, daß sein Bruder Iwan gleichsam schaukelnd ging, und daß seine rechte Schulter, von hinten gesehen, niedriger zu sein schien als die linke. Das hatte Aljoscha sonst nie bemerkt.“ Schon bald darauf bricht Iwan zusammen – Frau Chochlakoff hat recht, man kann den Zustand einer Seele wirklich an der Art des Gehens ablesen.
Im Grunde ist der Roman ein Buch über das Schamgefühl, auf das mal der Erzähler, mal eine Figur zu sprechen kommt. Eine prominente Szene findet sich in der Szene beim Staretz (einem besonders heiligen Mönch), wenn ein Mann behauptet, dass es „ohne die Unsterblichkeit kein Schamgefühl geben würde und dass als Konsequenz dann alles […] erlaubt sein [würde], sogar die Menschenfresserei.“
Die Probleme all dieser Menschen mit dem Gehen symbolisieren den Verlust der Einheit mit sich selbst; sie sind typisch für die Agoraphobie, eine Krankheit, die naturgemäß das Gebrechen eines bewussten, oft sogar besonders intelligenten Menschen sein muss. Seiner selbst bewusst ist man in diesem Sinne, wenn man, wie Gauvain von sich selbst „wie losgelöst“ ist, so dass „sein Eigner den redenden Lippen gleichsam“ zusehen kann.
Henry de Groux: Zola aux outrages, 1898, 81x109,5cm. Gemeinfrei
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