Befindet sich immer alles im Wandel? Stimmt es, dass sich fortwährend alles verändert – das eine allmählich, das andere rasend schnell; manches sprunghaft, anderes fließend; das Leblose wie das Lebendige…
Bleibt nichts, wie es ist? Ist es also der Wandel, der die Realität, der unsere Realität ausmacht?
Die Realität ist nichts, das für sich existiert, sondern jede Realität ist immer die Realität eines wahrnehmenden Wesens. Wenn es keine Lebewesen gibt, die sich umschauen und umhören, dann gibt es auch keine Realität. Weil Realität an ein Lebewesen und dessen Standpunkte und Wahrnehmungen gebunden ist, lebt jedes Wesen in einer anderen Realität. Diese mögen sich mehr oder weniger überlappen – sonst könnten sie einander weder wahrnehmen noch sich untereinander verständigen –, aber trotzdem ist jede Realität von der Individualität eines anderen Wesens geprägt. Und mit dessen Wahrnehmung, die immer Wahrnehmung in der strömenden Zeit ist, hängt der folgende Gedanke zusammen, für den ich gerne den poetischen Ausdruck eines großen Philosophen übernehmen möchte.
Mit Ortega y Gasset könnte man sagen: Das Reale badet am Ufer der Zeit, während das Ideale als sein Gegensatz sich jenseits der Zeit befindet – es bleibt deshalb von jeder Veränderung ausgeschlossen. Es wird auch nicht wahrgenommen, sondern gedacht. So stimmt es gar nicht, dass sich alles immer verändert. Vielmehr ist die Zahl als das einfachste Beispiel des Idealen immer und zu jeder Zeit mit sich selbst gleich. Sie wandelt sich nie, und sie wird auch dieselbe sein für uns wie für Wesen auf anderen Sternen. Deshalb ist sie nicht etwa ewig, sondern zeitlos. Und sie ist nicht real.
Ähnlich steht es mit den Gesetzen der Logik. Sollten Marsmenschen oder die Bewohner von Alpha Centauri andere logische Gesetze kennen als wir, dann würde mich das tief nachdenklich machen.
Nicht wenige finden den Unterschied zwischen dem Realen und dem Idealen verzweifelt schwierig, und dabei gehen sie doch selbst damit um. Man denke nur einmal an den Physikunterricht. „Massepunkte und ihre Wirkungen“, so überschrieb unser Physiklehrer den ersten Kurs in der Oberstufe. Um mit einem Gegenstand rechnen zu können, reduziert man ihn auf einen Punkt, indem man von seiner Form, seinem Umfang und seinem Material absieht, von seiner Farbe oder seiner Entstehungsgeschichte ganz zu schweigen. Von allem, was einen Gegenstand individuell macht, abstrahiert man, und schließlich erhält man einen „Massepunkt“. Dieser lässt sich nicht wahrnehmen, sondern nur denken, und er ist nicht real, sondern ideal. Und seiner Idealität wegen ist er nicht individuell, sondern allgemein.
So ist das Ideale nur ein Schatten des Realen; das Reale ist reich, funkelnd und immer interessant, das Ideale ist abgespeckt, karg, arm. Und vielleicht ist es auch uninteressant, auf jeden Fall uninteressanter als die Realität. Aber deshalb kann man mit ihm rechnen, wogegen uns das Reale immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Es ist so unberechenbar, weil es so reich an Eigenschaften ist. Diese sind es, die sich fortwährend verändern.
Der ideale Gegenstand dagegen bleibt sich immer gleich. Er besitzt nur ein oder zwei Eigenschaften, zum Beispiel ein bestimmtes Gewicht, aber der reale Gegenstand verändert sich fortwährend. Er besitzt buchstäblich unzählige Attribute, deren Mehrzahl einem steten Wechsel unterliegt. So ist es zunächst die Vielzahl der Eigenschaften, die die Realität ausmachen, sodann deren niemals ruhende Veränderung. Seit Heraklit und seinem berühmten Spruch über den Fluss, in den man niemals zweimal steigen kann, sind diese Zusammenhänge bekannt und ein wichtiges Thema in der Philosophie. Auch in unserer Zeit – spätestens seit Alfred North Whiteheads Klassiker „Prozess und Realität“ („Process and Reality“, 1927/29) – ist steter Wandel, ständiges Sich-Verändern ein wichtiges Thema in der Philosophie auch des 20. Jahrhunderts. Seit seiner Übersetzung durch Hans Günter Holl (1979) wird dieses Buch auch in Deutschland von einer kleinen Gemeinde mit großer Intensität diskutiert, und in Düsseldorf gibt es sogar eine Whitehead-Gesellschaft.
In letzter Zeit sind mehrere Bücher zum Thema Wandel dazugekommen: „Metamorphosen“ vom italienischen Philosophen Emanuele Coccia, „Im Fluss – Leben in Bewegung“ von Wolfgang Welsch sowie „Der symbiotische Planet“ der Biologin Lynn Margulis. Alle drei Autoren dürfen eine gewisse Prominenz für sich beanspruchen; Emanuele Coccia erwarb erst kürzlich eine gewisse Bekanntheit mit seinem großen Erfolg über Pflanzen („Die Wurzeln der Welt“, 2019), der dreißig Jahre ältere Wolfgang Welsch schließlich ist Emeritus der Universität Jena mit einer Fülle von Veröffentlichungen und Margulis war eine renommierte Hochschullehrerin und Forscherin.
Coccia schließt sich in seiner Darstellung der Evolution ganz an Margulis an, die den Planeten Erde „Gaia“ nennt und die man deshalb für eine Esoterikerin halten könnte. Aber das wäre der Autorin nicht recht, und so macht sie deutlich, dass die Erde nicht „einen einzigen Superorganismus“ darstelle oder ein Lebewesen sei. Vielmehr ist „Gaia […] die regulierte Erdoberfläche, die unaufhörlich neue Umgebungen und neue Lebewesen hervorbringt.“
Die 2011 verstorbene Margulis scheint eine bedeutende Forscherin gewesen zu sein, die einen wesentlichen Beitrag zu einer veränderten Sicht auf die Evolution geleistet hat. „Wie die Evolution wirklich verlief“ heißt es selbstbewusst im Untertitel ihres Buches, in dem sie nicht allein die Artenbildung, sondern die Evolution insgesamt auf den Zusammenschluss verschiedener Lebensformen zurückführt. Sie nimmt als den Antrieb der Evolution und Ursache der Artenbildung Verschmelzungen verschiedener Genome an, also das Zusammengehen verschiedener zuvor selbstständiger Organismen, und kennt damit nicht nur den sich verzweigenden Baum der Evolution, sondern auch eine Vereinigung von Zweigen: „Anastomose“, netzbildende Zweige. „Der Baum des Lebens“, schreibt sie in einem anderen, etwas unstimmigen Bild, „ist ein verwickeltes, verwobenes, pulsierendes Gebilde mit Wurzeln und Ästen, die sich unter der Erde und in der Luft treffen, um sonderbare neue Früchte und Kreuzungen hervorzubringen.“
Alles Leben, lehrt sie, entstehe aus der Symbiose eigentlich fremder Lebensformen, so dass alle höheren Lebensformen Chimären seien. Insbesondere den Bakterien und ihrem Zusammenleben mit pflanzlichen oder tierischen Organismen kommt in ihrem Entwurf eine große Rolle zu. Das ist eine möglicherweise weiterführende, auf jeden Fall plausible Theorie. Der Rezensent kann ihre Triftigkeit nicht wirklich beurteilen, aber es ist offensichtlich, dass Margulis einige Antworten auf Fehlstellen der Evolutionstheorie gibt – sie hat Probleme gesehen, die sonst gern verschwiegen werden. Aber leider ist das Buch selbst schwach, weil mit nicht zum Thema gehörenden biographischen Abschnitten durchsetzt – sie machen wohl ein Drittel des Textes aus – und weil die Autorin nicht ernsthaft versucht hat, interessierte Laien in ihr Forschungsgebiet einzuführen.
Der Italiener Ciocca, in dessen von der Kritik gelobtem Buch die interessanten Teile auf Anregungen von Margulis zurückgehen, ist wesentlich wolkiger als die Amerikanerin. Leitmotiv seines Buches und neben Metamorphose das meistbenutzte Wort ist „das Leben“. „Im Anfang waren wir alle ein Leben. Wir teilten uns denselben Körper und dieselbe Erfahrung.“ Schon hier stellen sich ziemlich viele Fragen – von welchem „Wir“ spricht er, wieso können „wir“ uns plötzlich an den Anfang erinnern (ich weiß gar nichts davon!), und warum sind wir „ein“ Leben und nicht ganz viele? Zweifellos stimmt es, dass alle Lebewesen dieser Erde in irgendeiner Weise miteinander verwandt sind, aber sind wir deshalb „siamesische Zwillinge, die nicht aufhören können, den Körper der anderen zu nutzen, aufzunehmen oder sich im Körper der anderen zu reinkarnieren“? Immer wieder hat man den Eindruck, dass sich der Autor von seiner Rhetorik mitreißen lässt. Hätte er nicht einen Augenblick innehalten und sich fragen sollen, ob siamesische Zwillinge wirklich den anderen Körper aufnehmen oder sich in ihm reinkarnieren? Ist das nicht direkter Unfug?
Den Prozess, in dem sich „das“ Leben in viele einzelne Gestalten teilt, nennt er „Metamorphose“. Das ist sein Schlüsselwort, aber es ist leider auch ein ganz unpassender Begriff, denn Metamorphose meint den radikalen Gestaltwandel eines einzelnen Wesens, zum Beispiel den einer Schmetterlingslarve in das geschlechtsreife Insekt. Die Evolution ist deshalb keineswegs eine Aufeinanderfolge von Metamorphosen und die Menschheit natürlich keine „Metamorphose früheren Lebens“. Aber das Verhältnis zwischen der Raupe und dem Schmetterling bietet das Modell, mit dem Coccia das Leben überhaupt deutet: „Das Leben ist nur der Schmetterling der Riesenraupe Gaia, das Leben ist die Metamorphose dieses Planeten.“ Nichts für ungut: Das ist schlicht Blödsinn.
Coccia liebt die große Geste, und nicht selten wird sein Vokabular direkt religiös, zum Beispiel, wenn er eine jede Geburt als „eine Form der Metamorphose Gottes“ ansieht. Legt Margulis noch Wert darauf, dass Gaia kein einzelner Organismus ist, so sind wir selbst, ja so sind alle Lebewesen auf diesem Stern Verwandlungen eines Gottes… Sagt jedenfalls Coccia.
Und wir sind nicht allein mit allem Leben eins, sondern auch zwischen „dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen besteht keinerlei Gegensatz.“ Das dürfte der Autor vielleicht sagen – vielleicht! –, wenn er von kontradiktorischen Gegensätzen spräche, wenn er also sagen wollte, dass es zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen fließende Übergänge gibt, als die man zum Beispiel gewisse primitive Lebensformen oder auch unser Haar ansehen könnte. Aber alles für eins zu erklären… widerspricht ihm nicht die Verneinung zu Beginn des „Nicht-Lebendigen“? – Natürlich ist das eine der unzähligen Aufnahmen des Kontinuitäts-Postulats, das zuerst Leibniz formulierte und sich seither, wie ein roter Faden durch die europäische Geistesgeschichte zieht.
Viele Autoren unserer Zeit – zwei der bekannteren unter ihnen sind der Amerikaner Daniel Dennett und sein Kumpel, der noch berühmtere Brite Richard Dawkins – sind ebenfalls Anhänger der großen Kontinuitätsthese und wenden sich deshalb strikt gegen die „aristotelische Ordnungsliebe“, die zwischen verschiedenen Arten unterscheide. Auch bei Coccia geht alles ineinander über, denn wir sind ja alle „ein Leben“. Margulis dagegen argumentiert anders und betont, dass die heutige Taxonomie nicht brauchbar sei, wir aber gleichwohl „eine zusammenhängende, verständliche, sinnvolle Taxonomie“ brauchen. Und sie formuliert auch einen Vorschlag, der sich auf die Analyse der Erbanlagen stützt.
In Coccias Buch ist der Begriff des Lebens wie so vieles anderes vollkommen ungenau. Was ist damit gemeint? Eine Substanz? Eine Form der Selbstorganisation der Materie? „Das Leben, das uns belebt, gehört nicht uns allein, es kann […] auf einen Körper und auf ein Individuum übergehen, das nichts mehr […] mit uns teilen wird.“ Das Leben ist „unbestimmt, allesfressend und lässt keine Möglichkeit der Veränderung aus.“ Ähnlich ungenau (und „ungenau“ ist noch höflich) ist die Behauptung, Metamorphose sei die „Kraft, vermöge derer alles Lebendige sich gleichzeitig und nacheinander in verschiedentlicher Gestalt entfaltet“. Eine Kraft? Doch wohl eher ein Vorgang.
Coccia ist sehr belesen, und man kann in seinem Buch interessanten Gedanken begegnen – durch ihn bin ich auf Margulis aufmerksam geworden –; aber seine eigene Argumentation ist so fragwürdig und schwach wie seine Wortwahl fehlerhaft. Sein Buch – besser: sein Schmöker – ist sehr gut lesbar, kann aber überhaupt nicht überzeugen.
Ist das Leitmotiv Coccias die Metamorphose, so ist es im Buch von Wolfgang Welsch der „Transit“. „Im Fluss“ ist eine Kurzfassung des dickleibigen „Homo mundanus“, die eine Philosophie ganz im Zeichen eines von Darwin und Haeckel abhängigen Evolutionismus ausbreitet. In dem neuen Buch wird weniger ausführlich zitiert und ein anderes Vokabular ausgebreitet, aber wie schon in dem älteren Buch stellt Welsch in „Im Fluss“ fest, „dass das Leben konstitutiv ein Leben im Transit“ sei: „Wenn Verflechtungen und Übergänge die wirkliche Verfasstheit von allem kennzeichnen, dann sollten wir unsere Weltsicht nicht weiterhin mit Substanz- und Ansichseinsvorstellungen knebeln, sondern uns auf diese Transitivität einlassen.“ Schon hier, im Anfang des Buches, werden die Ebenen verwechselt, denn auch das, was sich wandelt, kann sich doch unter einem Begriff erfassen lassen – unter einem statischen Begriff. Wenn sich immer nur alles wandelte, dann könnten wir uns überhaupt nicht mehr orientieren. Man braucht Wesensbestimmungen (also das Ideale), um Ordnung in das Reale zu bekommen.
Also auch bei Welsch, wie bei Coccia, geht alles ineinander über, auch für ihn ist der Gedanke einer umfassenden Kontinuität von zentraler Bedeutung: „Heute gilt es, die Kontinuität zwischen Natur und Mensch zu erkennen“. Später formuliert er sein Glaubensbekenntnis in einem einzigen Satz: „Was nahtlos aneinander anschließt, ist auseinander hervorgegangen“. Wenn alles „nahtlos“ ineinander überginge, gäbe es weder in der Fauna noch in der Flora Arten, und den Quatsch mit der Taxonomie sollte man sich dann sparen.
Es ist zweifellos ein Verdienst von Welsch (wohl ein unfreiwilliges…), das Kontinuitätstheorem ad absurdum zu führen, denn er findet den Geist schon in den allerersten Anfängen, im Urknall: „Die Theorien der Selbstorganisation und der Emergenz erklären zudem, wie Geist in einem langen Steigerungsprozess aus anfänglichen Phänomenen der Selbstbezüglichkeit (wie sie schon in der Bildung von Galaxien und Atomen vorlagen) hervorgegangen ist.“ Die Ursprünge der Reflexion sollen also in der Gravitation liegen, in der gegenseitigen Anziehung der Materie, aus der irgendwie der Geist hervorgeht. Schon in seinem Opus magnum „Homo mundanus“ vertritt er dieselbe These. In diesem Buch aber gibt der Autor an späterer Stelle selbst das Selbstverständliche zu, dass nämlich ein „Stein keinerlei Selbstbezug“ aufweist, er also nichts besitzt, das auch nur von fern an Reflexion erinnert – wie also hätte aus ihm der Geist hervorgehen können? Oder das Leben?
Wenn man, wie es die hier behandelten Autoren tun, eine große Kontinuität annimmt, braucht man auf diese Fragen nicht mehr zu antworten, weil schon im Stein der Geist wohnt – aber wie man sieht, glauben sie selbst nicht ernsthaft daran, dass ein durchschnittlicher Stein so etwas wie ein Selbstverhältnis entwickelt und sich selbst empfindet oder über sich selbst nachdenkt. Und das Universum im Urknall wird es wohl ebenso wenig getan haben.
Man kann aber auch Gutes über das Buch von Welsch sagen. Die beiden letzten Kapitel behandeln Probleme der Kunst – hier zitiert er Leonardo, der für ihn das Vorbild eines Künstlers ist –, und formuliert eine liberale Stellungsnahme zur Identitätsproblematik. „Identität“, schreibt er, seiner These treu, „ist nichts Statisches, sondern ein Vollzugsprodukt.“ Und er fügt hinzu: Wir sind „alle kulturelle Mischlinge“. Damit dürfte er recht haben.
Aber leider sind seine Argumente nicht philosophisch, sondern biologistisch, denn er fordert, dass wir Menschen uns „von unserer evolutionären Genese und unserer Verbundenheit mit der Natur“ her begreifen sollen. Wie Coccia, so nimmt auch er den heute geläufigen Gedanken auf, nach der jeder „nur im Verbund mit einer Vielzahl von Mikroorganismen lebensfähig“ ist, und wie schon zuvor in seinem sehr umfangreichen Hauptwerk, in „Homo mundanus“ (2012), kritisiert Welsch den von ihm selbst das „anthropische Prinzip“ getauften Grundsatz, dass in allem vom Menschen auszugehen sei. Er dagegen sieht den Menschen innerhalb eines natürlichen, evolutionär entstandenen Wirkgefüges als eines von vielen Wesen und lehnt als treuer Anhänger Darwins und Haeckels jede Sonderstellung des Menschen ab. Auch deshalb möchte er nicht vom „Anthropozän“ sprechen, einer vom Menschen geprägte Epoche der Erdgeschichte, sondern vom „Zoozän“, denn prägend für diese Epoche der Erdgeschichte seien die Tiere insgesamt, zu denen er auch den Menschen zählt. Es ist also nur konsequent, wenn er seine eigene Perspektive „theriomorph“ (eigentlich „tiergestaltig“) nennt.
Bei dieser Gelegenheit sei beiläufig auf einen eleganten Essay von Burkhard Müller im letzten „Merkur“ hingewiesen (Nr.865, Juni 2021), dessen Überlegungen zufolge es dem Anthropozän „am Wichtigsten“ fehle, „der Dignität der Dauer.“ Mit anderen Worten: Die Zeit des Menschen wird viel zu schnell vorbeigehen, als dass es sich lohnte, ein ganzes Erdzeitalter nach ihm zu benennen, allem scheinbar unzerstörbaren Plastikmüll zum Trotz. Und Zoozän ist auf der anderen Seite vielleicht ein klein wenig zu unscharf, denn auch die Zeit der Dinosaurier, ja noch die Epochen davor müsste man dazurechnen.
Wenn man über den Wandel spricht, über die stete Verwandlung von allem, dann braucht man keinen Evolutionismus, weder in der Fassung von Coccia noch in jener von Welsch. Nicht, dass es falsch ist, eine Entwicklung des Lebens in der Zeit anzunehmen, aber es ist überhaupt nicht notwendig, um das Flüssige, das sich Verändernde der Realität zu erfassen. Denn der stetige Wandel von allem (der sowohl mit Metamorphose als auch mit Transit ganz falsch beschrieben ist), hat zunächst mit der Wahrnehmung zu tun. Alle selbstbeweglichen Organismen – alle Tiere und natürlich auch der Mensch – sind nicht nur sensitiv, wie die passiven Pflanzen, sondern nehmen aktiv wahr. Sie empfangen nicht einfach Sinnesdaten, sondern wenden sich ihrer Umwelt zu. Es gibt keine Wahrnehmung, wenn sich ein Organismus nicht bewegen kann, und umgekehrt kennt kein Organismus Bewegung, der nichts wahrnehmen kann.
Jede Wahrnehmung vollzieht sich in der Zeit. Der stete Wandel der Attribute eines Gegenstandes, die nie unterbrochene Veränderung seiner verschiedenen Eigenschaften und damit der Reichtum einander ablösender Attribute, gehört zu den Charakteristika der Realität. Weil auch einfache Lebewesen wie zum Beispiel Würmer eine Realität kennen – nur eben nicht unsere, sondern eine ganz andere –, muss und wird es diesen Wechsel auch für sie geben. Auch sie leben in einer Welt, die sich fortwährend wandelt.
In seinem Buch „Die Vielfalt des Seins“ hat der Autor dieser Besprechung den Zusammenhang der Realität mit ihrer steten Veränderung dargestellt und insbesondere das Kontinuitätspostulat einer scharfen Kritik unterzogen.
Emanuele Coccia: Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung
Aus dem Französischen von Coroline Gutberlet. 208 Seiten
Hanser Verlag 2021
978-3446269279
Wolfgang Welsch: Im Fluss. Leben in Bewegung
175 Seiten
Matthes & Seitz
Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief
Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel. 208 Seiten
Westend Verlag 2017
978-3864892103
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