Zu den eindrucksvollsten Erlebnissen bei einem Besuch der Universitätsbibliothek von Uppsala gehört der „Codex Argenteus“, die mit silberfarbener Tinte auf purpurgefärbtes Pergament geschriebene Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila aus dem 4. Jahrhundert.
Eine Bibel in Gotisch – das war die Grundlage, auf der Germanistikstudenten diese frühe germanische Sprache lernen mussten, in der man das „Vaterunser“ noch ganz gut wiedererkennen kann: »atta unsar þu ïn himinam«.
Ein gotisches Buch in Schweden? Das klingt logisch, denn schließlich nennt sich eine große Ostseeinsel nach den Goten, zwei Regionen sowie eine wichtige Stadt tragen zusätzlich ihren Namen, und das Schwedische ist mit den germanischen Sprachen und damit mit dem Gotischen eng verwandt. Nur stammt das Evangeliar aus einem süddeutschen Kloster und wurde wahrscheinlich in Italien geschrieben, und die Eltern des Bischofs Wulfila stammten aus Kappadokien, dem Osten der Türkei. Und wo hat er gewirkt? Am Unterlauf der Donau!
Wenn die Goten (vielleicht…) nicht aus Schweden stammen und wenn sie nicht am Lauf der Weichsel in Richtung Schwarzes Meer gewandert sind, wenn sie also ein nahöstliches Volk gewesen sein sollten – warum sprachen sie eine germanische Sprache? Und wie könnten dann schwedische Regionen nach ihnen benannt sein? So oder so, es ist sehr verwirrend.
Die Geschichte des neben den Goten anderen wichtigen Volkes der Völkerwanderung kann nur deshalb nicht noch verwirrender sein, weil wir noch weniger über die Hunnen wissen. Vielleicht handelt es sich bei ihnen um ein Reitervolk, das vor seinem Eintreffen im östlichen Europa die Westgrenze Chinas beunruhigte? Immerhin klingt „Xiong-nu“ so ähnlich wie das lateinische „Chunni“. Für den großen englischen Historiker Edward Gibbon stand es fest, dass die Hunnen eben aus dem äußersten Osten kamen.
In jedem Fall ging von den Hunnen die größte Gefahr aus, da sind sich die zeitgenössischen Quellen einig, in denen die Krieger aus den asiatischen Steppen wie leibhaftige Teufel geschildert werden, ebenso bösartig wie hässlich und dazu nahezu unbesiegbar. Seit langem gelten sie als ein wesentlicher Faktor der Völkerwanderung, weil sie andere Völker aus ihrer Heimat vertrieben, die wiederum andere Stämme angriffen… Und so weiter: Mischa Meier nennt das die „Dominotheorie“. Aber über die Sozialstruktur, die hunnische Kultur und ihre Stammessitten weiß man so gut wie nichts, ja man kennt nicht einmal einzelne Wörter ihrer Sprache, und Attila (war er wirklich der „Etzel“ des Nibelungenliedes?), trug einen gotischen Namen, der „Väterchen“ bedeutet. Zu welcher Sprachengruppe das hunnische Idiom gehörte, weiß man nicht.
Warum schreibt man über die Völkerwanderung? Oder warum soll man über sie lesen? Sie liegt so unendlich lange zurück, und man weiß so wenig, auch wenn man über die Ereignisgeschichte und über die Namen der Akteure ganz gut orientiert ist; aber alles Wichtige ist uns immer noch verborgen, denn über die Motive für die Bewegungen der „Kriegerkoalitionen“ (das trifft es vielleicht besser als „Völker“) oder über ihre Kultur weiß man auch bei den europäischen Verbänden nicht viel mehr als bei den Hunnen. Warum also eine „Geschichte der Völkerwanderung“? Weil sie an Ereignisse unserer Tage erinnert? Angesichts der Geschehnisse der letzten drei, vier Jahre legt der Autor Wert darauf, dass er den Plan zu seinem Buch bereits 2006 fasste – ein solcher Foliant braucht eben Zeit – und dass er „übereilten Analogien“ aus dem Weg ging. Wirklich versucht er sich an derartigen Parallelisierungen, so nahe sie auch gelegentlich zu liegen scheinen, kein einziges Mal. Allerdings zeigt er an einer Stelle, dass nach seiner Überzeugung die Aufteilung des Balkans immer noch von den Ereignissen jener Epoche gezeichnet ist; das gilt insbesondere für die „Grenze zwischen den Staaten Bosnien-Herzegowina und Serbien“ und die Aufteilung „zwischen einem katholischen (bzw. muslimischen) und einem orthodoxen Balkan.“
Mischa Meier ist nicht nur ein angesehener Professor in Tübingen, sondern auch Autor erfolgreicher Bücher über die alte Geschichte. Für dieses in jeder Hinsicht schwergewichtige Werk hat er eine ungeheuerliche Zahl von Quellen und wissenschaftlichen Texten studiert – das Literatur- und Quellenverzeichnis umfasst mehr als einhundert großformatige Seiten! –, und er hat sich auch nicht ganz erfolglos um die gute Lesbarkeit seiner Darstellung bemüht. Das erste Kapitel, „Barbaren vor Konstantinopel und Rom“, schildert die dramatischen Auseinandersetzungen der beiden Zentren der römischen Welt mit ihren Angreifern, wobei Konstantinopel sich 626 retten konnte, wogegen Rom sich dem Goten Alarich bereits 410 ergeben musste. Für Rom war es noch nicht das Ende, aber dieses Ende wurde durch die Niederlage eingeleitet.
In dem ersten Kapitel wird von Meier nicht nur gezeigt, wie verschieden beide Städte und ihre Reiche waren, sondern auch, wie schwierig es ist, die Vorgänge vor wie nach der Eroberung zu bewerten. Denn mag es auch prima vista ein Riesenerfolg gewesen sein, das ewige Rom einzunehmen, und mochten die Goten auch phantastische Schätze davongeschleppt haben – die Probleme Alarichs hatten sich keineswegs aufgelöst: „Die Goten waren gefangen – politisch und geographisch.“
Meier schreibt nicht trocken und langweilig, aber er ist auch kein Autor des 19. oder gar (wie Gibbon) des 18. Jahrhunderts, der einfach naiv drauflos erzählt. So etwas wie die folgende Episode aus dem Klassiker Edward Gibbons – „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ – würde sich kein Historiker unserer Tage erlauben: „Tobendes Geschrei und das Stöhnen Sterbender setzten Fridigern von der äußersten Gefahr, in welcher er schwebte, in Kenntniß […]. Wildes Freudengeschrei bewillkommete die Feldherren der Gothen in ihrem Lager, Krieg wurde unverzüglich beschlossen und der Beschluß ohne Aufschub ausgeführt: die Fahnen der Nation wurden nach dem Gebrauche ihrer Altvordern aufgerollt und die Luft widerhallte von den rauhen Klagetönen der Barbarenhörner.“
Meier ist vieles fragwürdig, was für seine Vorgänger kein Problem darstellte. In dem vielleicht interessantesten Teil des Buches demonstriert er dem Leser im Anschluss an das erste Kapitel die „Schwierigkeiten, die Völkerwanderung zu erzählen“. Einerseits weiß man wirklich nicht viel, andererseits mag heute kein seriöser Historiker mehr so einfach von „Nationen“, „Völkern“ und „Stämmen“ erzählen, schon deshalb, weil man vermutet, dass zu jedem Verband viele Angehörige anderer Ethnien gehörten. Ein von Meier häufiges angeführtes Beispiel ist ein Grieche, der sich den Hunnen angeschlossen hatte, in deren Reihen sonst noch Goten oder Sarmaten kämpften. Umgekehrt gehörten zu den gotischen Verbänden Angehörige fremder Völker. Und die Römer selbst hatten viele Barbaren und natürlich noch deren Abkömmlinge in ihren Reihen. Eine „Zeit der Völkerwanderung“ kennt deshalb allein die deutsche Sprache, denn im Englischen heißt es „Migration period“ oder „Barbarian invasions“, im Spanischen „Periódo de las grandes migraciones“.
Für viele Leser werden die kulturhistorischen Aspekte die wichtigsten sein, aber wahrscheinlich ist es gar nicht möglich, diese Neugier auf seriöse Weise zu befriedigen. Wie muss man sich die Züge so vieler Menschen tatsächlich vorstellen – es gab doch keine Landstraßen, auf denen Ochsenwagen hinunterrollen konnten. Oder doch? Wie sah es aus, wenn Zehntausende vor den römischen Befestigungsanlagen kampierten und auf Einlass hofften, weil sie halbverhungert waren oder weil sie auf Land hofften, auf dem sie siedeln und zur Ruhe finden konnten? Das vielleicht interessanteste Kapitel des ganzen Buches lebt ganz und gar von dem singulären Bericht eines oströmischen Diplomaten, der Attila irgendwo auf dem Balkan an seinem Hof besuchte und die Zustände dort ziemlich anschaulich schilderte. Leider gibt es kein anderes Zeugnis dieser Art.
Wo die Quellen es möglich machen, bietet Meier lebhafte Schilderungen. Dies gilt zum Beispiel für die epochale Schlacht bei Adrianopel, bei der die Römer unter dem Kaiser Valens eine tatsächlich totale Niederlage gegen ein Heer aus Goten und Hunnen erlitten. Aber sonst? Die Ereignisgeschichte – kriegerische Auseinandersetzungen, Hofintrigen und dergleichen – gerät leicht etwas unübersichtlich und wenig anschaulich, weil man ja mit praktisch keinem Namen ein Gesicht verbindet. Die große Politik produzierte nur Titel und Namen, und diese sind Schall und Rauch, selbst bei den Kaisern und den großen Feldherren; wer eben in Rom herrschte oder einen Barbarenverband anführte – man sieht ihn nicht vor sich. Könnte unter diesen Umständen die Niedergangsgeschichte Roms interessanter sein, als es die der Barbaren ist?
Denn eine Geschichte dieser Epoche muss zwei Seiten haben; es gibt ja nicht allein die umherziehenden Verbände, die flüchten müssen oder erobern und plündern oder auch nur eine neue Heimat suchen, sondern das Römische Reich, dessen östlicher Teil die Turbulenzen so einigermaßen überstand, für dessen westlichen Teil aber die Barbaren das Sterbeglöcklein läuteten. Zum Beispiel Nordafrika, eine damals römische Provinz, eine wohlhabende Kornkammer und damals ganz und gar christlich; Meier schildert die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Parteien, und er macht auch verständlich, aus welchen vielfältigen Gründen diese Provinzen gefährdet waren und schließlich abfielen. Noch anders sieht es im Osten aus, wobei ich mir nicht sicher bin, ob auch dieser Teil des Geschehens unter „Völkerwanderung“ abgeheftet werden sollte, denn die Auseinandersetzungen Ostroms mit dem (persischen) Großreich der Sassaniden hatten doch nichts mit den Kämpfen und Scharmützeln mit den Goten, Hunnen oder Wandalen zu tun. Schon für Gibbon waren diese Geschehnisse wichtig (allerdings als Untergangsgeschichte Roms), und so werden diese Auseinandersetzungen auch von Meier ausführlich geschildert; und wieder muss der Historiker zugeben, vieles nicht zu wissen, denn wer als Hunne bezeichnet wurde – zum Beispiel –, der brauchte kein Hunne zu sein. Aber was war er dann?
Besonders Hunnen und Römer waren nicht einfach Gegner, sondern einerseits versuchten die Römer, die Barbaren in ihr Reich und besonders in ihre Armee einzugliedern, um von ihrer Stärke und Vitalität zu profitieren; und andererseits lebten die Barbaren vom Reichtum der römischen Welt. „Der dauerhafte Konflikt mit den Römern war für den Hunnenverband geradezu von existenzieller Bedeutung, denn er ermöglichte den Transfer von Luxusgütern, deren Verteilung innerhalb der Kriegergesellschaft statuskonstituierend wirkte.“ Meier zeigt, mit welcher Brutalität – Überläufer, auf deren Herausgabe er stets bestand, wurden gekreuzigt – Attila auf die Scheidung beider Völker achtete, dass er aber selbst ein Näherkommen beider Reiche nicht für immer ausschließen konnte. Kurz vor seinem Tod wollte er sogar eine Schwester des Kaisers heiraten! Als die Hunnen 451 auf den Katalaunischen Feldern besiegt wurden und er selbst kurz darauf starb, brach ihr Reich in kürzester Zeit zusammen.
Im Grunde ist es nicht allein eine Geschichte der Wanderungen großer kriegerischer Verbände, sondern ebenso eine Erzählung vom Untergang des Römischen Reiches oder eine Geschichte, wie der Westen des Reiches sich auflöste, sein Osten aber weiterlebte – noch fast tausend Jahre. Dabei spielte natürlich die Religion eine wesentliche Rolle, und die theologischen Kontroversen zwischen den Arianern und den Katholiken (Theoderich der Große zum Beispiel war Arianer) oder zwischen Miaphysitisten und Dyophysitisten (die einen glaubten an die eine Natur des Erlösers, in dem Göttliches und Menschliches zusammengeflossen waren, die anderen an eine Art Doppelnatur) werden nicht nur im Vorbeigehen dargestellt. Als wichtigstes Ergebnis dieser Epoche vollzog sich die Liturgisierung als „ein tiefgreifender Prozess religiöser Durchdringung des Alltags, der sich seit Mitte des 6. Jahrhunderts beobachten lässt und eine nachhaltige sakrale Aufladung der oströmischen Bevölkerung und ihrer Handlungsbezüge generierte“. Die Liturgisierung, erläutert Meier, „schuf den Ermöglichungsraum für die Ausbildung des Islam und erzeugte rasch Rückkoppelungseffekte“. Er bringt diesen Vorgang auch mit der Geburt des Islam in Verbindung, und da zeigt sich ein Grund, warum man ein solches Buch lesen sollte: Es hilft, die Gegenwart zu verstehen, und zwar ganz ohne Parallelisierungen und Vergleiche.
Mischa Meier hat einen geradezu ungeheuerlichen Stoff nicht nur einfach dargestellt, sondern tatsächlich bewältigt; er ist nicht allein ein Gelehrter, sondern auch ein fähiger Autor. Die erzählerischen Spannungsbögen sind erstaunlich! An den Niedergang Roms schließen sich (das ist die zweite Hälfte des Folianten) die Reiche der Vandalen, der Ost- und Westgoten, der Langobarden und so weiter an – die Erzählung rückt gelegentlich sehr nahe an das frühe Mittelalter. Der historisch eher durchschnittlich gebildete Leser – der Rezensent rechnet sich zu dieser Gruppe – kann angesichts dieser Gelehrsamkeit nicht bewerten oder korrigieren, sondern sich allenfalls hier und dort an andere Darstellungen erinnern, etwa an das epochale „Verfall und Niedergang des römischen Reiches“ von Edward Gibbon, das sich auch in seinem Bücherschrank findet; oder er mag daran denken, dass anders als Meier viele Literarhistoriker nicht mehr daran glauben, dass Hildebrandslied und Nibelungenlied Geschehnisse des 5. Jahrhunderts erinnern und in Dietrich von Bern Theoderich den Großen, in Etzel Attila darstellen.
Natürlich handelt es sich um eine sehr ferne Zeit, von der wir nur nebelhafte Kenntnisse haben. Und doch kann man aus der Lektüre viel lernen. Denn gerade die Behandlung des Stoffes durch Meier zeigt, wie fragwürdig es ist, von Nationen und Völkern, von ihrem Charakter und von ihrer Kultur zu sprechen, als handle es sich um unveränderliche Tatsachen. Und dazu kann man sich klarmachen, wie sehr alles – wirklich alles – nicht nur historisch geworden ist, sondern eben deshalb auch jederzeit wieder vergehen kann. Das zeigt nicht zuletzt die unglaubliche Schnelligkeit, mit der während der fraglichen Zeit Reiche entstanden und wieder zu Staub wurden – besonders das Vandalenreich in Nordafrika, aber nicht allein dieses.
Mischa Meier: Die Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.
C.H. Beck 2019, 1532 Seiten978-3406739590
Leseprobe
Abbildungsnachweis: Alle Quelle: Wikipedia
Header. Karte der Völkerwanderung
- Buchcover
- coxex argenteus
- Theoderich Mausoleum, Ravenna
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