Nach den G20-Krawallen in Hamburg im Juli 2017 hat die Flora eine traurige Berühmtheit erlangt. Als „Trutzburg Linksautonomer in Deutschland“, als „Freiraum autonomer Lebensverwirklichung“ ging sie durch die Presse.
Aber kennen Sie die wechselvolle Historie des Gebäudes aus der Gründerzeit, die sich auch in seiner heutigen Architektur widerspiegelt?
Das Hamburger Stadtviertel Sternschanze, dessen Name auf eine sternförmige Verteidigungsanlage der Wallanlagen zurückgeht, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein kaum bebautes Gebiet. Nach Schleifen der Anlagen entstand zunächst ein Wohn- und Gewerbegebiet für Kleinhandwerker und Arbeiter. Ein Teil gehörte zu Altona und war somit dänisches, später preußisches Staatsgebiet, ein anderer Teil zum Hamburger Stadtgebiet Eimsbüttel. Das „Schulterblatt“, eine nach Pinneberg führende Landstraße, war die Grenze zwischen Altona und Hamburg. Mit der Eröffnung des Bahnhofs Sternschanze entstand 1866 eine Verbindung zwischen dem Hamburger Hauptbahnhof und dem preußischen Bahnhof Altona. Mit dieser neuen Verkehrsverbindung vollzog sich auch ein Wandel des Quartiers: vom Arbeiterviertel zu einem beliebten Wohnquartier für betuchte Bürger. Noble Hotels, Cafés und Restaurants, Unternehmen wie der Ende der 1890er Jahre in die Vorstadt Hamburgs verlegte „Central Schlachthof“, die Schreibgerätefirma Montblanc und Adolph Ladiges, Hersteller für Glaswaren und Beleuchtungsartikel, oder der New Yorker Klavierhersteller Steinway&Sons siedelten sich an.
Zwischen der heutigen Sommerhuder Straße und der Oelkersallee eröffnete bereits im Jahr 1835 das erste Ausflugslokal mit Sommertheater, das „Sommerhuder Tivoli“. Rund zwanzig Jahre später kaufte der Hamburger Gastronom H.F.Ph. Schmidt das Gelände am Schulterblatt 71 und 73. Unter dem Namen „Schmidts Tivoli“ errichtete er hier einen zweigeschossigen Fachwerkrundbau mit einer Bühne und Orchesterraum, einem Garten mit Teich und Springbrunnen, Tierkäfigen und Karussells. Gespielt wurden Possen und Lustspiele von Johann Nestroy und William Shakespeare, Opern wie Rossinis „Barbier von Sevilla“ und Webers „Freischütz“. Die Aufführungen waren gut besucht; das Etablissement avancierte durch die Aufhebung der Torsperre 1861 zur lokalen Attraktion für Theaterfans und Nachtschwärmer. Nach mehreren Besitzerwechseln kam dann Ende der 1880er-Jahre der Verkauf und Abriss. Die neuen Betreiber, die Gastronomen Theodor Mutzenbecher und Roland Wilhelm Lerch, errichteten vom Schulterblatt 71 und 73 bis zur heutigen Juliusstraße/Lippmannstraße das „Concert- und Gesellschaftshaus Flora“.
Nach den Plänen des Architekten Johannes Liedtke (1845-1895) entstand am Schulterblatt ein zweigeschossiger Neo-Renaissancebau mit Eckrisaliten und einem mit Ziergiebeln und Balustraden bekrönten Satteldach. Säulen, Rundbögen und Dreieckgiebel schmückten Fenster und Portal. Vom Schulterblatt und der gegenüberliegenden Lippmannstraße führten gusseisernen Rundbögen mit Blütendekor zu dem dahinterliegenden Varieté, dem 1890 eröffneten Crystallpalast, sowie einem Ballsaalgebäude und einem über 3.000 Quadratmeter großen Garten mit Wasserfontänen, Lauben, Pavillon und umlaufenden Arkaden. Der Crystallpalast, eine Glas-Gusseisen-Konstruktion nach den Entwürfen des Altonaer Architekten Adolf Karnatz, bestand aus dem mit einem Glasbogendach überwölbten breiten Hauptschiff. Hier befand sich ein großer Saal für Bühne und Orchester sowie Tische und Bestuhlung für die Gäste. Von zwei kleineren Seitenschiffen konnte das Publikum mit Getränken und Speisen versorgt werden. Die Fassade des Eingangsbereiches dominierten zwei Türme mit länglichen Kuppeldächern. Die Fensterfront im Erdgeschoss und ersten Geschoss war stilistisch dem Neorenaissance-Stil des Hautgebäudes am Schulterblatt angepasst. Vorbild für den Hamburger Crystallpalast könnte der gleichnamige Palast im Londoner Hyde Park (1851) oder der Crystal Palace zur New Yorker Weltausstellung von 1853 gewesen sein.
Rauschende Feste wurden gefeiert. Das Theaterprogramm, Konzerte und Tanzbälle sowie das Varieté boten niveauvolle Unterhaltung und lockten ein amüsierfreudiges Publikum. Nach erneutem Eigentümerwechsel übernahm um 1900 die „Flora-Varieté-Betriebsgesellschaft mbH“ den Betrieb. Als „Tempel der leichten Muse“ erreichte die Flora einen neuen Höhepunkt. Namhafte Artisten und prominente Stars wie Otto Reuter gaben sich ein Stelldichein. Der Berliner Operettenkomponist Paul Lincke schrieb den Flora-Marsch: „Dora – komm in die Flora, die so viele Reize hat. Sie liegt am Schulterblatt, ist ganz in deiner Näh’, das schönste Varieté.“
Der Erste Weltkrieg und die nachfolgende Depression gingen auch an der Flora nicht spurlos vorüber. Existenzsorgen bestimmten den Alltag des Amüsiertempels: die finanzielle Lage war prekär, die Inflation galoppierte, die Gewinne brachen ein, das Publikum blieb weg. Die Flora bemühte sich durch Vermietung und Verpachtung zusätzliche Einnahmen zu erzielen: das erste Obergeschoss des Hauses Schulterblatt 71 wurde an die „Elsami-Orient-Tabak und Cigarettenfabrik“ vermietet, später an die Berlitz School of Languages. Im Schulterblatt 73, in dem auch das zum Flora-Komplex gehörende „Wiener Café“ war, zog ein Möbelhaus ein. Vor allen Dingen der Crystallpalast veränderte sein Aussehen: die turmartigen Vorsprünge wurden gekürzt, das gewölbte Glasdach durch ein Flachdach ersetzt, die Renaissance-Elemente der Fassade verputzt und vermauert. Auch das Haus Schulterblatt 71 wurde saniert: Die Fenster und die Tür im Erdgeschoss geschlossen und der gesamte Bereich mit einem überdachten Treppeneingang geöffnet. Darüber war „Flora-Theater“ als Leuchtschrift angebracht. Das Nachbarhaus Schulterblatt 73 wurde ebenfalls von seiner Neorenaissance-Fassade befreit, die Balkone und Dekore entfernt. Es half alles nichts, im Dezember 1926 musste die Flora Konkurs anmelden. Die Flora-Varieté-Betriebsgesellschaft, eine Tochter des Scala-Konzerns, übernahm das Unternehmen. Sie war auch Betreiberin des Varietés, das jetzt Vorstellungen mit Hans Albers, Zarah Leander und Johannes Heesters anbot. Hinzu kamen sonntägliche Boxkämpfe. Eine legendäre eigene Bar, die „Hölle“ eröffnete. Auch das half nichts! Die Steuerschulden beliefen sich auf rund 35.000 RM, hinzu kam ein Rückstand an Sozialabgaben.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 brachte weitere bauliche und personelle Veränderungen. Der damalige jüdische Direktor Max Friedländer emigrierte nach Südamerika. Der neue Inhaber, August Battmer, übernahm die Leitung des Unternehmens. Dringend erforderliche Modernisierungs- und Sicherheitsmaßnahmen wurden ausgeführt. Das hintere Ballhaus zu einer Garagenhalle umgebaut; In den Obergeschossen der Flora entstanden 23 Kleinwohnungen zwischen 16 und 40 Quadratmetern; Die großen Fenster links und rechts des Treppeneingangs wurden zugemauert und die gewonnene Fläche für Werbung von Veranstaltungen genutzt. Im Flora-Garten errichteten die Nazis 1941 einen Hochbunker inklusive einer Gasschleuse für 700 Personen. Das Theater selbst spielte bis 1943. Nur, beliebte jüdische Künstler erhielten als „Nicht-Arier“ keine Auftrittsgenehmigung mehr; seit Erlass des Lichtspielgesetzes von 1934 durften zudem keine amerikanischen Filme gezeigt werden. Während der Bombenangriffe auf Hamburg wurde die Garagenhalle zerstört, die Flora, das heißt das Hauptgebäude am Schulterblatt, blieb weitgehend unbeschädigt.
Nach Kriegsende begann der Spielbetrieb in der Flora erneut, aber unter schwierigsten Bedingungen. Im Winter mussten die Zuschauer zum Heizen Eintritts-Brikett mitbringen, statt Blumen für die Schauspieler gab es Butter, Brot und Käse. Das Theater existierte etwa acht Jahre, dann kam die Umwandlung des Flora-Theater in ein Lichtspielhaus mit 800 Kinoplätzen. Die neuen Eigentümer waren der Berliner Kinobetreiber Johann Wetzel und August Battmer, Leiter des ehemaligen Varietés. Die Flora erlebte als „Flora-Filmpalast“ eine neue Blütezeit.
Als in den 1960er-Jahren das große Kinosterben begann, traf es auch die Flora. Das Haus wurde geschlossen und von der Sprinkenhof AG als Grundstücksgesellschaft der Stadt Hamburg erworben. Sie vermietete zwei Jahre später die Räume im Erdgeschoss an die Haushaltswarenkette „1000 Töpfe“. Die Wohnungen im Obergeschoss blieben erhalten. Außer einem gelben Fassadenputz fanden in den nächsten Jahren keine nennenswerten Sanierungen statt. Als das Bauprüfamt ein Gutachten über den baulichen Zustand des Gebäudes veranlasste, kamen erhebliche Mängel zutage. „Die für die Instandhaltung des Gebäudes erforderlichen Mittel sind so erheblich, dass sie in keinem Verhältnis zum Nutzwert des Gebäudes stehen“, lautete das Gutachten. Sämtliche Mieter erhielten daraufhin zum Juni 1973 die Zwangskündigung. Zunächst wurden das Dachgeschoss und das zweite Obergeschoss abgetragen und durch ein Flachdach ersetzt. Ende 1987 zog auch „1000 Töpfe“ aus. Ein Jahr später wurde der ehemalige Crystallpalast abgerissen. Bis zum Sommer 1989 stand die marode Bauruine leer und wurde nur auf Initiative von Anwohnergruppen provisorisch erhalten. Im August 1989 bot die Stadt den Initiativen einen befristeten sechswöchigen Nutzungsvertrag an. Nach Ablauf des Vertrages erklärten diese im November 1989 das Haus für offiziell besetzt – die Ära der „Roten Flora“ begann. Seitdem werden die Reste des ehemaligen Gründerzeit-Hauses als kultureller und politischer Treffpunkt der autonomen linken Szene genutzt.
Die Hamburger Flora
Abbildungsnachweis:
Galerie:
01. Ansicht des ursprünglichen Rundbaus des Schmidts Tivoli, um 1864. Quelle: Wikipedia
02. Historisches Plakat Flora-Konzerthaus, vor 1890. Quelle: Günter Zint www.panfoto.de
03. Historische Postkarte. Altona, Schulterblatt (links das Konzerthaus Flora), um 1910.
04. Werbeplakat des Flora Theaters, Varietés und Ballhauses, um 1909. Quelle: Günter Zint www.panfoto.de
05. Der Flora-Filmpalast in den 1950er-Jahren mit dem charakteristischen Neon-Schriftzug über dem Portal. Quelle: Günter Zint www.panfoto.de
06. Programmheft zum Jubiläum „Ein Jahr Rote Flora“. Mit Festspiel-Informationen und Auskünften über die Geschichte der Flora und einzelnen Programmpunkten. September 1990. Archiv
07. Rote Flora, 2014. Foto: Lothar Braun
Hinweis: Grundlage dieses Beitrags waren für die Autorin Christel Busch Textblätter von und Gespräche mit den Ausstellungsmacher Günter Zint, Leiter des St. Pauli Museums, der zu dem Thema eine kleine Ausstellung präsentierte.. Wir danken nachträglich der Historikerin Eva Decker für Ihre Recherchearbeit und das Textmateriel. Juni 2024
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