Kunsthandwerk, Grafik & Design
„Graphzines“ im Stadtmuseum Fürstenfeldbruck: Deutsche Premiere für französische Provokateure
 
Erstmals in einem deutschen Museum zu sehen, in Fürstenfeldbruck westlich von München: „Graphzines“ einer französischen Szene, die seit den 1970ern gegen den Kunstbetrieb rebelliert. „Do it yourself“ statt Galerien und Verlage, Low-Tech-Produktion, schnell und preisgünstig, angesiedelt zwischen „Fanzines“ und hohem grafischem Anspruch.

 

Man sollte sich nicht täuschen lassen vom Außenseiter-Habitus der häufig unter Pseudonymen oder anonym im Kollektiv verbreiteten Arbeiten. Hier waren und sind – oft sehr junge – Profis am Werk, solide ausgebildet und beim Broterwerb nicht selten anerkannte Mitarbeiter auch namhafter Publikationen. Obwohl es die stilistisch verwandten Comics in die Frankfurter Schirn geschafft haben und in die Bonner Bundeskunsthalle, wurden Graphzines hierzulande noch nicht in Museen gezeigt. Warum nun in der Provinz vor den Toren Münchens? Mehrere Anknüpfungspunkte spielten eine Rolle, vor allem jener, dass das Museum Fürstenfeldbruck schon zwei Mal Künstlerbücher des bedeutenden Münchner Sammlers Reinhard Grüner ausgestellt hat.
 


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Diese Ausstellungen begeisterten die junge Fürstenfeldbrucker Kunstgeschichtlerin Aline Pronnet, die im Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte Mitarbeiterin des dortigen Bibliotheksleiters Rüdiger Hoyer ist. Der wiederum ist absoluter Spezialist in Sachen „Graphzines“ mit guten Kontakten in die meist (aber nicht nur) Pariser Szene und zuständig für eine Graphezine-Sammlung des Instituts, die seit 2013 auf rund 2.000 Exponate angewachsen ist: vermutlich die Bedeutendste in öffentlichem Besitz. Demnächst wird eine von ihm herausgegebene Publikation zum Thema im Verlag Walter König erscheinen.
 
„Manches, was hier gezeigt wird, ist eigentlich eher Künstlerbuch als Graphzine, „gestand“ Rüdiger Hoyer bei der Ausstellungseröffnung am 22. Juni. Naheliegend also, dass die Museumsleitung die Gelegenheit beim Schopf griff und zusammen mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte, mit einer aus dem Rahmen fallenden Ausstellung von deutlich überregionaler Relevanz an den Schwerpunkt Künstlerbuch anzuknüpfen. Gezeigt werden Arbeiten von zehn Künstlern und Kollektiven, in zwei Fällen aus den USA, die das weite Spektrum der Szene deutlich werden lassen.
 
So manchen Skandal haben Graphzines verursacht. Warum spielen Krieg und Tod, groteske Darstellungen von Sex und Gewalt eine wichtige Rolle? Vermuten lässt sich, dass eine im Underground der Siebziger entstandene Szene durchaus schockieren will, gelegentlich inhaltlich ernst gemeint mit biografischem oder explizit politischem Bezug, meist als Provokation spielerisch an den Grenzen des für Betrachter Erträglichen operierend. Mit dem eigenartigen Effekt, dass je mehr man sich auf den handwerklich irritierend perfekten Trash einlässt, auf scheinbar Banales und Hässliches, sich dies als attraktive Umsetzung künstlerischer Visionen erweist, häufig von Humor getragen, starker Tobak, aber kein Grund zur Schockstarre. Sogar drollig kann das Gruselige sein, zum Beispiel bei Stéphane Blanquet, als Künstler und Verleger Zentralfigur der Szene, der eigens für Fürstenfeldbruck eine aufwendige Installation geschaffen hat, gewissermaßen ein begehbares Künstlerbuch mit psychedelisch irritierenden Tapisserien, an indonesisches Schattenspiel erinnernden Figuren, kubistisch-afrikanisch anmutenden Terracotta-Köpfen, einem raffinierten Spiegelkabinett und ganz aktuellen Heftchen einer Reihe, die alle drei Tage neu Werke nicht etablierter Künstler versammeln und für fünf Euro zu erwerben sind.
 


Als Gegenpol finden sich aber auch Beispiele für Siebdruck, wie er farbkräftiger und präziser nicht gelingen kann, insbesondere bei Thierry Guitards satirischem Magazin „La Pieuvre“ oder in Frankreich aufwendig gedruckten Serigraphien des Amerikaners Charles Burns, der auch ganz anders kann: fotokopierter „Free Shit“, kostenlos verteilt. Sein Landsmann Gary Panter steht dem Franzosen Bruno Richard so nahe, dass man sie als Urheber gelegentlich verwechseln könnte. Beide arbeiteten mit dem 2001 an Folgen seiner Drogensucht verstorbenen Franzosen Pascal Doury, dessen Werk ungewöhnlich deutlich persönliche Dramen wie den frühen Tod seiner Frau Nathalie spiegelt.
 
Große Vielfalt also, häufig in Magazinen wie „Le Dernier Cri“ vereint, die gewissermaßen die Funktion von Ausstellungen übernehmen. Selbst wenn einzelne Werke dabei klare Urheber haben, kann von klaren Namen keine Rede sein: Christian Chapiron zum Beispiel publiziert unter dem Namen Kiki Picasso, was ihm einen listig beabsichtigten Prozess mit der Picasso-Erbin Paloma einbrachte. Vollkommen rätselhaft bleibt, wer hinter „Pierre La Police“ steckt oder hinter „Y5/P5“, einem Kürzel, das beim französischen Militär für Untauglichkeit in augenärztlicher und psychischer Hinsicht steht – und einmal mehr für den Humor der „Ziniker“. Bis in den späten September kann man in Fürstenfeldbruck ausprobieren, ob man ihn teilen mag. Ab dann führt der Weg wieder nach Paris, in die einschlägig spezialisierte, nach dem Tod des Inhabers Jacques Noel mittlerweile wieder eröffnete Buchhandlung „Un Regard Moderne“ (10, rue Gît-le-Cœur), wo der Erwerb leichter fällt, die Präsentation aber zwangsläufig in keiner Weise mithalten kann. Oder nach München in die Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte.


„Graphzines“
zu sehen bis zum 24. September 2017 im Museum Fürstenfeldbruck, Fürstenfeld 6 in 82256 Fürstenfeldbruck
Öffnungszeiten: Di. - Sa 13 - 17 Uhr und So und Feiertage 11 - 17 Uhr
Eintritt: Erwachsene 4 Euro, ermäßigt (Schüler, Studenten, Menschen mit Behinderung) 2,50 Euro
Weitere Informationen

Führungen auf Deutsch und französisch. Museumspädagogische Programme.
Gefördert von Bezirk Oberbayern, Kulturfonds Bayern, Landkreis Fürstenfeldbruck, Sparkasse Fürstenfeldbruck.
50 Jahre Städtepartnerstadt Fürstenfeldbruck und Livry-Gargan

Ein Studientag zum Thema „Graphic Production: Art Zines in Context" findet am 12. Juli in Fürstenfeldbruck und München statt

YouTube-Video:
„Graphizines“

Hier weitere Links
- Zentralinstitut für Kunstgeschichte
- Atlas Obscura


Abbildungsnachweis:
Video: Stéphane Blanquet, Instalattion, New Lung Seeded Inside, Spiegelkabinett. Video: Claus Friede
Abbildungsnachweis: © Stadtmuseum Fürstenfeldbruck
Header: Thierry Guitard, Fantastiv, 1998, CBO. Foto: Wolfgang Pulfer
Galerie:
01. Blick in die Ausstellung. Foto: Claus Friede
02. Thierry Guitard, Fantastiv, 1998, CBO. Foto: Wolfgang Pulfer
03. Bazooka Productions 1 / Loukhoum Breton / Activité sexuelle normale, Paris 1975-76. Foto: Wolfgang Pulfer
04. Philippe Huger aka UG, Pop-up-Buch. Foto: Claus Friede
05. Blexbolex, XXX, 1992. Foto: Wolfgang Pulfer
06. Philippe UG, De traviolle, 1998, CBO. Foto: Wolfgang Pulfer
07. Stéphane Blanquet, Harr 1, 1994, Foto: Wolfgang Pulfer
08. Bazooka, un regard moderne No. 1, 1978. Foto: Wolfgang Pulfer
09. Stéphane Blanquet, Installation, New Lung Seeded Inside, Tapisserie. Foto: Stéphane Blanquet
10. Blick in die Installation, New Lung Seeded Inside. Foto: Johannes Simon
11. Stéphane Blanquet, Installation, New Lung Seeded Inside, Tapisserie. Foto: Claus Friede
12. Stéphane Blanquet, Installation, New Lung Seeded Inside, Porzellanteller Limoges, Foto: Claus Friede.

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