"Zeitkapsel" – Bilder einer verschwundenen Welt
- Geschrieben von Claus Friede -
Das Lexikon besagt, dass eine Zeitkapsel ein Behälter zur Aufbewahrung von Dingen für eine bestimmte Zeit ist.
Sie darf erst nach Ablauf eines bestimmten Zeitintervalls geöffnet werden, mit dem Zweck, zeittypische Dinge an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Auch die Schwarz-Weiß-Fotografien der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie der Handelskammer Hamburg waren über einen langen Zeitraum der Öffentlichkeit unbekannt, als ob sie in einer Zeitkapsel eingeschlossen gewesen wären. So hat der 1923 geborene Yang Chi-Hsin noch zu Lebzeiten selbst den Ausstellungstitel „Zeitkapsel“ gewählt. Seiner Frau ist es allerdings zu verdanken, dass die Negative mehrere Umzüge und Jahrzehnte überstanden.
Schließlich, im Jahr 1999, fand die erste Einzelausstellung mit Werken im Taiwan Museum of National History in Taipeh statt. Vielleicht war Yang Chi-Hsin einer der wenigen und letzten Fotozeugen, der das alte, bodenständige und ruhige Taiwan zwischen fünfzigjähriger japanischer Kolonialzeit (bis 1945) und den ab 1960 alle Lebensbereiche durchdringenden Umformungsprozess ablichtete.
Heute wird Yang nicht nur in seinem Heimatland als Avantgarde-Fotograf gewürdigt. Aber dort mittlerweile besonders: In einigen wichtigen Fotografie- und kulturgeschichtlichen Ausstellungen in Taiwan waren seine Werke vertreten, etwa 2010 in "Her Story - Photographic Works from the National Museum of History“ in Taipeh. Im gleichen Jahr „Eye of the Times: Centennial Images of Taiwan“ im Taipei Fine Arts Museum und im vergangenen Jahr (2012) in "Eyes of Formosa, between 1920 and 1992, Moments of the Past: Selected Photographs of the Museum Collection", National Museum of History in Taipeh.
Kultur- und fotografiehistorisch bettet sich die Arbeit von Yang Chi-Hsin auf eine sehr eigenständige Art und Weise ein.
Ein kurzer Ritt durch die Fotografiegeschichte Tawains hilft dem Verständnis: Das erste bekannte Foto, das auf der Insel aufgenommen wurde stammt vom britischen Fotografen John Thomson. Es zeigt die Ruinen des ehemaligen niederländischen Forts "Zeelandia“ in Anping in der Provinz Tainan. Thomson nahm es etwa 30 Jahre nach Einführung der Fotografie auf, im Jahr 1871. Weitere Fotos von ihm aus der Zeit bildet eine kleinen Serie, die aus Portraits und Gruppenaufnahmen von Mitgliedern des Pingpu Stamms, Ureinwohner der Insel, besteht. Ein weiteres Kontingent zeigt Küstenszenen, Flüsse und Landschaft. Es ging Thomson damals bei seinen Aufnahmen nicht allein darum, die Schönheit oder Exotik von Land und Leuten zu zeigen, sondern seine Aufnahmen hatten in der Zeit des Kolonialismus auch immer militärische Bedeutung. Das detailgetreue Sichtbarmachen von strategischen Orten war für die Kolonialländer von Vorteil.
Im späten 19. frühen 20. Jahrhundert quellen dann die Archive über von Portraits. Waren es seit 1895 überwiegend japanische Fotografen, folgte zwischen 1905 bis 1910 der Chinese Lin Tsao den kolonialen Vorbildern. Seine Frontalaufnahmen von überwiegend Han-chinesischen Familien und Einzelpersonen bilden den Grundstock der Portraitfotografie Taiwans. Ähnlich wie in der bildenden Kunst galt das Ablichten von harter, ländlicher Arbeit zur damaligen Zeit als kunstunwürdig, doch um 1915 entstanden die ersten bekannten Aufnahmen von Chen Keng-pin, die Familien bei der Feldarbeit zeigen oder bei der Weiterverarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten. Erst nach Ende des 2. Weltkriegs ab 1946 waren es eine Handvoll Fotografen, zu denen auch Yang gehörte, die in Schwarz-Weiß kontinuierlich und methodisch das ländliche Leben Taiwans ablichteten. Ende der 60er- Anfang der 70er-Jahre ist dann fast ausschließlich Farbfotografie zu sehen.
Yangs besondere Rolle begründet sich in der hohen Anzahl der Fotografien (10.000) über den Zeitraum von 10 Jahren, den vielen verschiedenen fotografierten Orten und Landesteilen und besonders in der hohen Qualität seiner Bilder.
Die Aufnahmen der Ausstellung „Zeitkapsel – Fotografien einer Dekade“ wurden zwischen 1950 und 1960 geschossen und zeigen in erster Linie ein Taiwan der Landwirtschaft und der Fischerei. Damals lebten 9 Millionen Menschen auf der Insel, heute gehört Taiwan mit über 23 Millionen Einwohnern zu den am dichtesten besiedelten Ländern der Erde. Anbauflächen sind verschwunden, der landwirtschaftlich Anteil des Bruttoinlandprodukts liegt bei geringen 1,5%, die der Dienstleistungen und Industrie bei 97%.
„Mach sichtbar, was vielleicht ohne dich nie wahrgenommen worden wäre.“ Robert Bresson (1901-1999), Filmregisseur.
„Zeitkapsel“ präsentiert eine Auswahl von 75 Bildern aus dem fotografischen Nachlass von Yang Chi-Hsin.
„Als westlicher Stützpunkt gegenüber der kommunistischen Volksrepublik wurde Taiwan bereits Ende der 1950er-Jahre in einen Umbildungsprozess von Ländern des Westens, insbesondere der USA, unterstützt. Für die Reorganisation und den Wiederaufbau der Landwirtschaft sind dabei zwei im wesentlichen von Amerika finanzierte Organisationen zu nennen: das „Harvest Magazine“ und die „Joint Commission on Rural Reconstruction“ (JCRR)“, schrieb Yang Wen-Hwa in einem Vorwort zu einer der Ausstellungen ihres Vaters. Für beide Organisationen war Yang Chi-Hsin tätig, als Redakteur und Fotograf. Neben seinen offiziellen Fotografien – die für ihn nie erschöpfende Dokumentation waren – lichtete er auch seine Augenblicksbegegnungen mit Menschen und Dingen ab, die nicht in die Archive wanderten. Gerade diese Bilder sind es, die es für den heutigen Betrachter möglich machen, die damalige Lebenswelt umfassend zu verstehen. Die Fotos zeigen unbeschwerte Kindheit, zeugen vom Miteinander der Menschen sowie der Lebensumstände von Minderheiten. Auch Traditionen und Religionen der Bevölkerungen Taiwans sind thematisiert. Somit haben die Fotos nicht allein einen dokumentarisch-historischen, sondern insbesondere auch einen soziologischen und künstlerischen Wert.
Yang wurde schon während der Dokumentation der Aufbautätigkeit klar, dass die alte Bauernkultur verschwinden würde und sich zukünftig gesellschaftsrelevante Umwälzungen ergeben würden. Vieles davon nicht nur zum Positiven – so beklagte der Fotograf, dass mit der Einführung des Fernsehens, die gemeinschaftlich verbrachten Abende zum stummen Glotzen wurden und das Lachen aus den Gesichtern der Menschen nach und nach verschwand.
Vielleicht waren es genau diese Gründe, die ihn veranlassten die Kamera in den frühen 1960er-Jahren beiseite zu legen und als Unternehmer tätig zu sein.
Yangs Vermächtnis – er starb im Jahr 2005 – lautet: „Ich hoffe, dass auch künftige Generationen sich bereit finden, die Bilder anzusehen und zu verstehen“.
Yang Chi-Hsin wurde 1923 als Sohn einer Grundbesitzerfamilie in Chingshui (Kreis Taichung) in Taiwan geboren. Zur damaligen Zeit stand die Insel unter der Kolonialherrschaft Japans (1895-1945). Schon als 5-Jähriger zog er mit seinen Eltern nach Japan und lebte dort die folgenden 20 Jahre. In Japan durchlief er seine gesamte Schulbildung. Ab 1942 studierte er Anglistik und Geschichte an der jesuitischen Sophia University in Tokio. Yang Chi-Hsin fotografierte bereits als Schüler und Student, er erhielt jedoch keine professionelle Ausbildung.
Als Yang Chi-Hsin Ende der 1940er-Jahre in sein Geburtsland Taiwan zurückkehrte, war es ein Ankommen in einem Land, das ihm fremd war und dessen Sprache er kaum noch beherrschte. Bis zu seinem Tod im Jahr 2005 war Japanisch für ihn die Schreib- und Lesesprache, sein Chinesisch bewertete er selbst als geringfügig besser als sein Englisch. Seine Fremdsprachenkenntnisse kamen Yang in Taiwan indes sehr gelegen.
Zunächst arbeitete er gut zwei Jahre als Englischlehrer an einer Mittelschule in seiner Geburtsstadt Chingshui. Danach arbeite er für die Zeitschrift „Harvest“. Die chinesisch-sprachige Zeitschrift wurde für Bauern und die Landbevölkerung herausgegeben. Viele von ihnen waren allerdings mit dem japanischen Bildungssystem groß geworden und konnten kein Chinesisch lesen. So engagierte das Magazin Yang, um Zusammenfassungen der Artikel ins Japanische zu übersetzen.
Außerdem beherrschte er neben dem Fotografieren auch das Entwickeln von Filmen, sodass er bald nicht nur Texte übersetzte, sondern auch für „Harvest“ fotografierte. Das Magazin wurde von der 1948 gegründeten „Sino-American Joint Commission on Rural Reconstruction“ (JCRR) unterstützt und von der US-amerikanischen Regierung gefördert, um den landwirtschaftlichen Wiederaufbau Taiwans zu beschleunigen. Die JCRR wurde aufmerksam auf Yangs qualitativ hochwertige Fotografien. Die Behörde warb ihn als festen Mitarbeiter an, versorgte ihn mit einem guten Gehalt und erstklassigen Kameras – einer Leica und Rolleiflex und beauftragte ihn mit der Fotodokumentation des ländlichen Taiwans. Diese führte Yang jahrelang in fast jeden Winkel Taiwans und wurde zu einer Entdeckungsreise zu den eigenen Wurzeln.
Während der zehn Jahre, die Yang Chi-Hsin für das Magazin „Harvest“ und die JCRR tätig war, entstanden fast ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotografien, jedoch auch einige in Farbe. Die Mehrzahl der Bilder diente der Dokumentation von landwirtschaftlichen Studien und Wasserschutzmaßnahmen. Diese Fotografien wurden vornehmlich für Artikel in Fachmagazinen benötigt. Neben den wissenschaftlich-dokumentarischen Bildern entstanden zahlreiche Aufnahmen vom ländlichen Milieu jener Zeit, die Yang für sich selbst machte.
Der Wert der Fotos von Yang Chi-Hsin liegt sicher darin, dass in ihnen das ungeheure Ausmaß der Veränderungen des ländlichen Taiwans bis heute erkennbar ist. Das heutige Taiwan ist ein Mix aus traditionellen, multiethnischen Kulturen und moderner, westlich orientierter Kultur, die mit der Aufbauhilfe des Westens seit 1948 begann.
Die Ausstellung ist eine Reise zurück in eine verschwundene Welt und gleichzeitig ein fotografisches Erlebnis von höchster Qualität.
„Yang Chi-Hsin: „Zeitkapsel - Fotografien einer Dekade. Taiwan zwischen 1950 und 1960“ ist vom 11. September bis 3. November 2013 zu sehen, in der Galerie der Handelskammer Hamburg, Adolphsplatz 1, 20457 Hamburg.
In der Reihe „Kunst in der Handelskammer“ erscheint begleitend zur Ausstellung ein umfangreicher Katalog mit Texten und Bildern.
Öffnungszeiten der Ausstellungen: Montag bis Donnerstag 9 bis 17 Uhr. Freitag 9 bis 16 Uhr. Eintritt frei.
Rahmenprogramm
Mittwoch, 16. Oktober 2013, 19 Uhr (Merkursaal)
Dokumentarfilm von Monika Treut: „Den Tigerfrauen wachsen Flügel“,
Portrait über Frauen aus drei Generationen in Taiwan, das Zeugnis ablegt über die rasanten Veränderungen der Inselrepublik. Im Mittelpunkt stehen die Opernsängerin Hsieh Yueh-hsia, die Schriftstellerin Li Ang und die junge Filmregisseurin Chen Yin-jung,
D/Taiwan, 2005, 83 Min.
Mittwoch, 30. Oktober 2013, 19 Uhr (Merkursaal)
Dokumentarfilm von Monika Treut: „Das Rohe und das Gekochte“.
Auf der Entdeckungsreise rund um das Feinschmeckerparadies Taiwan macht der Film siebenmal Station. Auch die noch junge Umweltbewegung kommt zu Wort, die sich gegen die schnell fortschreitende Zersiedelung der hochindustrialisierten Insel wehrt – ein ganzheitlicher Trip rund ums gute Essen.
D/Taiwan, 2012, 83 Min.
Die Regisseurin Monika Treut ist anwesend.
Führungen im Rahmen von „Add Art“ – Unternehmen in Hamburg zeigen Kunst
Samstag, 2. November 2013 um 14 Uhr und um 16 Uhr
Sonntag, 3. November 2013 um 15 Uhr und 17 Uhr
Fotonachweis: © Yang Estate
Header: Detail aus „Eine große Familie“, Liuyang (Kinmen Inseln) 1956
Galerie:
01. Yang Chi-Hsin, 1950
02. Zwei Fischer, Liuyang (Kinmen Inseln) 1956
03. Yang Yin-Feng beim Zeichnen auf dem Danshuei Fluss (New Taipeh), 1955
04. Der Geschichtenerzähler, Wanhua, (Taipeh), 1956
05. Nudelfäden, Yuanli, (Miaoli) 1959
06. Eine Frau beim Wahrsager
07. Unterhaltung an der Hausecke, Frauen der Hakka, Meinong, 1955
08. Fischzuchtbehälter, Fangliao (Pingtung), 1956
09. Eine alte Frau liest in der Bibel, Puli (Nantou), 1953
10. Der Hafen von Nangfanao, Su-ao (Yilan), 1956
11. Yang Chi-Hsin, 2005
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