Nicht weniger als 150 Fotos von 21 Fotografinnen präsentiert die Kunsthalle St. Annen auf der Suche nach dem weiblichen Blick.
Kann man es Fotos (diesen oder anderen) tatsächlich ansehen, ob sie von einem Mann oder einer Frau aufgenommen wurden?
Gibt es also wirklich den „weiblichen Blick“, den die Ausstellung im Titel führt? Und wenn es ihn gibt – können wir ihn erkennen, wenn wir uns in das Bild vertiefen, oder müssen wir zuvor einiges über die Fotografin wissen? Ich finde diese Themenstellung nicht ganz unproblematisch, denn seit wann ist die Persönlichkeit, sind Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Herkommen Teil der Bewertung eines Kunstwerkes?
Ist es nicht besser, nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts über den Künstler oder die Künstlerin zu wissen, um sich ganz und gar auf ihre Arbeit konzentrieren zu können? Sowohl bei antiken als auch bei mittelalterlichen Bildwerken ist das meist der Fall – man weiß fast nichts, kennt gelegentlich nicht einmal den Namen und kann deshalb das Kunstwerk ganz unvoreingenommen auf sich wirken lassen.
Auf einem runden Tisch werden Exemplare der „Sybille“ ausgelegt, das war die „Brigitte“ der DDR, von der schon damals viele sagten, die in ihr vorgestellte Mode sei ganz und gar irreal gewesen, weil man sie doch nicht kaufen konnte. Es ist schon logisch, dass diese Blätter ausliegen, denn die allermeisten Bilder der Ausstellung sind Modefotos für die entsprechenden Zeitschriften – aber doch nicht alle, denn manche gehören auch in die Abteilung Dokumentation oder Kunst. Die ältesten Fotos aus den zwanziger Jahren zeigen im schönen Schwarzweiß ausgesucht elegante Damen, die so aussehen, als hätten sie der höchsten Gesellschaft angehört (manchmal stimmt trotz der eleganten Erscheinung das Gegenteil…); die jüngsten besitzen gelegentlich einen dokumentarischen oder versteckt politischen Charakter und sind in ärmlichen Vorstädten angesiedelt.
Wie meist in der Kunsthalle, so verteilen sich die Objekte der Ausstellung auf drei Etagen. Im Erdgeschoss finden sich die ältesten Fotografien, die gleichzeitig die kleinsten sind; und natürlich noch alle schwarzweiß. Fast alle dieser Bilder sprechen den Betrachter an, falls dieser nur ein gewisses Empfinden für Eleganz hat und starke Kontraste mag, aber gern auf Farben verzichtet. Wohl jedem im Gedächtnis bleiben die Arbeiten Lee Millers (1907-1977), von der einige sehr unterschiedliche Fotos präsentiert werden. Besonders eindrucksvoll ist eine surrealistische Szene, in der das Modell in einem Torbogen steht, und hinter der Frau sieht man das Gerippe eines zerstörten Hauses, das mit seinen leeren Fensteraugen auf sie herunterschaut.
Ebenfalls äußerst gekonnt – zunächst in einem handwerklichen Sinne – sind die Modefotos von Yva (Else Ernestine Neuländer, 1900-1942), von der mir die Hutfotos am besten gefallen – auf einigen ist vom Gesicht des Modells gar nichts zu sehen; oder vielleicht nur der schön gezeichnete Kinnbogen. Viele dieser Bilder besitzen eine Aura des Geheimnisvollen und Besonderen. Ähnlich die Bilder von Madame d’Ora (Dora Kallmus, 1881-1963), deren sehr bedeutendes Werk und Leben erst 2018 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe mit einer großen Ausstellung gewürdigt wurden. Einige ihrer Außenaufnahmen nehmen den Betrachter durch die Darstellung des Raumes gefangen – die Bilder entwickeln tatsächlich einen Sog, der den Betrachter in die Tiefe zieht.
Im zweiten Stock der Ausstellung werden die Bilder wesentlich großer und dazu bunt. Es ist die Ära der Supermodels, und auch die nur leicht bekleidete, aber nicht etwa anstößig nackte Claudia Schiffer gibt sich auf einem Foto von Ellen von Unwerth die Ehre – von dieser Frau werden in Lübeck einige der Bilder gezeigt, die beide berühmt machten, die Frau vor der Kamera wie jene hinter ihr. Was auf dieser ganzen Etage fehlt – vielleicht schon dank der Farbe, aber auch wegen der gelegentlich lebhaften Mimik und übertriebenen Gestik der Modelle – ist die Aura des Geheimnisvollen, die uns im Erdgeschoss in den Bann zog. Die Modelle bewegen sich, lachen und nehmen teils extreme Posen ein. So auf den Bildern von Alice Springs, Ehefrau des berühmten Helmut Newton, dessen Fotos ja nicht ganz und gar unumstritten waren. Die Modelle seiner Frau zeigen sich auf allen Fotos – mit einer Ausnahme – anständig bekleidet, aber diese Bilder würde wohl jeder eher einem Mann und seinen nicht immer ganz sauberen Fantasien zuordnen. Zum Beispiel so: Der Rock rutscht wie zufällig hoch und lässt die unbekleidete Pobacke sehen. Weiblicher Blick? Na, ich weiß nicht…
Spätestens auf dieser Etage sollte einem klar werden, dass es auf den alten Bildern der Ernst der Gesichter ist, ihre Unbewegtheit und unbeteiligte Kühle, die ihnen Würde verleiht – sie buhlen nicht um Sympathie oder Aufmerksamkeit, sondern sind sich selbst genug. Das hat aber nichts mit Weiblichkeit zu tun, sondern war der Stil einer vergangenen Zeit und findet sich ebenso auf den Porträts von Männern.
Im obersten Stockwerk sind wir in der Gegenwart angekommen, und entsprechend finden sich auch queere Menschen, und rein äußerliche Schönheit, die noch bei den sogenannten Supermodels eine wesentliche Rolle spielte, gilt jetzt nichts mehr. Hier gibt es auch dokumentarische und sozialkritische Bilder, die mehr grau in grau sind und auch in einer solchen Umgebung aufgenommen wurden, aber zusätzlich noch solche, die mit sehr starken Farben prunken und sehr arrangiert wirken, fast wie Szenenfotos aus dem Zirkus oder dem Theater. Bei manchen – zum Beispiel bei den Fotos von Elizaveta Porodina – fragt man sich, ob die Fotografin nicht lieber gemalt hätte. In diesem Fall hätten die Gemälde wegen ihrer verwischten Formen und dem verschwommenen Hintergrund, vor dem sich theatralische Szenen abspielen, ein wenig ausgesehen wie die Bilder von Gerhard Richter. Nur so leer wären sie nicht gewesen.
Hervorragend gemacht sind die Fotos von Gabo (Gabriele Oestreich) – ihr Bild von Jessica Schwarz mit den Seerosenblättern und dem sich darin attraktiv biegenden Leib einer schönen Frau nimmt schon gefangen. Mich erinnert ihre Haltung an den „Der Nachtmahr“ (1790/91) von Johann Heinrich Füssli (1741-1825), dessen eine Version im Goethe-Haus in Frankfurt/M., die andere im Detroit Art Museum präsentiert ist. An Gabos Fotos wie an denen von Ellen von Unwerth werden aber nicht alle dieselbe Freude haben; ich zum Beispiel habe keine Ahnung, ob ich alle diese Frauen kennen sollte. Und falls ich sie kenne, ob sie mir wichtig sind. Vielleicht bin ich ja doch nicht der typische Illustrierten-Leser… Anders sieht es bei den Damen von Ute Mahler aus, weil diese völlig unbekannt sind. Mahler gehört zu den Fotografinnen, die stark zum Dokumentarischen neigen, auch wenn ihre schwarzweißen Bilder zweifellos arrangiert sind. Hier begegnen wir wieder der Sphäre des Unbekannten – man möchte bei manchem Bild gerne wissen, um wen es sich handelt. – Ihr Mann Werner, mit dem Ute Mahler sonst zusammenarbeitet, muss in Lübeck leider draußen bleiben…
Was nicht hätte sein müssen: das grauenhaft-symbolträchtige Rosa des Kataloges, der neben drei Essays in seinem Abbildungsteil sämtliche Fotos der Ausstellung bietet. Der längste Beitrag stammt von der Kuratorin Antje-Britt Mählmann und gibt einen Überblick über die Entwicklung der weiblichen Modefotografie. „Female View“ ist Mählmanns letzte Lübecker Ausstellung, denn sie verlässt das St. Annen-Museum in Richtung Schloss Moyland mit seinem Joseph Beuys-Archiv. In einem zweiten Artikel bespricht Eugenie Shinkle die These, „der Blick einer Frau unterscheide sich kategorisch – manche sagen sogar gegensätzlich – von dem eines Mannes.“ Schließlich beschäftigt sich Diana Weis mit der Fotografie der „Post-Internet-Generation“.
Female View – Modefotografinnen von der Moderne bis zum Digitalen Zeitalter
Zu sehen bis 3. Juli 2022
im Museum Kunsthalle St. Annen, St. Annen-Straße 115
Besuchszeiten: 01.01 – 31.3.: 11 – 17 Uhr und 01.04 – 31.12: 10 – 17 Uhr
Es ist ein Katalog erschienen:
Female View. Modefotografinnen von der Moderne bis zum Digitalen Zeitalter
Hantje Cantz
208 Seiten
978-3775752329
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