Natürlich ist der jetzt siebzigjährige Orhan Pamuk als der bedeutendste Vertreter der türkischen Literatur bekannt, aber auch dank des mächtigen „Istanbul“-Bandes wissen viele Leser, dass er sich mehr als nur ein wenig für Fotografie interessiert. In Lübeck werden jetzt eigene Fotos des Nobelpreisträgers vorgestellt.
Als Halbwüchsiger, so weiß man aus seinem stark biografisch orientierten Buch über Istanbul, bekam Orhan Pamuk eine Kamera geschenkt; und nachdem er zuvor zwar sehr gern gemalt hatte, aber doch nicht so recht zufrieden war mit seinem Talent, fand er hier schon eher seine Berufung, bevor er sich einige Jahre später für die Literatur entschied. Berufsfotograf wurde er also nicht, aber er hat Zeit seines Lebens eifrig fotografiert, und seit einiger Zeit sind Bücher auf dem Markt, die seine Leidenschaft dafür unter Beweis stellen. An erster Stelle steht natürlich „Istanbul“.
„Seit ich denken kann“, schreibt Pamuk, „ist diese Stadt von Armut gekennzeichnet, von Untröstlichkeit über den Verfall des Reiches, von der Melancholie, die von den Überresten aus großer Zeit ausgeht.“ Das – wie viele Kritiker monierten: zu stark betonte – Thema des Buches ist deshalb „Hüzün“, ein der Melancholie verwandtes Gefühl, das Pamuk auch mit der Tristesse vergleicht, die den berühmten „Traurigen Tropen“ des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss den Titel gab. Hüzün, so scheint es Pamuk, ist typisch für Istanbul und seine Bevölkerung. Hüzün gilt dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Umstand, dass „Istanbul dabei war, seine Seele an den Westen zu verkaufen“.
Eigentlich hat das umfangreiche Buch drei Themen: zunächst die mit Fotos dokumentierte Kindheit und Jugend des Autors, dann den Verfall der Stadt, und schließlich schildert und würdigt Pamuk das Werk und manchmal auch das Leben von Fotografen, Journalisten und Schriftstellern – darunter so berühmten wie Flaubert –, die über Istanbul schrieben oder es abbildeten. Bei den Bildern handelt sich ausschließlich um Schwarzweißfotos, und es sind keine schönen Bilder, sondern Dokumentationen des Verfalls. Sie zeigen Ruinen und zerstörte Straßen und führen Schmutz, Staub und Trostlosigkeit vor Augen. Schon in diesem Buch finden sich eigene Fotos des Autors, aber weil Bildunterschriften fehlen, muss man sie mühsam aus dem Nachweis am Ende des Bandes heraussuchen.
Es ist also ein dokumentarisches Buch, kein Bildband mit schönen Fotos, und es ist interessant, welche Künstler nicht erwähnt werden. Der berühmteste und wichtigste von ihnen ist wohl der russische Malerfürst Iwan Aiwasowski (1817-1900), ein Genie des Seestücks, dessen spektakuläre und hochromantische Bilder allenfalls die Konkurrenz eines William Turner zu fürchten haben. In Westeuropa kaum bekannt, genießt er bis heute in Russland und rund um das Schwarze Meer große Popularität, und es gibt mehrere Museen, die seinem Werk gewidmet sind. Seine „Ansicht von Konstantinopel bei Mondschein“ mit schlanken Minaretten rechts und einem Segelschiff auf gelb glitzerndem Wasser links hätte kaum in das Konzept des Bandes von Pamuk gepasst, seiner Romantik wegen und weil es nicht von Hüzün geprägt ist.
Warum Pamuk welche Bilder ausgesucht hat, geht aus dieser Bemerkung hervor: „Und so besteht auch das Hauptvergnügen beim Studieren alter Fotos darin, Aspekte zu orten, die der Fotograf selbst nicht im Blick hatte.“ Ihm kam es also nicht darauf an, sorgfältig durchdachte oder vielleicht sogar gestellte Fotos aufzunehmen oder auszusuchen, sondern er betont sehr stark das Moment des Zufalls, das dann auch die Bilder der beiden zuletzt erschienenen Bücher mit seinen eigenen Fotos bestimmt. Und wichtig ist für ihn der Zeitenabstand, denn viele Details rückten erst später in den Mittelpunkt, weil ihre Bedeutung erst später hervortrat.
Zunächst ist „Balkon“, 2018 veröffentlicht, der erste Band mit eigenen Fotos des Autors. Im Sommer ist „Orange“ dazugekommen, ebenfalls mit eigenen Fotos, aber doch ganz anderer Art. Aus diesen beiden Werkgruppen hat der Kurator und Verleger Gerhard Steidl eine Ausstellung mit ungefähr vierhundert Bildern zusammengestellt, die im Sonderausstellungsraum des Grass-Hauses zu besichtigen sind. In der Mitte des Raumes hat er Stühle mit kleinen Tischen aufgestellt und damit für ein Ambiente gesorgt, das sehr hübsch zwischen Kaffeehaus, Lesesaal und Fotogalerie changiert. Und an den Wänden finden sich die Fotos; die große Mehrzahl davon in der Größe, in der sie sich auch in den beiden Bildbänden finden, einige wenige stark vergrößert und so ins Malerische verwandelt.
Beide Werkgruppen – „Balkon“ und „Orange“ – unterscheiden sich zunächst schon in der Farbgebung. In seinem Buch über Istanbul erzählt Pamuk, dass er, wo immer er auch wohnte, auf den Bosporus schauen konnte, und die vom Balkon seiner Wohnung aufgenommenen Bilder zeigen eben diesen Blick. Er hatte zwei Stative aufgestellt und nach Auskunft des Kurators mit nur zwei Objektiven gearbeitet, einem 50 mm-Objektiv und einem 135 mm-Tele, die zumeist Wasser zeigen und Schiffe und immer wieder auch die schlanken Silhouetten der Minarette. Und manchmal auch das gegenüberliegende Ufer. Um die Wahrheit zu gestehen: Es finden sich einige Perlen darunter, wirklich schöne oder auch interessante Bilder (einige sehen auch nach einem größeren Tele aus), aber insgesamt ist diese Serie doch etwas langweilig.
Ganz anders „Orange“. Diese Farbe verbreiten die traditionellen Straßenlaternen Istanbuls, eine warme Farbe im Vergleich zum gleißenden Licht der LED-Lampen, die immer größere Teile der Stadt erobern. Den Gegensatz beider Lichtquellen zeigt das Bild „Straßencafé“, und man muss wohl nicht ausdrücklich erwähnen, dass Pamuk das warme, seelenvolle Licht der alten Laternen bei weitem vorzieht. Begleitet von einem ortskundigen Beschützer, wanderte der Schriftsteller nachts durch die Straßen und fotografierte aus der Hand das bunte Leben, das sich seinem Auge bot. „Aus der Hand“ heißt: Er hielt, so die Schilderung Steidls, die Kamera nicht vor das Auge, weil er nicht auffallen wollte, sondern ließ es auf den Zufall ankommen, wenn er die Kamera mal links, mal rechts vom Körper hielt und möglichst unauffällig auslöste. Dafür sind die Fotos allerdings ziemlich gelungen. Sie zeigen eine lebendige Stadt, ein Labyrinth der Gassen, durch die man angesichts dieser Fotos selbst stromern möchte, und man sieht unverputzte Wände, über die Straße gespannte Wäscheleinen oder sieht gusseiserne Geländer an Treppen hinauf- oder hinablaufen. Und natürlich immer wieder Menschen, unbekannte Passanten auf der Straße. Auf den Fotos vom Balkon dagegen sieht man wohl hin und wieder schöne Lichteffekte auf den Wassern des Bosporus, die Kielwasserspur auf dem Meer oder auch schöne Perspektiven, wenn man Minarette zwischen Hochhauswänden sehen kann; aber insgesamt sind sie im Vergleich zu den Straßenbildern doch etwas eintönig.
Fotografien von Orhan Pamuk – „Balkon“ und „Orange“
Sonderausstellung bis 31. Januar 2021 im Günter Grass-Haus, Glockengießerstraße 21, 23553 Lübeck
Geöffnet: Dienstag bis Sonntag, 10 - 17 Uhr
Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt.
Mit Fotografien von Ara Güler, Henri Cartier-Bresson, dem jungen Orhan Pamuk und anderen.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag
640 Seiten
ISBN 978-3446260054
Orhan Pamuk: Balkon
Steidl Verlag.
200 Seiten
ISBN 978-3958295391
Orhan Pamuk: Orange
Steidl Verlag
192 Seiten
ISBN 978-3958296534
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