Wie nähert man sich in einer Fotoausstellung einem Land, deren Menschen tagtäglich durch Gewalt sterben, auf der Flucht, im Exil, traumatisiert sind, deren materielle und immaterielle Kulturgüter und Werte immer weiter und teilweise unwiederbringlich zerstört werden? Wie kann man sich hinwenden, Syrien verstehen und sich für das kulturelle Erbe und die Identität einsetzen und welche Bedeutung hat dies für uns in Mitteleuropa?
„Syrien – Fragmente einer Reise. Fragmente einer Zeit“ versucht dies und stellt mit Hilfe von historischen Schwarz-Weiß-Fotografien und Farbdias von Yvonne von Schweinitz (1921-2015) aus den Jahren 1953 und 1960 eine Brücke zur heutigen Situation her.
Die mediale, aktuelle und kontinuierliche Berichterstattung über Syrien hält uns seit 2011 in Atem, wir erfahren etwas über den Bürgerkrieg im Land, der längst internationalisiert ist mit allerlei Fremdinteressen, sehen und erleben die vielen Flüchtlinge, hören Namen von verfeindeten Gruppen und von zerstörten Städten, Orten und Kulturdenkmälern. Dennoch ist vielen von uns in Deutschland und Europa das Land und seine Menschen fremd. Wir kennen kaum seine Historie, die tausende von Jahren zurückreicht, obwohl sie eine der Grundlagen unserer eigenen Geschichte ist: beispielsweise durch biblische und religiöse Ereignisse, die Herrschaft Roms, durch unsere Schrift und Zahlen und durch die Entwicklung und Beeinflussung städtischer Kultur. Dazu kommt seit dem 18. Jahrhundert eine große europäische Orientbegeisterung, die sich besonders deutlich in den Künsten, von der Malerei über die Oper bis in die Literatur niedergeschlagen hat. Syrien ist zudem seit Jahrhunderten ein höchst spannendes Reiseziel für Menschen aus allen Ländern gewesen.
Das heutige Syrien ist ein Konstrukt des 20. Jahrhunderts, eine Konsequenz aus dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reichs. Kontrolliert von Frankreich ab 1920 erhielt Syrien erst im April 1946 seine Unabhängigkeit.
Die Ausstellung „Syrien – Fragmente einer Reise, Fragmente einer Zeit“, die bis Ende Juli 2018 im Museum Fürstenfeldbruck zu sehen ist, präsentiert insgesamt knapp 75 Schwarz-Weiß-Fotografien und über 100 Farbdias, die mit einer Rolleiflex Mittelformatkamera und verschiedenen Kleinbildkameras der Firma Leica entstanden.
Von Schweinitz arbeitete in den 1950er- und 60er-Jahren als Reisefotografin – damals noch unter ihrem Mädchennamen Yvonne Gräfin v. Kanitz – und reiste 1953 von Zürich aus, gemeinsam mit Kollegen per Automobil in den Nahen Osten. 1960 begleitete sie ihren Mann Victor v. Schweinitz auf einer Reise in den Libanon und Syrien. Mitgebracht von ihren Reisen hat sie hunderte von Fotografien und Dias.
Beide Jahre waren friedliche in der Region, 1953 war Syrien gerade sieben Jahre von Frankreich unabhängig und im Aufbau begriffen, 1960 war das Land noch Teil der Vereinigten Arabischen Republik (1958-61) unter der Regierung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, eines panarabischen Versuchs, der bereits nach wenigen Jahren durch einen Militärputsch in Syrien und mit dem Austritt aus der V.A.R. endete.
„Die Ausstellung ist einer Reise gleich konzipiert, vom Grenzübertritt aus Libanon kommend in die Hauptstadt Damaskus, weiter gen Norden zu den bedeutsamen und uralten Städten Homs, Hama und Aleppo, mit Abstechern in die Wüstenoase Tadmur nach Palmyra und ins Alawiten-Gebirge zur Kreuzritterburg „Krag des Chevaliers“ bis zur nördlichen, türkischen Grenze, zum Qal‘at Sim’an, dem byzantinischen ‚Simeonskloster‘“, steht im Katalog. Die gerahmten Aufnahmen auf chamoisfarbenen Barytpapier „zeigen neben bedeutenden geschichts- und religionsträchtigen Baudenkmälern und Sehenswürdigkeiten auch Straßen- und Alltagsszenen, Kulturorte sowie Portraits verschiedener Ethnien“. Die Bilder sind deshalb so spannend und aufschlussreich, weil der Ausstellungsbesucher permanent das Gefühl erhält, Yvonne v. Schweinitz sei mit wachen, offen Augen unterwegs gewesen, war interessiert, kommunizierte und beteiligte sich – aber unaufdringlich und immer mit notwendigem Respekt.
In der Ausstellung geben neben Bildlegenden auch ausführliche Informationstexte Auskunft über die Orte und deren Geschichte und lokalen Geschichten. Sie erzählen von Herrschaft, auch von Kämpfen, Aufständen und Krieg und politischen Interessen, von Zerstörungen durch Erdbeben und Wiederaufbau, aber außerdem von kulturellem Erbe, von Handel, den Religionen und der steten Entwicklung einer wertvollen Region und deren Bewohner.
Nicht unkommentiert bleibt auch die heutige Situation, so ist eine Broschüre mit Satellitenaufnahmen der UNO von UNOSAT zu sehen, die die Zerstörung insbesondere Aleppos veranschaulichen. Außerdem Literatur der vergangenen 90 Jahre, die teilweise in der Zeit der Reisenden bereits zugänglich war und die möglicherweise als Orientierung und Vorbereitung diente.
„Syrien – Fragmente einer Reise, Fragmente einer Zeit“ – und dies steckt sehr bewusst im Titel – erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, auf erschöpfendes Wissen oder umfängliche visuelle und geistige Weisheit. Diese fotografische Reise bleibt wie das Reisen selbst fragmentarisch.
Einerseits wird das Land und seine reichen kulturellen und historischen Bezüge vorgestellt – und dies auf eine ganz andere Weise als das die Massenmedien heute vermögen –, andererseits als Reflexion auf die heutige Situation verdeutlicht, dass die Geschichte Syriens trotz aller Widrigkeiten bestehen bleibt, unzerstörbar ist und das Land und seine Menschen nicht vergessen werden sollten. Das kulturelle Gedächtnis kann auch durch diese Ausstellung weiterleben.
Den Kuratoren war wichtig, dass sich das Publikum auf eine eigene Entdeckungstour begeben kann und sich dem Land – zwar mit Hilfe des fotografischen Blicks und der Augenzeugenschaft von Yvonne v. Schweinitz – letztlich doch in eigener Weise nähern kann.
Syrien – Fragmente einer Reise. Fragmente einer Zeit
Fotografien von Yvonne v. Schweinitz aus den Jahren 1953 und 1960zu sehen bis 29. Juli 2018, im
Museum Fürstenfeldbruck
Fürstenfeld 6 , 82256 Fürstenfeldbruck
Geöffnet: Di-Sa 13-17 Uhr, Do und Fr 11-17 Uhr
Weitere Informationen www.museumffb.de
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zum Preis von 21,40 Euro inkl. MwSt. und Versand
mit Texten (dt./engl.) und 86 Abbildungen.
96 Seiten, 2018, ISBN 978-3-9818282-5-2
Konzept: Prof. Claus Friede und Mathias v. Marcard
Gefördert von: Fondation Erica Sauter, Genf
Abbildungsnachweis: Alle Fotos © Estate Yvonne v. Schweinitz, Berlin
Header: Bus- und Autoreparaturwerkstatt mit Verleih, Aleppo, 1960
Galerie:
01. Omayyaden Moschee, Damaskus 1953
02. Hadrianstor, Palmyra, 1960
03. Tempel des Baal, 1960
04. Kreuzritterburg „Krak des Chevalier“, Al-Hosn, 1960
05. Wasserschöpfrad (Noira), Hama, 1953
06. Mittelsyrisches Bienenkorbdorf, 1960
07. Stoffhändler, Aleppo, 1960
08. Stadttor Bab al-Maqam
09. Mönch in der Ruine des Simeonsklosters, Qal’at Ma’am, 1960
10.Pysische Positionskarte von Syrien. Quelle: Wikipedia, Creative Commons Attribution 3.0 Unported License
11. Aufgang zur Zitadelle, Aleppo, 1960 (Farbdia)
12. Ruine des Simeonsklosters, Qal’at Ma’am, 1960 (Farbdia)
13. Blick in die Ausstellung. Foto: Claus Friede.
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