Das melancholische Schuld- und Sühnedrama „Nostalgia“ mit Pierfrancesco Favino in der Hauptrolle inszeniert der italienische Regisseur Mario Martone („L’amore molesto“, 1995) als subtiles Psychogramm einer Rückkehr nach vierzigjähriger Abwesenheit.
Emotionales Zentrum ist Rione Sanità, die Camorra-Hochburg von Neapel. Der atmosphärisch starke Thriller über das dunkle Geheimnis einer Jugendfreundschaft basiert auf dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea. „Nostalgia“ berührt, erschüttert durch die eindringliche Visualisierung seiner inneren Konflikte. Ein poetisch raues Mafia-Epos fern dem fiebrig schillernden Glamour im Stil von Hollywood.
Das Gesicht des Mannes (grandios Pierfrancesco Favino), der in diesem Moment seine goldene Armbanduhr im Tresor des Hotelzimmers einschließt, ist undurchdringlich. Dies ist jemand, der vor langer Zeit gelernt hat, Gefühle zu verbergen, und doch spüren wir jene Sensibilität und seine stoische ruhige Entschlossenheit, die rare Sanftmut der Unnachgiebigen. Er durchquert die Straßen, hält kaum inne, noch wissen wir nicht, ob er ein Fremder ist oder doch Italiener? Er spricht mit Akzent, ist offensichtlich Muslim. Vieles wird im Film nur beiläufig angedeutet, erklärt sich erst viel später. Der Mann heißt Felice Lasco, nach 40 Jahren kehrt er zum ersten Mal zurück in seine Heimatstadt Neapel – der Mittfünfziger lebt in Kairo, mit seinem Onkel reiste er durch Afrika, arbeitete im Libanon, ist heute ein erfolgreicher Bauunternehmer, glücklich verheiratet. Seine Vergangenheit scheint nur darauf gewartet zu haben, ihn endlich einzuholen.
Felice glaubte seine Mutter (Aurora Quattrocchi) in der gemeinsamen Wohnung von einst zu finden, aber es öffnen Unbekannte, die einsame greise Frau hat man mit einer läppischen Summe abgespeist, ausquartiert in eine ärmliche, enge, dunkle Behausung unten im Erdgeschoss. Da steht sie in der Tür, fast blind, zart, zerbrechlich, verwirrt, überrascht vor so viel Glück, sie hat verlernt mit Nähe umzugehen, wie reagieren? Kein Wort der Klage, nie erwähnt Theresa, die Jahrzehnte ohne den Sohn. Warum verließ er das Land, kam nie zurück? Wir kennen noch nicht die Antwort darauf. Sie weiß weshalb, und sie wusste es damals, war es doch auch ihre Entscheidung. Anfangs noch etwas unbeholfen, aber dann immer energischer, sorgt Felice für sie, kauft erst das Nötigste ein im Krämerladen um die Ecke, Schwamm, Shampoo, Bettwäsche, Nachthemd, kreiert dann Stück für Stück so etwas wie neues Leben für die alte Frau: Mietet eine geräumige Wohnung, in wundervollen Farben gestrichen mit sonniger Terrasse und Zitronenbaum. Teresa löst sich aus ihrer Erstarrung, lächelt wieder. Wenig später stirbt sie. Der vielleicht berührendste Moment ist, wenn der kräftige große Felice die abgemagerte kleine Gestalt in einer Zinnwanne wäscht. Anfangs hat sie sich noch gegen seine Fürsorge gewehrt, schämt sich ihrer Gebrechlichkeit, der Nacktheit, doch mit unglaublich liebevoller Behutsamkeit und viel Geduld nimmt Felice ihr Scham und Angst. Die Rollen zwischen Sohn und Mutter sind getauscht, die Anspannung der letzten Jahrzehnte löst sich auf.
Felice schiebt nach der Beerdigung Woche für Woche die Rückkehr nach Kairo auf, am Ende entscheidet er sich, ganz hier zu bleiben, seine Frau wird nachkommen. Er kann sich nicht trennen von dem Viertel seiner Kindheit, Rione Sanità am Fuße des Capodimonte mit den verwinkelten alten Gassen, den Barockkirchen und verfallenen Palazzi, graffitiverschmierte Fassaden, in heruntergekommenen Miethäusern bröckelt der Putz ab, der Müll türmt sich auf den Gassen. Hier herrschen Armut und die Camorra. Die wehmütigen Erinnerungen an die Zeit als Fünfzehnjähriger und an seinen Freund Oreste entwickeln zum romantisch trügerischen Labyrinth, aus dem er sich nicht befreien kann oder will. Auf einem Motorroller folgt er den Spuren von einst, die Sehnsucht nach der Vergangenheit macht ihn blind für die Veränderungen der Stadt, jene bedrohlich wachsende Brutalität der organisierten Kriminalität. Oreste Spasmano (Tommaso Ragno) ist heute ein gefürchteter skrupelloser Gangsterboss, sein Aufenthaltsort streng geheim. Doch Felice ist überzeugt, nichts könne ihre Freundschaft zerstören, will ihn treffen um jeden Preis, schlägt alle Warnungen in den Wind. Ähnlich einem Puzzle setzt sich die Vergangenheit Stück für Stück zusammen, wir begreifen, warum der 15jährige damals Neapel überstürzt verlassen musste. Doch nicht er führte den tödlichen Schlag aus beim gemeinsamen Diebeszug sondern sein Freund, den Felice noch immer einen Bruder nennt. Für Oreste ist der Mittfünfziger aus Kairo lediglich ein feiger Verräter und gefährlicher Zeuge, als Mafiosi folgt er allein dem Gesetz der Gewalt.
Früh schon hat man Felice zu verstehen gegeben, er soll aus der Stadt verschwinden. Sein Motorroller geht in Flammen auf, Drohungen in roter Farbe an die Zimmerwand gesprüht. Was ist diese Nostalgie, die ihn nicht loslässt? Er trifft einen alten Freund der Mutter, erinnert weder seinen Namen noch sein Gesicht. Vieles aus jener Zeit hat er vergessen, verdrängt, sonst hätte er ihn die Trennung von Heimat und Mutter vielleicht innerlich zerstört. Er lernte arabisch, konvertierte zum Islam, heiratete, begann ein neues Leben. Wir kennen nur die Ehefrau Arlette (Sofia Essaïdi) vom Display des Handys, sie fragt, ob sich nicht viel verändert hätte. Felice verneint, Gewalt war immer ein Teil von Neapel. Die Sehnsucht nach der Jugend wird zur Obsession. Kameramann Paolo Carrera dreht die Rückblenden im körnigen unscharfen Super-8 Stil, verstärkt das Irreale, die Illusion. Auch wenn wir Rione Sanità aus der visuellen Perspektive des Protagonisten erleben, ist es Padre Luigi (Francesco De Lava), der uns mit der Realität konfrontiert, den orientierungslosen Jugendlichen, verarmten Emigranten, den Arbeitslosen, die jede Tätigkeit akzeptieren müssen, um zu überleben. Ein höchst unromantisches Bild von Neapel aber nicht ohne Hoffnung. Der furchtlose Priester gehört zu den wenigen, die wagen sich offen gegen Camorra aufzulehnen, hält vor der Basilika flammende Reden und grade er soll nun helfen, den Kontakt zu Oreste herzustellen. Für Don Luigi ist Fortgehen, so wie es Felice es einst tat, die einzige Option für die jungen Schützlinge seiner Gemeinde.
Der in Neapel geborene Regisseur wählte die Heimatstadt immer wieder als Handlungsort und Thema seiner Filme wie „Morte di un mathematico napoletano“ (1992). Martone schreibt in seinem Director’s Statement über Rione Sanità: „Das Viertel verbindet alles: die fernen Jahre, in denen der Film spielt, den Nahen Osten - wo der Protagonist schließlich gelandet ist –, die Träume, die Herausforderungen, die Fehler. Ich habe die Schauspieler und die Crew eingeladen, in das Viertel einzutauchen, ohne Angst, sich zu verirren, als wäre es ein Labyrinth. Mit der Kamera auf den Schultern begannen wir, durch die Straßen zu gehen. Wir machten eine Begegnung nach der anderen, wir trafen auf Menschen und auf Geschichten, und am Ende drehten wir die letzte Szene und fragten uns, was ihr Sinn sei, und wir konnten ihn nicht finden. Vielleicht gibt es keinen Sinn, vielleicht gab es ihn nie. Es gibt das Labyrinth, und es gibt die Sehnsucht, die das Schicksal von vielen, vielleicht von uns allen ist.“
Das Gesicht von Pierfrancesco Favino (Il Traditore, Suburra) wird zur Projektionsfläche widersprüchlichster Emotionen. „Nostalgia“ ist eine Art elegisches Roadmovie durch Vergangenheit und Gegenwart, ob zu Fuß oder auf dem Motorroller entdecken wir eine uns unbekannte Welt, was wir kennen, ist das Gefühl von Verlust, ob Jugend, Freundschaft, Liebe, der Schmerz ist universell.
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Regie: Mario Martone
Drehbuch: Mario Martone, Ippolita di Majo
nach dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea.
Darsteller: Pierfranesco Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno, Sofia Essaïdi Produktionsland: Italien, 2022
Länge: 118 Min 8. Juni 2023
Fotos, Pressematerial & Trailer: © 2022 Picomedia Mad Entertainment. Medusa Film. Rosebud Entertainment Pictures
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