Film

Der belgische Regisseur Lucas Dhont erzählt in „Close“ von der Fragilität der Gefühle, der scheinbaren Selbstverständlichkeit des Glücks, das von einem Moment zum anderen sich auflöst, weil der Blick Anderer auf uns die Welt auf den Kopf gestellt hat. Und er erzählt von der Fähigkeit wie auch Unfähigkeit mit Verlust umzugehen. 

 

Im Mittelpunkt steht die enge Freundschaft zweier dreizehnjähriger Jungen. Dhont lässt auf magisch subtile Weise die Grenzen zwischen Worten, Bewegung, Emotionen, Farben und Formen verschwimmen. „Close“ gewann letztes Jahr den Grand Prix in Cannes und ist nun nominiert als bester internationaler Film bei den Academy Awards 2023.

 

Selbst wenn Rémi (Gustav De Waele) Oboe übt, weicht ihm Léo (Eden Dambrine) nicht von der Seite. Die beiden Dreizehnjährigen sind beste Freunde und unzertrennlich, teilen alles miteinander. "Ich werde später Dein Manager“, verkündet der musikalisch weniger talentierte Léo. Sie toben ausgelassen durch die Blumenfelder, liefern sich auf den Fahrrädern Wettrennen, albern beim Abendessen mit den Spaghetti rum, ihr unbekümmertes Lachen ist unentbehrlicher Teil des Sommers. Als Zuschauer spürt man fast körperlich jene Ausgelassenheit, die tiefe Zuneigung der Jungen füreinander, wir sind mehr als Beobachter, ihre Erinnerungen werden unsere, überschneiden sich mit längst Vergessenem aus der eigenen Vergangenheit. Zwei verspielte Träumer an der Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz: Nähe, Vertrautheit geben ihnen das Gefühl von Sicherheit, kein Konflikt scheint unüberwindbar, sie pendeln zwischen den beiden Familien, wie sie grade Lust haben, schlafen auch nachts nebeneinander. Doch mit Ende des Sommers und dem Wechsel auf eine neue Schule gerät ihre enge Verbundenheit ins Wanken.

 

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Ein wenig ängstlich wirken die beiden in der ungewohnten Umgebung. Léo legt seinen Kopf auf die Schulter des Freundes, so wie er es vielleicht oft schon getan hat. Eine Mitschülerin fixiert ihn: "Darf ich Euch mal was fragen. Seid ihr beiden zusammen?“ Fast wie ertappt, antwortet Léo: „Nein, wir sind wirklich kein Paar, wir sind beste Freunde, – im Sinne von Brüdern.“ Die Mitschülerin glaubt ihm nicht: „Wohl ein bisschen mehr als Brüder.“ Genau in diesem Augenblick endet die Unbeschwertheit der Kindheit, Zuneigung, Zärtlichkeit verlieren ihre Unschuld. Die Perspektive der Außenstehenden zerstört das bis dahin scheinbar Unzerstörbare. Rémi reagiert auf das Gerede der anderen weniger empfindlich, doch Léo beginnt sich zurückzuziehen von ihm, reagiert aggressiv, meidet jedes Zusammensein, was früher ein verspieltes Balgen war, wird plötzlich zu einer heftigen emotionsgeladenen Prügelei, als ginge es um Leben und Tod. Und irgendwo tut das auch. Der blonde Léo spricht nicht darüber, was in ithm vorgeht. Und der dunkelhaarige Rémi betrachtet ihn aus der Ferne, fragt höchstens: „Warum hast Du nicht auf mich gewartet wie sonst?" Er begreift nicht, was geschehen ist. Der Freund wird nie mehr auf ihn warten. Der Schmerz trifft uns ebenso unerwartet wie ihn. Wenn Rémi beim Eishockeyspielen zuschaut, ist Léo das peinlich: „Warum bist Du hier?“ fragt er. Verletzender kann Zurückweisung kaum sein. Sich schämen für eine Freundschaft ist mehr als Verrat. Die eigenen Schuldgefühle machen den Jungen noch aggressiver. 

 

Eine Klassenfahrt ohne Rémi, bei der Heimkehr erfährt Léo vom Selbstmord seines Freundes. Die Umstände werden nie erörtert. Wie mit der Trauer umgehen, den Schuldgefühlen, der Hoffnungslosigkeit, davon handelt „Close“. Es wird wenig gesprochen im Film. Lucas Dhont hatte eigentlich Tänzer werden wollen, der Schmerz wird ausgedrückt durch Gesten, Bewegung, das Gesicht von Léo spiegelt seine widersprüchlichen Emotionen wider, oder besser das Verbergen, das Unterdrücken eben dieser. Die Montur beim Eishockey umgibt ihn wie ein Panzer, der Junge kämpft auf dem Eis gegen die Schuldgefühle an wie gegen unsichtbare Gegner, Verzweiflung, Selbsthass überwältigen ihn. Dass Dhont ein begnadeter Regisseur ist, bewies er er schon vor vier Jahren mit „Girl“, der Coming-of-Age Story über ein 15jähriges Mädchen gefangen im Körper eines Jungen, das hart für die Karriere einer Ballerina trainiert, an den eigenen Herausforderungen fast zu Grunde geht, sich am Ende selbst kasteit in ihrer Hilflosigkeit. Und auch hier geht es wieder um die Suche nach Identität, Selbstverwirklichung. Kameramann Frank van den Eeden kreiert intime betörend schöne Bild-Sequenzen. Entfremdung, Tod, Trauer und dann schrittweise der Heilungsprozess, die Rückkehr zum Leben. 

 

Anstoß zu dem Thema von „Close“ war für den Filmemacher eine psychologische Studie der US-Amerikanerin Niobe Way mit dem Titel „Deep Secrets“ (2011). Sie hatte mit 150 Jungen gesprochen im Alter zwischen 13 und 18. Die 13jährigen verstecken noch nicht ihre Verletzbarkeit, zeigen offen ihre Gefühle, das Vokabular ist voller Emotionen, das Wort „love“ fällt oft, Freundschaft mit anderen Jungen bedeuten ihnen viel. Bei denselben Fragen im Alter von 16, 17, 18 wagen sie nicht mehr offen zu antworten, das Wort „love“ ist tabu, wenn sie übereinander sprechen. Dhont sah die Parallelen zu seinen Erlebnissen in der Jugend. Lange hatte auch er, Zärtlichkeit, die eigene Fragilität als Schwäche angesehen. Bei einem Besuch seiner Grundschule kamen alle Erinnerungen zurück, er hatte immer unter dem Gefühl gelitten, zu keiner Gruppe zu gehören, wurde gehänselt. Er versuchte Ordnung in das emotionale Chaos zu bringen, schrieb einige Worte auf ein leeres Blatt Papier: „Freundschaft, Intimität, Angst, Männlichkeit.“  Der Beginn von „Close“.

 

Das Kino hatte Dhont durch seine Mutter entdeckte, die den Film „Titanic“ liebte. Er dagegen wollte unbedingt intime, ganz persönliche Filme machen, erforschen, was ihn in seiner Kindheit und den frühen Jahren als Teenager bewegt und verstört hatte. Manche Kritiker spekulieren in ihren Reviews darüber, sind die Junge gay, oder nur Rémi? Das ist nicht das Entscheidende, im Gegenteil- ausschlagend ist der Druck der Umgebung, sich anzupassen, in eine Rolle gezwängt zu werden, die nicht die eigene ist. „Close“ trifft mitten ins Herz, besitzt eine unverwechselbare Ästhetik, einen ganz eigenen subtilen Rhythmus, lässt unserer Fantasie aber noch viel Spielraum. Das erste Mal einen Freund verleugnen ist wie das Initiationsritual für Erfolg, Aufstieg in einer menschenverachtenden Gesellschaft, von da an ist Loyalität nur unliebsame Bürde, außer sie steht für gemeinsame Interessen. Was uns an den beiden Jungen so fasziniert, ist die Wahrhaftigkeit ihrer uneingeschränkten Zuneigung. Dhont schildert sie mit behutsamer Präzision genau wie später die Abgründe. Unglaublich die schauspielerische Leistung von Eden Dambrine und Gustav de Waele. 

 

Lucas Dhont über den Film: 

„Im Verlauf der drei Jahre, die es dauerte, bis ich das Drehbuch geschrieben hatte, habe ich mich mit vielen Müttern getroffen, die einen Sohn verloren hatten. Eine von ihnen, mit der ich häufig spazieren ging und die sich mir anvertraute, schrieb mir einen außergewöhnlich offenen Brief, wie sie sich nach dem Tod ihres Sohnes fühlte. In diesem Brief schrieb sie, dass sie sich als Gefangene fühlte, eingesperrt von ihrem Gefühl der Verantwortung und ihrem Versagen, wirklich trauern zu können. Das ist der Geschichte Léos sehr ähnlich; es gibt eine klare Parallele. Wir sind es gewohnt, dass Frauen in Filmen weinen und vor Schmerz aufschreien, aber  hier richtet sich der Schmerz nach innen. Ich fühlte eine Verbindung zu der sehr persönlichen Beichte dieser Mutter. Das war der Schlüssel zu der Figur, die Émilie Dequenne spielt, eine Schauspielerin, die in der Lage ist, starke Gefühle auszudrücken, und doch bat ich sie im Verlauf des Drehs, diese Gefühle immer unter Verschluss zu halten, nichts zu zeigen. Ich bin ungemein stolz auf ihre Darstellung, weil ich den Eindruck habe, dass sie unter der Oberfläche sehr viel ausdrückt, ohne jemals auf Pathos zurückzugreifen.

 

Es war meine Absicht, einen Film zu machen, der sich vor Freunden, zu denen ich den Kontakt verloren habe, verbeugt. Oft ist es meine eigene Schuld, weil ich zu viel Abstand gewahrt habe und das Gefühl hatte, ich hätte sie betrogen. Es war eine verwirrende Zeit, und ich fand damals, dass es der beste Weg war, mich zu distanzieren. Außerdem wollte ich etwas erzählen über den Verlust eines Menschen, der einem nahe steht, und darüber, wie wichtig die Zeit ist, die wir mit denen verbringen, die wir lieben. Im Kern der Geschichte steckt das Ende einer engen Beziehung, es geht um die Verantwortung und die Schuldgefühle, die daraus entstehen… Es ging mir um die schwere Bürde, die wir zu tragen haben, wenn wir uns für etwas verantwortlich fühlen, aber nicht in der Lage sind, darüber zu reden. Léo, die Hauptfigur, muss dieses Gefühl verarbeiten, das aus dem Verlust einer sehr engen Freundschaft entsteht, die seine Identität definiert. Ich wollte auf der Leinwand zeigen, was genau es ist, das sein Herz hat brechen lassen."

 

Lucas Dhont kommt selbst aus einer Kleinstadt mitten auf dem Land, 20 Minuten von Ghent entfernt. "Das ist die Welt, in der ich groß geworden bin. Ich rannte selbst immer durch diese Felder. Die Blumenzucht basiert auf der Farm, wie ich sie aus meinem Heimatdorf kenne. Ich fand es wichtig, dass die Blumenfelder eine Verletzlichkeit ausstrahlen, die ein Kontrast zu der Welt des Eishockeys ist. Léos Familie arbeitet in dieser bunten Welt, die auch einen bestimmten Aspekt von Kindheit ausstrahlt, und es ist eine Landschaft, die sich mit den Jahreszeiten verändert. Wenn der Herbst kommt, werden die Blumen abgeschnitten, ein sehr gewaltsamer Akt, und die Farben verschwinden. Der Wechsel der Jahreszeiten markiert auch einen deutlichen Bruch von den Farben der Kindheit zu erdigen Braun- und Schwarztönen. Ich wollte diese Kontraste klar herausarbeiten, um die Trauerarbeit des Kindes zu verdeutlichen. Nach dem Winter werden neue Blumen gepflanzt und die Farben kehren zurück, sie künden von Hoffnung und dem Versprechen, dass das Leben weitergehen wird. Die letzte Szene schrieben wir schon sehr früh, weil wir von Anfang an Farbe als ästhetisches Mittel verwenden wollten.

 

Was die Familien anbetrifft, so entspringen die einem einzelnen Bild, das ich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Kopf hatte: eine Mutter und ein Kind in einem Auto, dem Kind ist es unmöglich auszusprechen, was in ihm vorgeht. Die Szene selbst war noch unklar, aber ich wusste, dass eine gewisse Spannung von ihr ausgehen sollte. Ich erinnere mich, dass ich als Junge den Horrorfilm „Das zweite Gesicht“ (1993) mit Macaulay Culkin als Jungen mit psychopathischen Tendenzen gesehen habe. Dieser Film inspirierte mich und gab mir die Idee für Sophie, Rémi Mutter, wie auch Léos Mutter. Der Ausgangspunkt für mich war, dass die eine die Freundschaft der beiden Jungen intensiver miterlebt, weil die Jungen sich eigentlich immer in ihrem Haus treffen, während die andere diese Beziehung aus größerer Entfernung sieht. 

 

Die Entscheidung, meinen ersten Film „Girl“ zu nennen, war ein Statement, von dem ich den Eindruck hatte, dass ich es machen musste. Bei „Close“ war es so, dass dieses Wort immer wieder in dem bereits erwähnten Buch „Deep Secrets“ auftauchte: „enge Freundschaft“. Das Wort ist unvermeidlich, wenn man die intime Beziehung zwischen diesen beiden Freunden beschreibt. Dass diese Intimität so genau beäugt und bewertet wird, ist der Katalysator für die tragischen Ereignisse des Films. Wenn wir jemanden verlieren, suchen wir nach Intimität zu dem Menschen, der nicht mehr da ist. Wir sehen uns konfrontiert mit einer Art existenziellem Kampf. Das Wort kann aber ebenso die Vorstellung beschreiben, eingeengt zu sein, eine Maske zu tragen, die Unmöglichkeit, man selbst zu sein. Die erste Idee, die wir für den Titel hatten, war „We Two Boys Together Clinging“. Er bezieht sich auf ein Gemälde von David Hockney, das von einem Gedicht Walt Whitmans inspiriert ist und für die Brüderschaft von Männern steht. „Clinging“ – klammern – ist ein besonders expressives Wort für die Sehnsucht eng mit einem anderen Menschen verbunden zu sein.“

 

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Originaltitel: Close

Regisseur: Lukas Dhont 

Drehbuch: Lukas Dhont & Angelo Tjssens

Darsteller: Eden Dambrine, Gustav de Waele, Émilie Dequenne, Léa Drucker

Produktionsland: Belgien, Frankreich, Niederlande, 2022

Länge: 109 Minuten 

Kinostart: 26. Januar 2023

Verleih: Pandora Film Medien GmbH


Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Pandora Film Verleih

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