Film

„Come on, Come on” ist ein poetisch philosophisches Roadmovie zwischen Realität und Fiktion, Zorn und Zärtlichkeit. 
Der kalifornische Regisseur Mike Mills schildert in leicht melancholischen Schwarz-Weiß-Bildern Stärke und Fragilität familiärer Bindungen, eröffnet neue ungewohnte Perspektiven auf Zukunft, Erinnerung und das Selbstbewusstsein unserer Kinder. Vor allem aber geht es um die Kunst des Zuhörens. 


Mike Mills lässt sich für seine Filme aus dem engsten Umfeld inspirieren, „Beginners“ (2011) handelt von dem späten Coming-Out seines Vaters, Christoph Plummer erhielt für die schauerspielerische Leistung in der Hauptrolle den Oscar. In „20th Century Women” (2017) geht es um die Entfremdung zwischen einer alleinerziehenden 50jährigen Frau und ihrem pubertierenden Sohn, Mills verarbeitete die Charakterzüge von Mutter und Schwester. Vorbild für „Come on, Come on” war sein eigener Sohn. 

Nach dem schmerzhaften Ende einer engen Beziehung konzentriert sich der New Yorker Radiojournalist Johnny (grandios Joaquin Phoenix) ganz auf seine Reportagen. Er reist mit einem kleinen Team durch die Staaten und befragt Jugendliche über ihre Träume, Hoffnungen, Ängste. „Wenn Du an die Zukunft denkst, wie stellst Du sie Dir vor?” An diesem Abend erreicht ihn ein Anruf seiner in Los Angeles lebenden Schwester Viv (Gaby Hofman). Die beiden haben seit dem Tode der Mutter kaum noch Kontakt. Paul (Scoot McNairy), sein Schwager, leidet unter psychotischen Episoden, will nicht ins Krankenhaus, Viv muss sich in Oakland um ihn und dessen riesigen Hund kümmern, sucht jemanden, der für die nächsten Tage auf den neunjährigen Sohn Jesse (Woody Norman) aufpasst. Johnny bietet seine Hilfe an trotz des höchst ungelegenen Zeitpunkts. Es ist das erste Mal für den Single, dass er elterliche Pflichten und die Verantwortung für ein Kind übernimmt. Und für den hochsensiblen Jesse ist es das erste Mal, länger von seiner Mutter getrennt zu sein. Der altkluge kapriziöse Junge, gewöhnt an die ständige Aufmerksamkeit seiner Mutter und einen ungemein großen Freiraum, verlangt als gleichwertiger Partner respektiert zu werden. In diesem Leben ist für einen Onkel aus New York eigentlich kein Platz.

Johnny versucht den Neffen einzubinden in das Reportage Projekt, stellt ihm die Fragen, auf die im Laufe der Handlung alle Kids bereitwillig antworten. Jesse weigert sich, was ihn aber fasziniert sind das Aufnahmegerät und das riesige Mikro, Geräusche aufzuspüren, die Welt über Kopfhörer neu zu entdecken. Der Neunjährige, will keine Fragen beantworten, zumindest nicht bevor er alle seine Fragen gestellt hat und die Erklärungen ihn überzeugen. Der Radioreporter, im Beruf bestimmt sehr kommunikativ und flexibel, fühlt sich überfordert und hilflos. Der Film ist von ungeheurer Authentizität und wirkt doch manchmal wie ein inszenierter surrealer Survival-Trip durch emotionale Krisengebiete. Jesse fordert seinen Gegner heraus, beharrt auf seinen Rollenspielen und Fantasien, nichts darf die Routine stören, und so verwandelt er sich wie jeden Abend in ein obdachloses Waisenkind, das Unterschlupf sucht. Schlaflose Nächte, ohrenbetäubende Musik vor Sonnenaufgang, Johnny ist nur noch genervt genau wie mancher Zuschauer, auch wenn einige Eltern stolz betonen, dergleichen Schwierigkeiten bravourös gemeistert zu haben. 

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Irgendwann macht der erschöpfte ungeübte Pflegevater seinem Unmut Luft, will wissen, warum alles immer so exzentrisch sein muss. Darin liegt eine gewisse Ironie, denn kaum ein Schauspieler beherrscht Exzentrik so virtuos wie Joaquin Phoenix, nicht nur im „Joker”, für dessen Darstellung er 2020 mit dem Oscar aufgezeichnet wurde: Regisseur Todd Phillips katapultierte uns mitten hinein in die seelischen Abgründe seines Protagonisten. „Joker” sprengte künstlerisch das DC Format: Die nihilistische Fallstudie eines verstörten Außenseiters, entwickelt sich zur atemberaubendem Pantomime der Verzweiflung, ein schillerndes mörderisches Neo-Noir-Ballett zwischen Anpassung und Anarchie, Anmut und Lächerlichkeit. Phoenix mag es, wenn Fiktion und Realität miteinander verschmelzen, sich kaum noch dechiffrieren lassen wie 2010 in „I’m still here”: Mediensatire, genialer Schachzug oder missglückter Versuch einer strapaziösen Selbstinszenierung? Vielleicht von allem etwas. 2008 hatte Hollywoodliebling Joaquin Phoenix („Walk the Line”) überraschend seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft verkündet und den Beginn einer Karriere als Rapper. Monatelang begleitet Regisseur Casey Affleck seinen Schwager Phoenix Tag und Nacht mit der Kamera.  Resultat: Die schonungslose Chronik eines verzweifelten Künstlers, aufgedunsen, mit struppigen langen Haaren, Bart und Sonnenbrille nicht wiederzuerkennen. Das Talent reicht nicht, die Produzenten verweigern sich, die Moderatoren verspotten ihn. Sex, Drogen, Alkohol. Erniedrigung wird zu Aggression. Phoenix der Aussteiger gibt sich systemkritisch, fühlt sich unverstanden, plappert nonstop, die Worte oft kaum verständlich. Nichts davon ist echt, alles gespielt. Genial? Afflecks Regiedebüt erinnerte an frühe Undergroundfilme, zelebriert Untergang als Selbsterfahrung und vermarktet sie als dokumentarische Fiktion. 

In „Come on, Come on” nimmt sich Phoenix zurück, verkörpert mit unglaublicher Sensibilität die behutsame Annäherung an Jesse. Der Endvierziger wohl etwas aufgedunsen von zu viel Fastfood ist ein exzellenter Zuhörer und Beobachter. Er greift die Gesten des Jungen auf, führt sie weiter wie ein Musiker, der sich auf den Rhythmus, die Melodie seines Gegenüber einlässt, auch um im entscheidenden Moment auf sein Themen überzuleiten. Dem Neunjährigen bringt er jene Geduld entgegen, welche ihm im Umgang mit seiner Schwester fehlte. Jesse ist wie ein Echo der Erwachsenen, mit denen er aufwuchs. Wir erkennen in ihm die Unerbittlichkeit, den Kampfgeist von Viv.  Auch wenn sie physisch fern ist, spüren wir doch ihre Präsenz und begreifen, welche entscheidende Rolle sie spielt. Mike Mills sieht in ihr die Verkörperung eines im Film verwendeten Zitats aus dem Buch „Mothers: An Essay on Love and Cruelity” von Jacqueline Rose. „Mütter sind der ultimative Sündenbock für unser persönliches und politisches Versagen, für alles, was in der Welt falsch läuft, und das zu reparieren ihre Aufgabe ist- die sie natürlich nicht erfüllen können.” Der Regisseur wollte einer Rolle „Tribut zollen, die sowohl an den Rand gedrängt als auch romantisiert werden kann, aber nie weniger als essenziell ist.” Jesse bedrängt den Onkel, zu gestehen, warum er den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen hatte. In Rückblenden sehen wir, wie liebevoll Johnny mit der dementen Mutter umgeht, ihre Wünsche scheinbar ernst nimmt, sich einlässt auf deren Gedanken. Viv wird ärgerlich, sie hat die Verantwortung. Jene Freiheit, die Zuwendung, die für den Sohn selbstverständlich ist, verweigerte sie der greisen Frau, und sei es nur für einen Moment als Illusion. Das muss unweigerlich zum Streit führen. Nur wie soll man solch Zerwürfnis einem Kind erklären?

Der Umgang zwischen Onkel und Neffe wird offener, ehrlicher, die Wahrnehmung der Welt verändert sich für beide. Jene Spaziergänge mit Aufnahmegerät und Mikro schafft eine tiefe existenzielle Bindung zwischen ihnen.  Für die Geduld des Älteren revanchiert sich der Jüngere mit guten Ratschlägen zum Stressabbau. Der Tag der Abreise rückt näher, Johnny fragt den Neffen, ob er New York kennt, der möchte liebend gern mitkommen. Der Onkel willigt ein, seine Schwester ist entsetzt, dass er sie übergangen hat. Der eigentliche Roadtrip beginnt. Das Besondere an Mills Filmen ist ihre Struktur, die Ästhetik, die den inneren Wandel der Protagonisten reflektiert, Hoffnungen und Ängste, Zorn und Zärtlichkeit.  „Come on, Come on” spielt mit Gegensätzen: Familie und Welt, Jugend und Alter, große und kleine Krisen. Mills hatte schon früh die Idee in schwarz-weiß zu drehen, um eine Stimmung zu schaffen, in der Realismus und Mythos aufeinanderprallen. Die Farbskala schien gleichzeitig die Düsternis der Großstädte, die Melancholie von Jesse und James einzufangen aber auch ihre Fröhlichkeit. „Ich habe den Film immer als ein Zusammenspiel aus Fabel und dokumentarischen Elementen gesehen”, sagt der Regisseur. „Schwarz-weiß funktioniert für beides. Es ist intim, lässt aber auch mehr Spielraum, holt die Figuren aus der Zeit heraus, distanziert uns vom Alltag und macht die Bilder fast zu Zeichnungen.“ 

Ganz abgesehen davon liebt Mills Schwarz-Weiß-Filme. Nicht nur Wim Wenders „Alice in den Städten” (1974), sondern auch Filme mit eher lebhaftem als nüchternem Einsatz von schwarz-weiß wie Francois Truffauts „Schießen Sie auf den Pianisten” (1960), Miloš Formans „Die Liebe einer Blondine”, Peter Bogdanovichs „Paper Moon” (1973) und Ermanno Olmis „Die Verlobten” (1963). Er dachte auch an die kleinen Chiaroscuro-Tagebuchnotizen von Pierre Bonnard, dem postimpressionistischen, vom Licht besessenen Maler (1867-1947): „Ich wollte dieses Gefühl der schnellen, gestischen Direktheit, diese Unmittelbarkeit rekreieren, wie etwa bei seiner Frau in der Badewanne.” Kameramann Robbie Ryan („The Favourite”, 2019, „American Honey”, 2016) genoss die Möglichkeit, vier unterschiedliche Städte monochrom zu filmen, New York ist berühmt dafür, nicht aber das sonnenüberflutete Los Angeles oder das farbenfrohe New Orleans. „Da es sich um ein Roadmovie handelt, denke ich, dass schwarz-weiß dazu beiträgt, all den verschiedenen Orten eine gewisse Einheitlichkeit zu verleihen. Durch die Bilder fügt sich diese Reise zu einer Einheit zusammen,” sagt Ryan. „Man taucht wirklich ab in diese Welt. Aber die Herausforderung bestand immer darin, ein Gleichgewicht zu finden, damit die Bilder nie die Beziehungen oder Emotionen in dieser Geschichten erdrücken.”

Den Regeln des Roadmovies entsprechend, wurde „Come on, Come on” chronologisch gedreht. Ziel war, so unaufdringlich und beweglich wie möglich zu sein, nur so ließ sich die reale Welt in den Film einbeziehen. Während der Soundtrack von Mozart über Wire bis hin zur äthiopischen Pianistin Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou reicht, ist der Score eher ein zarter minimalistischer Unterton aus Synthesizern und Klarinette. Zusammen mit Aaron und Bryce Dessner (Rockband The Nation) suchte Mills nach einem sanften Sound, dessen Melodie und Akkordfolge jene außergewöhnliche Beziehung zwischen Johnny und Jesse einfängt, subtil und intim „wie eine Klangwolke”. „Wir wollten etwas kreieren, das vor allem für die Interviews nicht zu schwer und dominierend war... Die Musik musste mit der allgegenwärtigen Klangwelt des Films harmonieren. Das Sounddesign ist für die Erzählung ebenso wichtig wie das Bild.”  

Johnny und Jesse treffen in einem Moment der Krise aufeinander, sowohl innerhalb der Familie als auch in der Welt.  Ihre gemeinsame Zeit wird zu einem flüchtigen, aber transformativen Road-Trip, der ihre Sichtweise aufeinander und auf sich selbst für immer verändert. Aus den Höhen und Tiefen ihrer Reise durch die USA entwickelt sich eine Meditation über Liebe, Elternschaft, Erinnerung und die Frage, wie im Leben weitermachen, auch wenn wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Johnny und Jesse fassen nach und nach ein zaghaftes Vertrauen zueinander. Sie bringen sich gegenseitig dazu, ihre Ängste auszuhalten und zu sagen, was viel zu oft nicht gesagt wird. Mills filmische Autofikton speist sich aus unzähligen Einflüssen seines Umfelds, aus Filmen, Musik, Büchern, den Menschen, die ihn inspirieren. Er verbindet die kleinen intimen Momente, ein Kind baden, das Gespräch vor dem Schlafengehen mit der Dokumentation über die Komplexität des Lebens junger Menschen im Amerika des 21. Jahrhunderts, wo „Kinder die Gefahren unserer Zeit von überforderten Erwachsenen erben”. Ein immer wieder kehrendes Thema in Mills’ Werk ist die Erinnerung,-die Dinge, die uns bleiben, die Dinge, die wir vermissen und die tiefe Angst, dass sich die schwer fassbaren Momente des Glücks nie wirklich festhalten lassen.

 

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Originaltitel: C’mon C’mon

Regie: Mike Mills
Drehbuch: Mike Mills
Darsteller: Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann, Scoot Mcnairy, Molly Webster
Produktionsland: USA, 2021
Länge: 109 Min
Kinostart: 24. März 2022
Verleih: DCM Film Distribution GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright DCM Film Distribution GmbH. © A24

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