Film
Assassination Nation

„Assassination Nation” ist der perfekte Film für eine krasse Lady’s Night. Taugt der politische Anspruch als Message oder verbirgt sich dahinter nur eine feministisch aufgemotzte Pose?
US-Regisseur Sam Levinson blufft nicht, er inszeniert das semi-surreale Gesellschaftsporträt als verstörende Horror-Satire, ästhetisch inspiriert von Jean-Luc Godard und den japanischen Sukeban-Rachedramen der Siebziger Jahre.

So radikal wie hier hat selten eine Protagonistin ihr Missbehagen an den männlichen Erwartungen artikuliert. Die kollektive Lust auf Unterhaltung, Demütigung und Gewalt führt unweigerlich zur Selbstzerstörung. Hinter dem schillernden Glamour-Kosmos Instagram, Facebook, Snapchat & Co lauern dunkle Geheimnisse. Hackerangriffe verwandeln die scheinbar braven Bürger des fiktiven Provinzstädtchens Salem zum blutrünstigen Mob, Anspielung auf die Hexenprozesse von 1692.

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Sie sind beste Freundinnen und die angesagte Girl-Gang der High School: Lily (Odessa Young), Bex (Hari Nef), Em (Abra) und Sarah (Suki Waterhouse). Partys, Outfits, Selfies, Emojis, Sexting und das richtige Make-up sind genauso unverzichtbarer Teil ihrer Welt wie die erste Liebe. Lange Beine, ultra-kurze Shorts, wie immer sie sich stylen, das Resultat muss hinreißend sein und ist hart erarbeitet #fabulous. Sich selbst offenbaren oder immer neu erfinden, das Internet hat sie alle in zwei Persönlichkeiten gespalten, off- und online. Studien belegen, dass amerikanische Jugendliche durchschnittlich elf Stunden pro Tag dort verbringen. Die Teenager sollen proportional unglücklicher sein, je länger sie sich in den sozialen Medien bewegen, aber ohne fühlen sie sich ausgeschlossen und allein.

Lily, die versierte Instagram-Nutzerin, ist mit Smartphones groß geworden, hat nie ein Leben ohne den Gruppenzwang von Facebook erfahren. Privatsphäre ist ihrer Meinung nach etwas für naive alte Leute, noch hat sie das Ausmaß der Gefahr in keiner Weise begriffen, die Funktion des Internets als digitalen Pranger mit dem Risiko für alle Zeiten bloß gestellt zu werden. Scham ist die bestimmende Emotion in Levinsons Rache-Epos. Der Angriff auf Salem kommt nicht von außen, sondern durch eine moderne Terrorwaffe in ihrer Mitte, anonyme Hacks. Der Film beginnt einem provokanten Bombardement aus Trigger-Warnungen in riesigen rot-weiß-blauen Lettern, die den Zuschauer vorbereiten, auf das, was ihn erwartet: Mobbing, Blutvergießen, Tod, Drogenmissbrauch, Folter, Fluchen, Homophobie, Transphobie, Rassismus, Sexismus, toxische Männlichkeit, Entführung, Nationalismus und vor allem der männliche Blick. Das ist Lilys Reich der Sinne. Überall taucht immer wieder die amerikanische Flagge auf, um daran zu erinnern, wie viel Realität in diesen Horror-Visionen steckt.

Lily geht offiziell mit dem eher langweiligen sportlichen Mark (Bill Skarsgard), heimlich schickt sie aufreizende Selfies an einen mysteriösen älteren Mann, ihre Transgender-Freundin Bex fängt auf einer Party was an mit dem attraktiven Latino-Footballer Diamond (Danny Ramirez), sie ist echt verknallt in den Jungen, der ihr am Ende der Nacht unmissverständlich zu verstehen gibt, dieses Encounter habe eigentlich nie stattgefunden, den nächsten Tag würdigt er sie keines Blickes. Gelegenheitshacker Marty (Noah Gavin) erhält von einem Unbekannten Material, das den schwulenfeindlichen Bürgermeister Major Bartlett in Damenunterwäsche und mit männlichen Escorts zeigt, die Bilder sind wenig später überall online. Der Lokalpolitiker erschießt sich, kurz darauf gerät Purcell, der High School-Direktor ins Visier des Hackers, es tauchen Fotos im Netz auf, die seine sechsjährige Tochter in der Badewanne zeigen. Sofort macht das Gerücht die Runde, er sei pädophil. Lily hat Zweifel, hängen bei ihnen daheim im Elternhaus nicht auch solche Fotos?

Vorbei die Chance auf eine objektive Untersuchung, kein Geheimnis ist mehr sicher, immer neue schlüpfrige Informationen tauchen auf, auch Lilys Selfies, Empfänger war der verheiratete Nachbar Nick, wo sie öfter als Babysitter aushalf. Die Eltern reagieren mit Abscheu und Entsetzen, werfen die Tochter aus dem Haus, Mark demütigt sie aufs Grausamste, Jungen wie er und Diamond sind Produkt einer bigotten Erziehung, Aggression ist ihre Antwort auf Hilflosigkeit. Der Hass brodelt, die Gewalt eskaliert wie während jener grotesken Episode moralisch hysterischer Obsession aus dem Jahr 1692, zwanzig Menschen mussten damals sterben. Unsere Protagonistin wird öffentlich beschuldigt, die Verantwortung für die kompromittierenden Daten-Leaks zu tragen, die Stadt ist wie im Blutrausch, dieser Teenager scheint die ideale Feindfigur, schillernde Inkarnation des Bösen. Demokratische Tugenden haben ausgedient. Sam Levinson macht Lily als Stimme aus dem Off zur Chronistin der Tragödie, in der Eröffnungssequenz zitiert sie die Schriftstellerin Susan Sonntag: „Zehn Prozent der Menschheit sind grausam, zehn Prozent sind barmherzig, die verbleibenden achtzig Prozent können in die eine oder andere Richtung schwingen.”

„Assassination Nation” ist keine feministische Variante der kommerziell erfolgreichen „The Purge”-Reihe. Die dystopischen Thriller spielen in einem Amerika der nicht so fernen Zukunft, Idylle der Vollbeschäftigung und Gesetzestreue. Zwecks kollektiven Gewaltabbaus wird an einem Tag des Jahres jede Art von Verbrechen inklusive Mord erlaubt. Die Faszination an diesen recht einfältigen blutrünstigen Horror-Exkursionen erschließt sich nur schwer, Levinson dagegen ist nicht nur ästhetisch um vieles ideenreicher und ambitionierter. In seinem bildgewaltigen Leinwand-Epos experimentiert er mit den Elementen der Sukeban-Filme, hier durften rebellische Mädchen als Bad-Ass ihrem Zorn Ausdruck verleihen und tödliche Fähigkeit im Kampf gegen Ungerechtigkeit entwickeln, Beispiel „Female Prisoner #701: Scorpion” (1972). Model und Schauspielerin Hari Nef („Transparent”) hatte anfangs Vorbehalte gegenüber dem Regisseur: „Zuerst dachte ich, er ist bloß ein weiterer heterosexueller weißer Mittdreißiger, der versucht einen provokanten Film über weibliche Teenager zu drehen. Aber dann fiel mir auf, dass sich das, was er schrieb erstaunlich echt anfühlte.” Obwohl das Drehbuch vor den #MeToo und #TimesUp Bewegungen entstand, verleiht es seinen Protagonistinnen Handlungsmacht und nähert sich ihnen mit Respekt. Von ersten Moment an waren die Regeln klar umrissen: Es sollte keine Nacktheit geben, kaum Sex-Szenen und die Mädchen nicht durch ihr Äußeres zum Objekt der Begierde verdinglicht werden. Prompt legten das natürlich manche Kritiker als amerikanische Prüderie aus.

Levinson taucht ein in die Soft-Grunge-Optik der Teenager, als wäre er selbst Teil des digitalen Bilder-Tagebuchs Tumblr. Ganz gezielt besetzte er zwei weibliche Hauptrollen mit YouTube Stars, der schwarzen R&B-Sängerin Abra und eben Hari Nef, globale Stimme der Transgender-Community. Die Mode stammt aus Blogs, Foren und Apps. Pastelltöne bestimmen die Farbpalette, als wäre „Assassination Nation” eine Fantasy-Fabel, das ändert sich radikal, wenn Lily zur brutal kühnen Rächerin mutiert, ums bloße Überleben kämpfen muss. Eine Stadt macht Jagd auf sie und ihre Mitstreiterinnen, herbe Gesellschaftskritik prallt auf exquisites Exploitation-Kino. Beim finalen Angriff tragen die Heldinnen rote Lackmäntel als Hommage an „Delinquent Girl Boss: Worthless to Confess” (1971). Großes Vorbild des Regisseurs: Jean-Luc Godards Film-im-Film „Die Verachtung” (1963). Manchmal scheint es, als wolle der Künstler jede einzelne Sequenz wie die Split-Screen aus iPhones verteidigen mit einer Referenz an Klassiker, in diesem Fall das Triptychon in „Napoleon”(1927) von Leinwand-Pionier Abel Gance. Unabhängig davon entwickelt der ungarische Kameramann Marcell Rév („Underdog” 2014) eine ganz eigene unverwechselbare visuelle Sprache, einfühlsam, emotional, von kühler Schönheit und zugleich bedrohlich, apokalyptisch, abstoßend. Grandios inszeniert, wie als Twitter Avatars maskierte Männer das Haus von Sarah und Em stürmen, wo Lily sich versteckt. Eine Analogie zum anonymen Hackerangriff. Die Kamera folgt nicht den Eindringlingen, bleibt draußen, beobachtet das Geschehen heimlich einem Voyeur gleich.

„Assassination Nation” verherrlicht Gewalt nicht, sie macht sie lächerlich, was könnte Machos härter treffen. Ein greller provokanter Mix aus Komik, Verzweiflung, Selbstreflexion, Realität und Fantasie, Optimismus und Nihilismus. Im Chaos werden die vier Mädchen zu Heldinnen, sie ergreifen die Möglichkeit, ihre Geschichte umzuschreiben, sich eine andere Wirklichkeit zu erschaffen. Lily und ihre Freundinnen wollen keine Opfer sein, sie schlagen ohne zu zögern hart zu, delegieren ihre Hilflosigkeit nicht, handeln, was Fehler mit einschließt. Bösartigkeit und Gewalt sind entgegen dem herkömmlichen Mythos nicht geschlechterspezifisch. Das als Kommentar zur #MeToo Debatte. Die Protagonistin begreift, sie muss aufhören, sich selbst als weibliches Ideal zu vermarkten. Die Erwartungen einer Männer dominierten Gesellschaft erfüllen zu wollen, ist eigentlich ein Wahnwitz in sich selbst. Und so zählt sie maliziös auf, was, wann, wo in welcher Situationen je nach Bedarf von uns Frauen verlangt wird, mal artig prüde sein und dann wieder erotisch aufreizend. Jeder Anspruch birgt in sich auch das Gegenteil. Bleibt höchstens noch ein leichtes Unbehagen, ob hinter Levinsons politischem Manifest nicht doch modisches Kalkül lauert. Und wenn schon.

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Originaltitel: Assassination Nation

Regie / Drehbuch: Sam Levinson
Darsteller: Odessa Young, Hari Nef, Suki Waterhouse, Abra
Produktionsland: USA, 2018
Länge: 110 Minuten
Kinostart: 15. November 2018
Verleih: Universum Film GmbH

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Universum Film GmbH

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