Film
Glücklich wie Lazzaro

In ihrem neuem Film „Glücklich wie Lazzaro” erzählt Alice Rohrwacher vom Ende der italienischen Agrargesellschaft, von Ausbeutung, Dekadenz, dem sozialen Abseits anonymer Industriestädte und der fragilen Freundschaft zweier Außenseiter.
Musik und Bilder verschmelzen zur seltsam betörenden, rätselhaften Wehmutswelt, sie wird sich einnisten in der Erinnerung des Zuschauers wie Federico Fellinis „La Strada” aus dem Jahre 1954. Es ist die Geschichte eines unscheinbaren Heiligen, uns verblüfft seine Duldsamkeit, er, der grenzenlos Bescheidene, beansprucht nichts für sich, ihm genügt es, das Glück der Anderen zu beobachten. Das Fantastische setzt die Zeit außer Kraft, wird zum poetischen Bindeglied zwischen den Epochen.

Später Abend, von draußen dringt Musik in die niedrigen spärlich erleuchteten Räume des Gehöfts, junge Frauen kichern aus längst vergessenem Schamgefühl ob des unverhofften Ständchens. Der Zuschauer genießt die anfängliche Orientierungslosigkeit, in welcher Zeit befinden wir uns? Anscheinend in der Vergangenheit, aber einige Gegenstände deuten auf die Gegenwart hin. Die Landarbeiter drängen sich um den Küchentisch, ihre einfache bäuerliche Kleidung abgetragen, die Gesichter der Älteren gezeichnet von Entbehrungen. Armut und Enge sind vom ersten Moment an fast körperlich spürbar, und doch man lacht, nörgelt, scherzt auf derb freundliche Art. Wer mag die Hauptperson des Films sein? Vielleicht das frisch vermählte Paar, Mariagrazia und Giuseppe oder die Mutter Antonia, die selber noch ein Kind ist, der verrückte Catirre in seinem Regenmantel, oder das entlaufene Huhn, das auf dem Tisch umherirrt? Unser Blick wandert vom einem zum anderen, hält inne bei einem jungen Mann, er sitzt etwas abseits.

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Tagsüber brennt die Sonne unerbittlich, „Lazzaro, Lazzaro” flüstert ein kleines Mädchen schelmisch neckend, sie hat sich versteckt zwischen den riesigen Tabakpflanzen der Plantage. Das Kind imitiert die ständigen Rufe der Erwachsenen, unermüdlich folgt Lazzaro (Adriano Tardiolo) den Befehlen der Landarbeiter. Der junge Knecht mit den schwarzen Locken und den großen fragenden Augen nimmt klaglos jede Bürde auf sich, packt hilfsbereit überall mit an, schleppt die schwersten Kisten und trägt fürsorglich die fast gelähmte Großmutter ins Haus. Selbst nachts noch muss er draußen wachen, um die Hühner vor den Wölfen zu schützen. Inviolata ist ein abgeschiedenes Landgut im felsigen italienischen Nirgendwo. Hier herrscht die Zigarettenkönigin, Marquesa Alfonsina de Luna, mit harter Hand. Auf einem knatternden alten Motorrad taucht der Verwalter auf, um den Bauern, die schuften wie Leibeigene, vorzurechnen, dass auch während dieser Saison ihr Schuldenberg ständig weiter wächst, und so wird es wieder niemandem gestattet, wegzuziehen in die Stadt, dem Traumziel der Unterjochten.

Die Menschen hier fühlen sich im Recht, Lazzaro gnadenlos auszubeuten, so wie sie es akzeptieren, selbst ausgebeutet zu werden. Keiner von ihnen ahnt, dass die Naturalpacht per Gesetz längst abgeschafft ist, ihnen Lohn oder Gewinn aus ihrer Produktion zusteht. Die etwas vernachlässigte gräfliche Sommerresidenz wird hergerichtet zum Empfang, welch architektonischer Luxus, welch Pomp verglichen mit den kargen dunklen Bauernkaten. Jedes Jahr macht die Marquesa sich auf die gefährliche Reise über den Fluss zu ihren Ländereien in Violata, letztes Bollwerk der Macht, hier frönt sie dem Glanz vergangener Zeiten, dieses Mal in Begleitung ihres rebellischen Sohns Tancredi (Luca Chikovani, in Italien ein YouTube-Star). Seine Haare sind schrill blondgefärbt, unter dem Arm trägt er ein winziges Hündchen. Er will ausbrechen aus der Abhängigkeit jener skrupellosen Mutter, die ihm predigt: „Menschen sind wie Vieh, wie Tiere. Sie zu befreien, würde bedeuten, ihnen ihre Knechtschaft bewusst zu machen.” Der adlige Sprössling freundet sich an mit Rohrbachers unscheinbarem Helden, überredet ihn, bei seiner vorgetäuschten Entführung mitzumachen. Und so folgt Lazzaro ergeben Tancredi, seinem ersten und einzigen Freund wie einst in „La Strada” die tragisch clowneske Gelsomina ihrem brutalen Zampanò.

Wie in „Le Meraviglie” (2014) hat Alice Rohrwacher nicht digital, sondern auf Film im Super-16-mm Format gedreht. „Bei dieser Entscheidung geht es nicht um Stilisierung oder gar Nostalgie, sondern vor allem um den Arbeitsprozess”, erklärt die 36jährige Regisseurin. „Beim Dreh sind alle hochkonzentriert, jeder auf seine Aufgabe fokussiert. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles ist sorgfältig geplant und vorbereitet, mit dem Ziel, es so mühelos wie möglich aussehen zu lassen. Aber auch wenn wir eine Szene viele Mal vorher proben, birgt der Moment, in dem sie auf Film gebannt wird, auf eine rätselhafte Art etwas Unvorhersehbares, etwas Magisches. Es gibt keine vollständige Kontrolle. Das Ergebnis ist immer eine Mischung aus dem Eigenleben der Filmrolle, die belichtet wird, und der Dynamik, die wir beim Drehen erlebt haben. Diese Langsamkeit, das Warten auf die Muster, die Ungewissheit, der Rest an Unwägbarkeit, sind meinen Empfinden nach Teil der Intensität und der Bilder. In einer Zeit, in der wir mit reproduzierbaren Bildern bombardiert werden, kann der analoge Film sich Zeit nehmen, nachdenken, mit dem Blick spielen: Überraschen und überrascht werden.”

Entstanden ist ein Meisterwerk der italienischen Gegenwartskinos: „Glücklich wie Lazzaro” hat die politische Kraft und den Zauber von Bernardo Bertoluccis fünfstündigem Monumentalfilm „Novecento“, jene Chronik der diffizilen Freundschaft eines Landarbeitersohnes mit dem am selben Tag geborenen Sohn des Großgrundbesitzers, alles vor dem historischen Background der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber unsere Hoffnungen auf eine klassenlose demokratische Gesellschaft wurden enttäuscht, Utopien ersatzlos gestrichen, der Faschismus ist neu entflammt. Die Brücken sind im wahrsten Sinne des Worte abgebrochen, wir heulen mit den Wölfen, es gibt kein Zurück mehr: Rohrwacher und ihre Kamerafrau Hélène Louvart entwickeln eine atemberaubende subtile Symbolsprache zwischen Naturalismus und Märchen, fern jeglicher Sentimentalität. Das Prekariat wird nicht verklärt, romantisiert. Durch Tancardis kriminellen Coup fliegen die üblen Machenschaften seiner Mutter auf. Ein Imperium bricht zusammen. Die Polizei rückt an zur Befreiung der Unterdrückten, per Bus geht es Richtung Großstadt.

Es gab sie wirklich jene Marchesa. Als 1982 der Staat alle noch bestehenden Halbpachten in ordentliche Pacht- oder Lohnarbeitsverträge umwandelte, lebten ihre Leute weiter unter sklavenähnlichen Bedingungen. Das Schicksal dieser Landarbeiter berührte die Regisseurin: Sie haben ihren Moment in der Geschichte verpasst, er wurde ihnen geraubt. Sie konnten nicht Teil der Veränderungen werden, sondern nur noch die Scherben des Umbruchs aufsammeln. Für die Öffentlichkeit war es nur Randnotiz wert, am nächsten Tag schon wieder vergessen. Bei den Bauern aber erinnert bis heute ein Zeitungsartikel an der Wand als vergilbter Beweis an eine zerbrochene Welt, die sie abgehängt hat. „Il grande inganno- Der große Betrug!” Jedes Gesicht in diesem Film ist voller Geheimnisse, Träume und Traumata. Nur Lazzaro folgt unbeirrbar seinem Weg, ein sanfter Tor, der alles Leid der Welt gleichmütig erträgt, wie die biblische Gestalt stirbt und wieder aufersteht, er altert nie.

„Ich bin oft solchen Menschen begegnet in meinem Land”, schreibt Alice Rohrbacher in ihren Director’s Notes, „guten Menschen, die sich aber selten selbst so sehen, da mit sie mit diesem Begriff gar nichts anfangen können. Ich habe solche “glücklichen Lazzaros” getroffen. Menschen, die einfach gut sind. Sie bleiben im Hintergrund, wann immer es möglich ist, sie nehmen sich zurück, um nicht zu stören, um den anderen Raum zu geben. Sie drängen sich nicht vor, sie wissen gar nicht, wie das geht. Es sind diejenigen, die am Ende oft die undankbarste Arbeit übernehmen, über die die andere die Nase rümpfen, und sie werden nicht wahr genommen. Ohne dass es ihre Absicht wäre, passiert es manchmal doch, dass ein Lazzaro Teil einer Geschichte wird. Irgendeiner, ein Passant, ein Ladenbesitzer, ein junger Aufsteiger, ein Rentner oder wer auch immer bemerkt ihn, betrachtet ihn mit Skepsis, versteht sein Verhalten vielleicht falsch und brüllt los: „Der war es! Der ist gefährlich.”

Denn irgendwie ist dieser Gang ja tatsächlich etwas seltsam, dieses Schweigsame, diese ganze Art... Und plötzlich übernimmt das Misstrauen die Überhand, die Angst. Ein Lazzaro kann sich nicht gegen falsche Anschuldigungen verteidigen. Er schaut nur ungläubig, während man ihn packt, verletzt und verjagt. Die Literatur und die Filmgeschichte sind voll von Figuren, die sich auflehnen, die gegen das Unrecht kämpfen, die die Welt verändern wollen und zu Helden werden. Ein Lazzaro aber kann die Welt nicht verändern. Seine innere Größe ist unscheinbar. Wir stellen uns Heilige oft stark, durchsetzungsfähig und mit einer gewissen Aura vor. Ich denke aber, dass es nicht die Aura ist, die einen Heiligen ausmacht. Tauchte ein Heiliger heute in unserem Leben auf, würden wir ihn wahrscheinlich in seinem für unsere Erfahrung viel zu selbstlosen Wesen gar nicht erkennen. Wir würden ihn vermutlich, ohne groß darüber nachzudenken, loswerden wollen. Er ist so ungewöhnlich, so naiv, dass man ihn für verrückt halten könnte, für einen Dummkopf.”

Grandios wie Adriano Tardiolo den unscheinbaren Helden verkörpert, keiner hatte ihn wirklich bemerkt, bevor er verschwand. Erlösen kann Lazzaro uns nicht, das müssen wir selber, er bleibt Beobachter, stößt immer wieder auf Verirrte und Flüchtlinge wie sich selbst, für die eigentlich nirgendwo Platz ist, und wenn, dann nur um ausgebeutet zu werden. Das feudale System ist zum globalen Vulgärkapitalismus mutiert. Da werden Helfer für die Olivenernte gesucht, der Subunternehmer beginnt eine perverse Art der Auktion: Vier Euro die Stunde! Wer bietet weniger, die ausländischen Tagelöhner unterbieten sich verzweifelt, bis der Preis auf einen Euro gefallen ist, wahrlich ein Hungerlohn. Lazzaro trifft die ehemaligen Landarbeiter aus Inviolata, sie sind alle sehr viel älter geworden, Antonia, die damals junge Magd, fällt auf die Knie, unsicher, ob er ein Gespenst ist oder eine Offenbarung. Die Befreiung hat den Bauern ihr Heim genommen und nie eines Neues gegeben, nun hausen sie in größter Armut nahe den Bahngleisen, bringen sich mit kleinen Gaunereien durch. Auch Tancredi (Tommaso Ragno) ist kein schmächtiger Junge mehr, der stattliche wie gescheiterte Geschäftsmann, hat schwer zu kämpfen, die Banken verwehren dem Adligen den notwendigen Kredit. Doch auch hier verliert der Film nie seinen magischen Zauber oder feinsinnigen ironischen Humor. Auf dem Weg durch die Stadt lockt Lazzaro und seine Gefährten Orgelklänge in eine Kathedrale, die Nonnen dulden kein Lumpenproletariat bei der Probe und verjagen die ungebetenen Besucher. Lazzaro sagt nichts, aber er nimmt die Musik mit sich hinaus, die Orgel verstummt.

Alice Rohrbacher und ihr Team haben den Film im Sommer und Winter 2017 gedreht. Der erste Teil entstand in der Gegend um Viterbo zwischen Vetriolo und Bagnoregio und in Castel Giorgio bei Terni, der zweite zwischen Mailand, Turin und Civitavecchia: „Wie können diese weit von einander entfernten Orte die gleiche Gegend darstellen. In Italien wird die Trennlinie normalerweise zwischen Norden und Süden angesetzt. Ich glaube aber”, so die Regisseurin, „dass sie sich verschoben hat und heute zwischen Innen und Außen, zwischen den Städten und Küsten und den Bergregionen verläuft. Die Menschen migrieren von einer isolierten Gegend in eine zentralere, sie bewegen sich nicht mehr auf der Nord-Süd-Achse, sondern in alle Richtungen: quer, schräg, horizontal, wodurch sich ein immer komplexeres Netz entwickelt.”

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Originaltitel: Lazzaro Felice

Regie + Drehbuch: Alice Rohrwacher
Darsteller: Adriano Tardiolo, Luca Chikovani, Alba Rohrwacher
Produktionsländer: Italien, Frankreich, Schweiz, Deutschland, 2018
Länge:126 Minuten
Kinostart:13. September 2018
Verleih: Piffl Medien GmbH

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Piffl Medien GmbH

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