Nur das Dröhnen der Helikopter erinnert an den nah gelegenen Vergnügungspark „Magic Kingdom” und dessen florierende Touristikindustrie. Jene Welt bleibt unerreichbar für die Kids des Prekariats und doch winken sie fröhlich den Piloten zu. Noch ignorieren sie die Armut um sich herum, quietschen, lachen, sind immer in Bewegung, übermütig, frech, ausgelassen.
Das herrlich eigenwillige Sozialdrama mit seinen bonbonfarbenen Sonnenuntergängen und architektonischen Absurditäten ist eine Hommage an Hal Roachs Filmserie „Die Kleinen Strolche” (ab 1922). US-Regisseur Sean Baker erzählt in „The Florida Project” die Geschichte jenes Sommers aus der Perspektive seiner altklugen sechsjährigen Protagonistin, hautnah, herzzerreißend und gnadenlos unsentimental, authentisch ähnlich „Tangerine L.A.”, aber nicht wie damals mit dem iPhone gedreht sondern in wundervollen Breitwand-Landschaften. Pop verité nennt Baker, ein Meister der Improvisation, seinen hyperstilisierten Realismus.
Moonee (grandios Brooklynn Prince) lebt mit ihrer Mutter Halley (Bria Vinaite) im Magic Castle, einer lavendelfarbenen trostlosen Motelanlage an der Peripherie von Orlando. Hier suchen Wohnungslose Zuflucht, die ob der extrem hohen Mieten auf dem Immobilienmarkt keine Chance mehr haben. Was für Andere Endstation Sehnsucht bedeutet, erscheint der Sechsjährigen als schillerndes exotisches Märchenreich voller Abenteuer, das es Tag für Tag neu zu entdecken oder inszenieren gilt. Sie ist die geborene Anführerin, durchstreift gemeinsam mit den Freunden jeden Winkel des Geländes zwischen Highway und verwildertem sumpfigen Hinterland. Einen Baum liebt Moonee besonders, weil er umgestürzt ist und trotzdem tapfer weiter wächst. Ihre unerschöpfliche Kreativität an Streichen oder Schwindeleien hat etwas Beängstigendes. Offensichtlich sind Regeln dafür gemacht, gebrochen zu werden, und das tun die Kleinen mit Genuss, ob beim Spuck-Bombardement auf Windschutzscheiben oder wenn sie ein verlassenes Gebäude in Brand setzen.
Die 22jährige ruppige Halley mit ihren riesigen Rosen-Tattoos, den blau gefärbten Haaren und einer Vorliebe für Trash-TV hat Moonee zu ihrem Ebenbild erzogen, egoistisch und skrupellos, mehr Komplizin als Tochter. Die Sozialhilfe reicht nicht für die 38 Dollar pro Übernachtung, und so verhökert die arbeitslose Stripperin zusammen mit der Sechsjährigen dubiose Parfüms vor den Nobelhotels. Als die üblichen Gaunereien nicht genug einbringen, verkauft sie erst das iPad, dann sich selbst, ein tragisches Ende also vorprogrammiert. Auch wenn die Alleinerziehende nicht den moralischen Maßstäben ihrer Nachbarinnen entspricht, ist Halley trotzdem auf seltsame schräge Art eine großartige Mutter, die ihre Tochter aufrichtig liebt. Motel-Manager Bobby (hervorragend Willem Dafoe) gibt sich barsch, aber ist unendlich geduldig, er versucht die beiden zu beschützen. Vergeblich. Aber noch besitzt der Sommer jene magische Unschuld voller Freiheit. Moonee führt ihrer neuen Freundin aus dem “Future Land” die Attraktionen ihres kleinen Reiches vor: „Hier wohnt ein Mann, der oft verhaftet wird. Hier die Zimmer, wo wir nicht rein dürfen.” Drin sind sie, und wenig später hat unsere Heldin mit einem Handgriff die Stromversorgung für den ganzen Wohnblock lahmgelegt. Zeternd kommen die Bewohner aus ihren Apartments und schimpfen auf den armen Bobby. Was für ein Spaß...
Freundschaft, Loyalität sind wie in „Tangerine L.A.” vielleicht der kostbarste Teil von Moonees Universum, sie sind ihr vertraut, so selbstverständlich wie die Armut und die kleinen Betrügereien. Stirnrunzelnd, voller Bewunderung aber mit einer Spur von Zweifel schaut die rothaarige Jancey (Valeria Cotto) der Gleichaltrigen zu, wie sie mit bizarren Lügen, die tägliche Portion Eis erschnorrt. Theatralisch reißen die Kids ihre Arme hoch voller Entsetzen, falls einer wagt, sie mit Ermahnungen zu belästigen. Sie sind geborene Schauspieler, haben immer einen patzigen Spruch bereit, wenn sich der Motel-Manager mal wieder bei Halley beschwert, weil die kleinen Monster Wasserbomben auf Touristen geworfen haben, und im Pool ein toter Fisch schwimmt. „Wir wollten ihn wieder lebendig machen!” Die Sechsjährige ist nie um eine Ausrede verlegen. Bobbys sanfte Drohungen fruchten wenig, noch kann Halley ironisch grinsen: „Ich habe versagt als Mutter, Moonee”. „Ja, Ma, Du bist ne Schande... Die beiden bilden ein perfekt eingespieltes Team, scheinbar unzertrennlich. Sie kokettieren mit dem Chaos, der eigenen Unvollkommenheit. Kameramann Alexis Zabé filmt leicht von unten her, betont die kindliche Perspektive und jene trügerisch kitschigen Pastellfarben. Aber der Zuschauer, als Erwachsener und ungewollt moralische Instanz, ist sich immer bewusst des drohenden Absturzes, der Gefahr und Ängste, wer das Geld für die Übernachtung nicht zusammenbringt, ist draußen auf der Straße.
Manchmal packt eine Familie ihr Hab und Gut ins Auto, zieht von dannen, für lange Abschiede ist keine Zeit. Man wird sich nie wiedersehen, zurück bleiben die geliebten Spielsachen, der Vater erklärt stoisch, dafür ist kein Platz und so balgen sich die Kids aus dem Magic Castle um die kunterbunten Plastik-Kostbarkeiten des kleinen Jungen. Ein Freund weniger für Moonee. Die Auswirkungen der Finanzkrise und der geplatzten Immobilienblase von 2008 seien so nachhaltig, erklärt Sean Baker, dass die Menschen, die einmal alles verloren haben, nicht wieder auf die Beine kommen. „Es gibt Kinder, die ein Leben abseits der prekären Umstände, in denen sie groß werden, gar nicht kennen. Obdachlose in Billigmotels findet man nicht nur in Florida... Das Bizarre an der Situation ist”, so der Regisseur, „dass die Motelzimmer fast so teuer sind wie die Miete für ein Haus – mit dem Unterschied, dass man in den Motels eben täglich bezahlen muss. Meine Wohnung in West-Hollywood kostet 1.200 Dollar – das müssen diese Familien auch zahlen, wenn sie 35-40 Dollar pro Nacht ausgeben.” Selbst in Silicon Valley reicht bei durchschnittlich verdienenden Angestellten das Geld manchmal nicht für die absurd hohen Mieten, und sie müssen im Wagen campieren. An den Rand der Gesellschaft abgedrängt, haben viele längst aufgegeben. Doch die Mütter im Magic Castle verteidigen eisern Moral und Anstand, das bisschen an Ehre oder Prinzipien, was ihnen geblieben ist, gegenüber einer Femme Fatale wie Halley, die sich die Freier aufs Zimmer einlädt, während die Sechsjährige in der Badewanne planscht.
„The Florida Project” ist eine Allegorie auf die kaputte amerikanische Gesellschaft, Cinema vérité zwischen Komik und Tragik, Poesie und Trash mit wundervollen märchenhaften Momenten wie Janceys nächtliche Geburtstagsfeier: Moonee präsentiert draußen in der Dunkelheit ein Cupcake mit Kerze und als besondere Attraktion in der Ferne das opulente Feuerwerk von Disneyland. Eine andere Szene, die beiden stapfen abseits der tristen Zementlandschaft über malerisch matschige Weiden. Die Regenwolken hängen tief, als könnte man sie berühren, dicke zottelige braune Kühe grasen gemächlich, eine hebt ihren Kopf. Das neblige dunkle Grün der Wiesen erinnert daran, zwischen was für scheußlichen Farben die Kids hier aufwachsen. „Muh”, sagt Moonee zu ihrer Freundin, „siehst Du, wir sind auf einer Safari.” Als Co-Autor und Produzent Chris Bergoch seiner Mutter beim Umzug nach Zentralflorida half, wurde er aufmerksam auf die Billigmotels entlang beider Seiten des Highways. Viele waren optisch Disneyland angeglichen, dekoriert mit Piraten- und Schlossmotiven. Vor einem Jahrzehnt stiegen dort noch Touristen ab. Der Titel des Films bezieht sich auf die Planungsphase des Freizeitparks in den Sechzigern. Nach dem gigantischen Erfolgen von Disneyland in Südkalifornien erwarb man im Zeitraum von 18 Monaten 27. 440 Hektar Land, auf einer Pressekonferenz am 12. November 1965 stellten Walt Disney, sein Bruder Roy und Gouverneur Haydon Burns offiziell ihr „Florida Project” vor. Disney World in Orlando wurde am 1. Oktober 1971 eröffnet.
Willem Dafoe („The Grand Budapest Hotel”, „Antichrist”) über die unmittelbare Nähe zur merkantilen künstlichen Welt des „Magic Kingdom”: „Der Film ist ganz gewiss nicht als Kritik an Disney gedacht. Aber natürlich fällt es schwer, nicht die Ironie zu erkennen, dass da ein ausgedachter Ort ist, der sich „the happiest place in the world” nennt. Und in unmittelbarer Nähe leben Menschen, die durch das soziale Netz gefallen sind, sofern man in den Vereinigten Staaten von einem sozialen Netz sprechen kann. Disney hat mit der Realität, in der sich diese Menschen befinden, nichts zu tun. Es setzt ihr Leben nur in einen gewissen Kontext. Diese Art von versteckter Obdachlosigkeit gibt es nicht nur in Florida. Man findet sie überall in den USA, im Osten ebenso wie im Westen. Und angesichts des gerade herrschenden politischen Klimas sieht es nicht so aus, als würde sich für die Ärmsten der Armen irgendetwas verbessern. Man sollte die Führung dieses Landes nicht Geschäftsmännern überlassen, sondern Menschen mit Moral.” Es braucht viel Courage, um im sozialen Abseits nicht kläglich unterzugehen, vielleicht geht es für Halley auch nur darum, das tragische Ende ein wenig hinauszuzögern, jeden gemeinsamen Moment mit Moonee zu genießen, sich treiben zu lassen in diesem Garten Eden zwischen grauenvollen Souvenir Shops, so zu tun, als sei man stark, unverletzbar. Nie nachgeben, bockig sein, keine Kompromisse machen, sich einen Dreck drum scheren, was die anderen denken, pöbeln, loskeifen, weil mit Höflichkeit kommt eine wie sie auch nicht weiter. Für einen Tag so tun, als wäre man reich, Moonee so viel Ice Cream kaufen, wie sie will, heimlich mit ihr im Hotel frühstücken so wie die fetten Touristen, mit denen man nichts gemeinsam hat, außer dass man sie beklaut oder vögeln muss. Armut als Anarchie, permanenter Ausnahmezustand. Und dann kommt auch schon die Polizei.
Der beste Kommentar zu „The Florida Project” ist der russische Film „Loveless”: Moskau, 2012. Jeder Satz explodiert vor Gift und Verachtung, wenn Boris (Alexey Rozin) und Zhenya (Maryana Spivak) aufeinander treffen. Szenen einer gescheiteren Ehe im erfolgsorientierten russischen Mittelstand: Geschüttelt vom verzweifeltem Schluchzen lauscht der 12jährige Boris (Alexey Rozin) dem hasserfüllten Wort-Duell der Eltern, muss mit anhören, dass er für diese beiden immer nur ein Ballast war, ein ungewolltes Kind. Für den schüchternden verträumten Sohn, der sich hinter dem Computer verschanzt, wird kein Platz in ihrem Leben mit den neuen Partnern sein. Und dann plötzlich ist der Junge verschwunden. Die Schule bemerkt es, nicht etwa Vater oder Mutter. Meisterhaft inszeniert Andrey Zvyagintsev („Leviathan”) die Suche nach Boris als unterkühlt zorniges Porträt seiner Heimat. Die Protagonisten verstummen, die spröden tristen, aber unwiderstehlichen Bilder übernehmen. Schicht für Schicht dringt der Regisseur tiefer ein in die menschlichen und historischen Abgründe.
Originaltitel: The Florida Project
Regie / Drehbuch: Sean Baker
Darsteller: Brooklynn Prince, Bria Vinaite, Willem Dafoe
Produktionsland: USA, 2017
Länge: 111 Minuten
Kinostart: 15. März 2018
Verleih: Prokino Filmverleih
Originaltitel: Nelyubov
Regie: Andrey Zvyagintsev
Darsteller: Maryana Spivak, Alexey Rozin, Matvey Novikov
Produktionsländer: Russland, Frankreich, Belgien, Deutschland, 2017
Länge: 127 Minuten
Kinostart: 15. März 2018
Verleih: Wild Bunch Germany
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Prokino Filmverleih
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