„Carol”. Oder die Grenzen des Glücks
- Geschrieben von Anna Grillet -
Eine hinreißende Liebesgeschichte zweier Frauen Anfang der Fünfziger Jahre. Dieser Film von Todd Haynes ist unglaublich schön, delikat, klug, oft erbarmungslos traurig und meisterhaft inszeniert. Ende Dezember präsentieren die Kritiker immer ihre Top Ten Listen, „Carol” behauptet sich fast überall auf den ersten Plätzen.
New York, kurz vor Weihnachten. Therese (Rooney Mara) jobbt als Aushilfe in der Spielzeugabteilung des Kaufhauses Frankenberg. Fragile, fast elfenhaft, eine scheußliche Santa-Claus-Mütze auf dem Kopf, steht sie ein wenig verloren am Verkaufstresen umgeben von Puppen. Die unscheinbare scheue 19jährige träumt davon, Fotografin zu werden. In diesem Moment taucht Carol (Cate Blanchett) auf. Sie ist eine Erscheinung von atemberaubender Eleganz und irgendwie unnahbar. Alles an ihr ist exquisit, zeugt von Gespür für Stil und Geschmack. Eingehüllt in ihren weiten faltenreichen Nerzmantel verkörpert sie Glamour und Reichtum, aber auf eine seltsam melancholische Weise, als ob ihr der Luxus vielleicht gar nicht so viel bedeuten würde oder längst zur Bürde geworden sei. Selbst wenn sie spricht, scheint sie mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Sie strahlt jene verletzliche Sinnlichkeit einer Frau von Mitte Dreißig aus, die auch Niederlagen erlitten hat. Dort, wo sie herkommt, versteckt man seine Gefühle hinter Contenance. Carol sucht für ihre kleine Tochter eine Puppe, Mama soll sie sagen, doch diese sprechenden Wunderwesen sind schon ausverkauft. Therese empfiehlt stattdessen eine Modelleisenbahn. Die mysteriöse Schöne schreibt Namen und Adresse auf für die Lieferung daheim und lässt ihre Handschuhe liegen. Vergesslichkeit oder Zufall? Eher nicht. Therese schickt ihr per Post die Handschuhe. Carol ruft im Kaufhaus an um sich zu bedanken und lädt das Mädchen zum Lunch ein.
Der Film basiert auf dem Roman von Patricia Highsmith „The Price of Salt”, den die Schriftstellerin 1952 unter dem Pseudonym Claire Morgan veröffentlichte. Erst 1990 erschien das Buch unter ihrem Namen. Die Autorin wollte ihre literarische Karriere nicht durch ein für jene Zeit provokantes Thema riskieren. „Strangers on a Train” war 1951 grade von Alfred Hitchcock verfilmt worden und machte sie über Nacht weltweit berühmt. 1948 hatte die Schriftstellerin genau wie ihre Protagonistin Therese in der Weihnachtszeit bei Bloomingdale gejobbt, weil sie dringend Geld brauchte. Dort begegnete ihr jene zauberhafte Frau im Pelzmantel. Patricia Highsmith schreibt: „Mir war sonderbar und schwindlig zumute, fast wie kurz vor einer Ohnmacht, und gleichzeitig euphorisch, als hätte ich eine Vision gehabt.” Noch am selben Abend entstand innerhalb von zwei Stunden das Konzept für den Roman. Auch wenn es nicht um ein Verbrechen im klassischen Sinn geht, sondern um eine Liebe, funktioniert der Film wie ein Thriller. Der Zuschauer achtet auf jedes Detail, jeden Hinweis, jede Spur, versucht den Emotionen auf den Grund zu gehen, deren Mechanismus zu entlarven. Aber während der Roman düster, hart in seiner Wortwahl und den Beschreibungen ist, sich immer wieder auf das Abstoßende konzentriert, gibt der amerikanische Regisseur Todd Haynes Traurigkeit und Verzweiflung eine ganz besondere Schönheit. So wie sein Film „Far From Heaven” von Douglas Sirk beeinflusst wurde, prägen hier der Maler Edward Hopper und der Fotograf Saul Leiter die Ästhetik. Verschwommene oder gazeartige Farbimpulse, gedämpfte Farben, schmuddelige Grün- und Brauntöne, Spieglungen im Glas, Zigarettenrauch, halbgeöffnete Türen oder regennasse Schaufensterscheiben, der Blick ist meist verstellt, verdeckt wie die Absichten der Akteure. Ungewissheit bleibt unterschwellig stets präsent. Die Umgebung, ob als Realität oder Abstraktion, verschmilzt mit den Gefühlen.
Carols Ehe ist längst gescheitert, das Paar lebt getrennt. Therese hat einen Freund, der ihre gemeinsame Zukunft schon fest verplant. Dem Treffen zum Lunch folgt eine Einladung in das Landhaus von Carol. Unangemeldet trifft Harge, ihr Mann (Kyle Chandler) ein. Er ist wütend, hasserfüllt, die Eheleute streiten. Therese stellt den Plattenspieler lauter. Ihre Gefühle sind vom ersten Moment an total, völlig kompromisslos. Als Carol das Sorgerecht für die Tochter entzogen wird, will sie nicht in New York auf den Prozessbeginn warten. Gemeinsam verlassen die beiden Frauen in der grauen luxuriösen Packard-Limousine die Stadt. Ohne zu zögern trennte sich Therese vom Freund, lässt alles hinter sich zurück, was einst ihr Leben war. Hier ist der Mensch, der sie versteht, ihre Ambitionen, ihre Fotografien, der sie anschaut, wie nie zuvor es jemand getan hat. Es ist das erste Mal, dass sie so etwas wie wirkliches tiefes Begehren empfindet. Mehr als zwei Drittel des Films vergehen vor der ersten gemeinsamen Nacht. Aber es gibt kaum einen Liebesfilm, der intimer oder leidenschaftlicher ist. Die physische Anziehung zwischen Carol und Therese wird spürbar mit all ihrer Radikalität, Verzweiflung und Intensität. Und doch sind es lange Zeit nur Blicke, kleine Gesten, in denen sich ihre Sehnsucht äußert. Diese Fahrt ins Blaue hat etwas von der heimlichen Flucht zweier Diebe. Die beiden Frauen nehmen sich, was ihnen keiner zugesteht Anfang der Fünfziger Jahre: die Freiheit, sie selber zu sein. Therese streichelt beiläufig zärtlich Carols Pullover im Koffer und entdeckt dabei einen Revolver. Carol fürchtet, dass man ihnen folgt. Therese schweigt. Der Zuschauer spürt die Gefahr.
Weihnachten, an solchen Tagen offenbaren Beziehungen ihre Schwächen oder Stärken. Wenn Carol unter dem Tannenbaum die Modelleisenbahn einpackt, ist es ein Bild perfekten familiären Glücks, aber ein trügerisches. Harge rächt sich, er setzt die gemeinsame Tochter Rindy immer wieder als Waffe gegen seine Frau ein. Er will, dass sie bei ihm bleibt, obwohl er ihr nie vergeben wird. Einmal hat sie ihn schon hintergangen mit ihrer langjährigen Freundin Abby. Die Beziehung zu jener kleinen Verkäuferin, wie er sie nennt, empfindet Harge als doppelt schmachvoll. Therese schenkt Carol eine Schallplatte, Erinnerung an den ersten gemeinsamen Abend. Carol schenkt Therese eine phantastische Kamera. Musik und Fotografie sind entscheidende Elemente in diesem Film. Therese ist die Beobachtende, ihr Blickwinkel wird oft zu dem des Zuschauers. Bevor sie sich verliebte, machte sie nur Bilder von Bäumen, Straßen, Fenstern, nun fotografiert sie das Objekt ihrer Begierde, anfangs heimlich, dann offen, mit jedem Foto entdeckt sie eine neue Facette ihrer Geliebten, aber auch von sich selbst. Optik wird zum Synonym für Eros. Es ist keine stringent erzählte Geschichte wie bei Patricia Highsmith. Der Film wechselt zwischen Rückblenden und Querverbindungen. Todd Haynes und Drehbuchautorin Phyllis Nagy beginnen mit einer furiosen Eingangsszene, die das Ende an den Anfang setzt, ohne dass wir deren schicksalshafte Dimension in jenem Augenblick ermessen können. Die Kompositionen von Carter Burwell sind ein visueller Soundtrack, der Einfluss von Philipp Glass unverkennbar. Die Musik schildert die Charaktere bevor der Zuschauer sie zu begreifen beginnt. Leidenschaft, Verlust, Erniedrigung, Verzweiflung, Einsamkeit, Leere, die Gefühle spiegeln sich hier wie in den Bildern des Kameramanns Edward Lachman.
Ein von Harge beauftragter Detektiv macht heimlich einen Tonbandmitschnitt der gemeinsam verbrachten Nacht. Carol verlässt daraufhin die Geliebte und kehrt nach New York zurück. Sie will ihre Tochter nicht verlieren und willigt in alle Bedingungen ein, auch wenn sie noch so erniedrigend sind, nur um ab und zu Rindy sehen zu dürfen. Therese ist unendlich verletzt und enttäuscht, aber sie ist nicht mehr das scheue unscheinbare Ding aus der Spielzeugwarenabteilung. Ihre Verwandlung erinnert ein wenig an Audrey Hepburn in Billy Wilders Film „Sabrina” (1954). Sie macht Karriere als Fotografin bei der Times, findet ihren eigen Stil, ihr Charme ist noch immer etwas spröde, doch sie ist nicht mehr so ängstlich, misstrauisch gegenüber sich und den Anderen. Im Gegensatz zu Carol war sie die Unverformtere, kann besser ihre eigene Identität verteidigen. Grandios wie Rooney Mara die anfängliche Unsicherheit von Therese spielt. Ein Mädchen wie von einem anderen Planeten, so hatte die Freundin sie bei ersten Treffen genannt. Damals blickte sie nur verschämt auf ihren Teller hinunter und nahm es als Kompliment hin. Wenn sie nicht die Weihnachtsmann-Mütze trug, stülpte sie sich eine vielfarbig karierte riesige Baskenmütze über, unter der sie wie einer Tarnkappe verschwand. Sie schien sich immer zu verstecken, in einer Ecke, vor einer Wand oder auf dem Fußboden, als bräuchte sie etwas, das ihr Rückhalt gibt. Nun entwickelt sie sich zu einer jungen selbstbewussten Dame. Carol war bereit jedes Opfer für ihre Tochter zu bringen, sollte es denn der Tochter helfen. Aber eine Mutter, die ihre Würde verloren hat, ist in ihren Augen keine Mutter mehr. Sie streckt die Waffen, ist nicht mehr bereit ihr wahres Ich zu verleugnen. Doch Therese will nicht noch einmal verletzt werden, weicht ihr aus.
Die Grenzen des Glücks, so hieß die Überschrift zu dem Film „Blau ist eine warme Farbe” des Regisseurs Abdellatif Kechiche. Die Konstellation war eine ganz ähnliche, eine verzehrende Leidenschaft, aber die Protagonistinnen scheitern an sich selbst, vielleicht auch an einer Beziehung, die zu sehr von der physischen Anziehungskraft abhängt. Die Liebe zwischen Carol und Therese ist stärker, tiefer, obwohl ihre Situation um vieles schwieriger, gelingt es den beiden die Klassenunterschiede zu überbrücken, Angst wie auch Stolz zu überwinden und so am Ende die Grenzen des Glücks sprengen.
Originaltitel: Carol
Regie: Todd Haynes
Darsteller: Cate Blanchett, Rooney Mara, Kyle Chandler, Sarah Paulson
Produktionsland: Großbritannien, USA, 2015
Länge: 118 Minuten
Verleih: DCM Filmdistribution
Im Kino seit 17. Dezember 2015
Fotos & Trailer: Copyright DCM Filmdistribution
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment