Hieronymus Proske – das Repertoire in der Werkschau
- Geschrieben von Claus Friede -
Eine Werkschau eines Künstlers über einen Arbeitszeitraum von 15 Jahren zu präsentieren ist einerseits Zusammenfassung dessen, was sich über eine solche Zeitspanne künstlerisch getan und verändert hat, andererseits ordnet sich ein Werk wie dieses in einen allgemeinen Kontext der Kunst ein.
Hieronymus Proskes „Repertoire“, die „Fundstätte“ oder modern ausgedrückt, die Gesamtheit seiner künstlerischen Werke, die verfügbar sind, ist nun in der Fabrik der Künste in Hamburg zu sehen. Vorweg sei gesagt, dass dieses Repertoire im Kern nur dann zu verstehen ist, wenn man die Verschmelzung von Sichtbarkeit der dechiffrierbaren Bildmotive mit der Unsichtbarkeit, also den Themen jenseits der Bildfläche wahrnimmt.
Blickt man in die vergangenen fünfzehn Jahre so fällt im Schaffen des Künstlers auf, dass bei aller thematischer Konsequenz, viele kleine und große Entwicklungsschritte liegen. Gerade eine Werkschau vermag diese Veränderungen und Erweiterungen zu verdeutlichen. Möglicherweise ist die methodische Veränderungslust auf die filmische Arbeitsweise zurückzuführen, in der Proske jahrelang zuhause war. Das Motiv das sich immer wieder verändert, verändert auch die Kontexte. Die Zwischenräume eines Filmschnitts müssen eben vom Publikum gefüllt werden. Diese Methodik lässt sich nachweislich auch in der Malerei bei ihm erkennen.
Im Werk des Künstlers lassen sich grob gesehen zwei Themenstränge erfassen: das Portrait und die Landschaft. Beide Motivwelten ziehen sich kontinuierlich über einen langen Zeitraum hindurch. Sie sind mal unabhängig voneinander, mal ergänzen sie sich und mal verschmelzen sie regelrecht miteinander in immateriellen Hyper- und Metathemen. Letztgenannte bedürfen einer besonderen Analyse, weil sie nicht sichtbar sind.
Die frühesten Arbeiten dieser Werkausstellung zeigen ungewöhnliche Portraits, nicht die von Menschen, sondern von Tieren: Pferde, Schafe und Kühe. Ungewöhnlich deshalb, weil sich der Maler nicht ausschließlich für Vollportraits entschieden hat, sondern häufig nur einen Ausschnitt eines Kopfes zeigt, insbesondere die Augenpartie, der die dominierende Aufmerksamkeit gewidmet ist. In den einzelnen Augen spiegelt sich nämlich ausdrucksstark die Welt wieder, angedeutet als Lichtreflex, Umgebungs- oder Tiefenraum. Schon bei diesen Werken lässt sich erahnen, dass es Proske nicht um das reine, naturgetreue Abbild geht, sondern um eine Charakterisierung und um eine Welt hinter der Oberfläche.
Ein kunsthistorischer Bezug sind die Tierbilder des „Blauen-Reiter“-Künstlers Franz Marc. Es gibt eine markante Parallele zu entdecken: Marc sowie Proske zeigen im Tierportrait immer einen menschlichen und anthropomorphen Ausdruck, der wie ein Bindeglied fungiert. Diese vermenschlichte Welt ist in den Tierportraits ein sehr offenes und undefiniertes Konstrukt, das sich im Laufe der weiteren Jahre verdichten wird und schließlich mit den Landschafts- und Situationsbildern zielgenauer dem Betrachter jene Zusammenhänge liefert, mit denen er am Bild und in sich selbst arbeiten kann.
Was für die Tierportraits gilt, gilt auch anfänglich für die Landschaften. Er malt sie weder provokativ, noch indem er gängige Klischees oder kunsthistorische Vorbilder zitiert und strapaziert. Hieronymus Proske achtet vielmehr auf die künstlerisch-historische Distanz. Er setzt, um das zu verdeutlichen, ein Repertoire an malerischen Tricks von Verschwommenheit und Unschärfe ein – und der Begriff „Trick“ ist hier in einem überaus positiven, spielerischen und innovativen Sinne gemeint. Die Verschwommenheit und die Unschärfe sind nicht als malerisches Unvermögen misszuverstehen, sondern notwendig, um den Betrachter in Zwischenwelten entführen zu können, ihn darin eintauchen zu lassen. Denn neben den sichtbaren Aggregatszuständen befinden sich in den Landschaftsbildern auch solche, die lediglich gedanklich und theoretisch existieren und erst von uns selbst innerlich sichtbar gemacht werden müssen. Der Betrachter muss sich selbst als Ko-Produzent einbringen. Die Distanz zwischen ihm und dem gemalten Bild wird dadurch ein Stück weit aufgelöst und ermöglicht, das Dazwischen zu erkennen.
Die Verschwommenheit suggeriert außerdem eine zeitliche und räumliche Entrückung. Der Betrachter entfernt sich aus der messbaren Realzeit und fließt quasi in eine Erlebnis- und Erinnerungszeit. Die kontemplative Ausstrahlung und Unschärfe der Bilder verändert die Fließgeschwindigkeit der Zeit und löst die Landschaft in seine Bestandteile auf. Ähnlich verhält es sich mit Proskes Lichtsetzungen, die oftmals wie fotografisch-optische Behauptungen von Überbelichtung und Lichtreflexionen wirken. Die Verschwommenheit und die Überbelichtung entpuppen sich als ein Vorzeichen des Verschwindens. Wir können aber das Verschwommene durch unsere eigenen Erinnerungen vor dem Auflösen retten. Diese müssen gar nicht einmal so konkret sein, sondern können sich auf indifferente Gefühle in uns berufen. Wir sehen die Welt nicht mit „unschuldigen“ Augen, ohne Wissen und Erfahrungen, sondern genau gegenteilig, wir brauchen das Wissen und unsere Erfahrungen, um uns zu erinnern. Der Unterschied zwischen dem visuellen Erfassen der wirklichen Welt und dem theoretischen Deuten ist riesig groß, erkannte Ernst Gombrich schon vor 70 Jahren. Beides wurde in der Moderne intensiv betrieben, die Darstellbarkeit emotionaler Zustände wird seither in der Kunst ausgelotet. Das trifft auch auf das Werk von Hieronymus Proske zu.
Die Landschafts- und Situationsbilder entführen uns wie bei einer filmischen Rückblende in die eigene Kindheit oder Jugend – an Orte des Wohlgefühls. Auch wenn wir die gemalte Situation so nicht konkret erlebt haben, erwacht in uns doch ein vergleichbares Gefühl. Ein Moment der projizierten Sehnsucht entsteht und wie in Robert Stevensons Film „Mary Poppins“ möchte man regelrecht in die Bildszenen springen können, um in den Gefühlen und Sehnsüchten reisen zu können.
Es ist diese Wirkung, die den Werken eine allgemeine Gültigkeit gibt. Sie werden von einer einzelnen Person – sei es Maler oder Betrachter – sowie von einem bestimmten Ort, der Zeit, oder einem vom Künstler gemaltes Geschehnis unabhängig. Seine Personen bleiben im Bild anonym, sie sind vielmehr als Stellvertreter für uns alle zu lesen. Die Unbestimmtheit der Orte, die Negierung des verallgemeinernden Topos, ist dabei von vergleichbarer Bedeutung.
2009 begann Hieronymus Proske eine Serie von Kinderportraits zu malen, die er „Auf Augenhöhe“ nannte. Der Übergang vom Situationsbild zum Kinderportrait erschließt sich sofort, denn die Bildnisse sind als logische Konsequenz zu sehen und inhaltliche Weiterführung des Werkbegriffs des Malers.
Er malt die verschiedenen Einzelportraits auf die gleiche einfühlsame Art und Weise wie seine Situationsbilder: gefiltert, leicht verschwommen, wie mit einem Weichzeichner versehen. Allerdings gibt es auch einen eklatanten Unterschied: Proske holt die Personen hier aus der Anonymität, er benennt sie mit Namen und zeigt die verschiedenen kindlichen Charaktere so, dass man das Individuum dahinter erkennt. Einige der Bilder erinnern an sepia-farbige Werke, auf denen sich der Maler selbst als Kind gemalt hat. So findet Proske eine formale Eigenständigkeit in jedem einzelnen Portrait und setzt sich als Künstler „auf Augenhöhe“ mit den Portraitierten.
Der vormaligen Darstellung von kindlicher Idylle und Geborgenheit steht in den Bildnissen Proskes eine andere existentielle Wesen- und Wahrhaftigkeit gegenüber. Er zeigt Kinder, die heiter, unbefangen oder trotzig, ausgelassen oder verschlossen sind. Die Portraits zeigen die ihrer eigenen Identität noch ungewissen Kinder, zeigen den suchenden, neugierigen aber auch fordernden Blick in die Zukunft.
Proske will, so sagt er: „mit den Arbeiten deutlich machen, dass der wahre gesellschaftliche Fortschritt nur in der Menschlichkeit liegen kann, die im Kindesalter bereits beginnen muss.“ Seine Portraits setzen hierin hoffnungsvolle Zeichen. Sie sind stark an der Psychologie des Kindes orientiert.
Zurück zu den Landschaftsarbeiten: In seinen späteren, ab dem Jahr 2011 gemalten Bildern, kommen neue Stilmittel hinzu. Hieronymus Proske bezieht sich stilistisch auf eine fotografisch-digitale Erscheinung, die er für die Malerei gewinnt. Er vollzieht quasi eine Umkehrung der digitalisierten Fotografie. Das, was in den digitalen Fotos Aneinanderreihungen einzelner Pixelpunkte sind, wird nun auf der Leinwand zu eher ungeordneten architektonischen Bildelementen umfunktioniert. Sie haben keinerlei technische Bedeutung, sondern lassen sich ausschließlich stilistisch erklären. Diese grobe Pixelung der geometrisch angedeuteten Einzelelemente erscheint nun in der Malerei stark vergrößert in einem sonst proportionsgetreuen Bild. Ein Paradoxon. Das sorgt wiederum für eine andere Art der Entrückung als in seinen frühen Landschaften und eine zusätzlich Abstraktion. Dazu kommen Linien, verschobene einzelne Bildsequenzen, als ob ein zersprungenes Porzellanstück nicht ganz korrekt zusammengesetzt wurde oder einzelne Linsen eines Kameraobjektivs einen Sprung hätten und wie ein Kaleidoskop das Bild verzerrt oder gespiegelt produzieren.
Auch malt er einige Linien so, als ob das Bild eine Faltung hätte ertragen müssen. Wie bei einer analogen Fotografie, die immer mitgetragen wurde und schließlich die Gebrauchsspuren in Form von Knicken sichtbar macht.
Ihm geht es auch hier nicht um die Idealisierung, um das vermeintlich Liebliche. Auch nicht darum, durch das Eingreifen des Menschen die Naturlandschaft zur Kulturlandschaft werden zu lassen. Ihm geht es hier darum, dass wir nicht vergessen, dass Natur – Landschaft in Kombination mit Witterung, Tages- und Jahreszeit sowie Klima – neben ihrem ästhetischen Reiz auch wild, rau und grob sein kann – in der Alltäglichkeit zyklischer Systeme. Ein Regenguss, ein vereister See, ein morastiger Graben im Gegenlicht, eine nebelige Rodelstrecke, die spiegelblanke Oberfläche eines Gewässers und der vom Wind staubig gewehte Raum. Bei fast allen Aufzählungen spielt Wasser eine entscheidende Rolle. Wasser ist auf nahezu allen Bildern wahrzunehmen, in irgendeiner Form. „Wasser“, sagt Hieronymus Proske, „transportiert für mich Gefühle und Stimmungen; die Spiegelungen transportieren einen selbst“.
Zu dieser malerischen Erweiterung mit Mitteln der digitalen Fotografie kam Proske über eine Serie von Frauenbildern, die er bereits in den Jahren 2010 malte. Er griff in private Fotoarchive, anonymisiert und „verschleiert“ die Identität der Dargestellten, entrückt und verfremdet auf seinen Bildern nackte oder halbnackte Frauen mit den bereits genannten malerischen Mitteln. Wie schon in früheren Bildern fokussieren diese Bilder nicht eine idealtypische Pose, sondern einen fast zufälligen, ungewöhnlichen Moment. Die merkwürdige Körperhaltung einer sich in Bewegung befindenden Frau, die sich entweder gerade setzen möchte oder aufsteht verrät uns, dass der festgehaltene Moment nicht die Schönheit des weiblichen Körpers offeriert, sondern den Bruchteil irgendeiner Bewegung. Unterstützend gibt Proske seinen Bildern strenge zeitliche Betitelungen wie „8:38h morgens“. Dieser Verweis auf die Minute genau spielt mit dem bereits vorher erwähnten fotografischen Augenblick. Längst ist 8:38h vorbei und das Urbild hat sich verändert. Das was da morgens gesehen ist, ist schon Erinnerung und der Betrachter interpretiert bereits seine eigene Vorstellung von dem, was dort an jenem Morgen von einem anderen festgehalten wurde. Es bleibt für den Betrachter keine zusammenhangsträchtige Auskunft zurück, denn ihm kann es vollkommen egal sein wann das ursprüngliche Bild einmal auf der Zeitachse entstand. Die Präzision ist vielmehr ein Ablenkungsmanöver, im Grunde eine weitere Abstraktion.
Dem Künstler ist also der zeitliche Bruchteil wichtiger als das Festhalten eines intimen Augenblicks. Jedweder Voyeurismus ist damit widerlegt. Der starke Reiz dieser Bildserie liegt also in ihrer Unbestimmtheit. Nur sehr oberflächlich gesehen geht es um den Reiz des leuchtenden Rots der Damenunterwäsche oder das nackte Erscheinen in der Öffentlichkeit. Eine abstrahierende Unschärfe bildet auch hier die wesentliche Wahrnehmung und dient als eine Art Filter zwischen Urbild und unserer Betrachtung.
Methodisch vergleichbar ist eine Serie von Hafenbildern, die Proske so malt, als seien sie Landschaften. Aus einer gewissen Distanz heraus, als Bruchkante zwischen Natur- und Industrielandschaft beobachtet, schiebt der Maler auch hier wieder seine verfremdenden Filter vor den Vorgang des Deutens. Proportionen laufen aus dem Ruder, wenn der Kran übermächtig einem monolithischen Baum gleich und die Szene beherrscht. Wenn die Erdfarben sich Schiffsrümpfen bemächtigen und zu rostrot mutieren und sich schließlich das Blau des Himmels mit dem Hafenwasser symbiotisch verbindet. Diese Bilder sind Quintessenzen des bisher geschaffenen.
Erstmals präsentiert Hieronymus Proske in der Werkschau einen neuen Zyklus von Acrylbildern.
Auch wenn der Maler dem Landschaftsmotiv nunmehr seit über einem Jahrzehnt treu bleibt, so erweitert er seine Bildsprache durch komplexe und metaphorische Verweise, die über das Bild hinausgehen.
Proskes Landschaften tragen allesamt gedankliche Netzwerke in sich, die im neuen Zyklus erstmals motivisch aufgegriffen und visuell entdeckbar werden.
Die Betitelung „Rhizom“ oder „Verflechtung“ (addiert mit einer Nummerierung) verweist auf jenes Geflecht, für das der Begriff in der Philosophie und den Kulturwissenschaften steht: Es geht um die Orientierung in einer komplexen, unüberschaubaren und modernen Welt. Proske spielt in seinen Bildern mit dieser Orientierung. Er gibt sie dem Betrachter nicht sofort auf dem ersten Blick frei, sondern lässt ihn diese erst nach einer gewissen Zeit im Bild als solche auffinden. Im Detail der filigranen motivischen Auswahl von Ästen, Wurzeln und Geflechten gibt es Räume, die zunächst aufgefunden und dann erschlossen werden wollen. Was ist oben und was ist unten – was ist Spiegelung und was Gegenstand – was ist Natur und was Erfindung – was ist Raum und was chaotische Struktur?
Proske kommuniziert in diesen neuen Werken für jeden entdeckbar den Unterschied zwischen dem Deuten (Wurzelsystem, Gestrüpp) und dem visuellen Erfassen (Baum, Wald) einer wirklichen Welt.
Die Ausstellung „Hieronymus Proske – Werkschau 1998-2013“ ist vom 18. bis 27. Oktober 2013 zu sehen in der Fabrik der Künste, Kreuzbrook 10-12, in 20537 Hamburg.
Eine Ausstellung der Georg Molitoris Galerie.
Öffnungszeiten: Mo.-Fr. 14:00 bis 19:00 Uhr , Sa.-So. 12:00 bis 18:00 Uhr und nach Vereinbarung.
Es erscheint ein Katalog zum Preis von 20 Euro.
Fotonachweis: © Alle Hieronymus Proske
Header: Detail aus „Unterwegs“, 2011, Acryl auf Leinwand, 45x130 cm
Galerie:
01. „Renaldo’s secret“, 1998, Acryl auf Leinwand,100x120 cm
02. „Lichtsucher I“, 2001, Acryl auf Leinwand, 60x80 cm
03. „There is no Way Back“, 2005, Acryl auf Leinwand, 90x100 cm
04. „Flow II“, 2006, Acryl auf Leinwand, 90x125 cm
05. „Josi“, 2009, Acryl auf Leinwand, 40x60 cm
06. „9:08h a.m.“, 2010, Acryl auf Leinwand, 115x158 cm
07. „Close your Eyes“, 2010, Acryl auf Leinwand, 115x153 cm
08. „Explorer“, 2011, Acryl auf Leinwand, 39x125 cm
09. „Erntezeit“, 2011, Acryl auf Leinwand, 40x40 cm
10. „Mittags“, 2011, Acryl auf Leinwand, 90x90 cm
11. „Dock 10“, 2001/2012, Acryl auf Leinwand, 120x170 cm
12. „Rhizom 12“, 2013; Acryl auf Leinwand, 80x120 cm
13. „Verzweigungen 4“, 2013, Acryl auf Leinwand, 120x190 cm.
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