Clemens Wittkowski führt die Besucher der Videokunstausstellung „Fragile Verhältnisse“, die in der Kunsthalle des Kunsthaus Nexus im österreichischen Saalfelden gezeigt wird, gleichnishaft an einen sehr sensitiven Ort: in unser aller Ich.
Die Werke des 54jährigen Videokünstlers berühren unsere Gefühlswelt ambivalent. Trotz starker Einheit fordern sich Bild und Ton immerzu eindringlich heraus. Mit einem Themenkanon von hingebungsvoller Liebe und tiefer Enttäuschung über unbeirrbares Handeln und hoffnungsfrohe Momente hin zu schonungslosen Zerreißproben – und der Erkenntnis, dass nichts von langer Dauer sein kann. Oder gerade doch?
Zwar ist die Ausstellung weder Psychogramm noch erzählt sie das Innenleben des Künstlers, jedoch sind die Videowerke das Ergebnis von Lebenserfahrungen, Erinnerungen und präzisem Beobachten von Beziehungsgeflechten. Konzeptuelle, reduzierte Bildsequenzen und Soundatmosphären, häufig durch Reduktion und virtuelle Filter künstlerisch geklärt, kulminieren die kurzen Videos – keines länger als 7 Minuten, aber zu Schleifen unendlich gesetzt – zu emotionalen und ästhetischen Leistungen.
Das Plakat und Einladungsmotiv ist ein Still aus „iSign“. Schon hier wird klar, wie die Einfachheit der Arbeit die Perfektion, die Spannung und Schönheit liebt. Wie ein asiatisches Meisterwerk seziert der Künstler die zwischenmenschlich wahrnehmbare Diskrepanz von Aktion und Reaktion. In einer kargen Dünenlandschaft auf Heidegrund wird eine weiße Fahne hin und her geschwenkt. Sie ist weit von uns entfernt. Als Verzicht auf Gegenwehr, als Zeichen der Kapitulation, aber auch des Noch-Daseins, hebt sie sich als klare Aussage von ihrer dunklen Umgebung ab. Wer sie allerdings schwenkt, bleibt visuell wie akustisch verborgen. Das vordergründige Schlagen und Reißen des weißen Stoffs sowie das flächige Geräusch des Windes scheinen die Szenerie zu beruhigen. Die Frage, wovor wir kapitulieren oder wie viele Zeichen von unseren Mitmenschen wir täglich ignorieren, wartet auf individuelle Antworten.
Ähnliches gilt für „why is it never enough” aus dem Jahr 2022. Auch diese Videoarbeit vergegenwärtigt schonungslos unseren Hang dazu, alle Dinge bis zum Äußersten zu treiben, und fragt zurecht, warum es nie genug ist. In einer einzigen Sequenz knirscht ein bis zur Zerreißprobe gespanntes Hanfseil unter den Zugkräften. Eine fesselnde Klavierkomposition durchdringt die minimalen Bewegungen und Impulse des Seils immanent. Unruhe stellt sich ein. Zunehmend aufreibend. Doch der Ausgang ist so überraschend wie gleichnishaft. Das Seil reißt nicht und eine gewaltige Soundcollage aus Leid, Erregung, Liebe und Kampf sowie ein dazu eingeblendeter Text, der ‚why is it never enough' in den weltweit zehn meistgesprochenen Sprachen zitiert, konkludieren gemeinsam: es wird einfach weitergehen.
Blick in. die Ausstellung am Eröffnungsabend. Foto: Daniel Runge
Die älteste Arbeit im Ausstellungsreigen heißt „Lieben“ (2020). Sie führt uns an einen sehr bekannten psychischen Ort – in unser aller Ich. Der Blick auf eine aufgewühlte Seelandschaft mit fordernden Wellen, einen vermeintlich aufklarenden Himmel sowie filigrane Sediment-Momente unter Wasser wird von einer fortwährend neu phrasierenden Soundscape und dazu kompositorisch klar gesetzten Fragmenten in Versform durchdrungen: ‚Lieben. Lieben lassen. Lieben lieben. Lieben leben. Lieben enden. Hell, yes! Nein! Nochmal von vorn.‘ Jeweils interpretiert von einer weiblichen und einer männlichen Stimme ist das Gesprochene der emotionale Impuls für die sequenzielle Gesamtdramaturgie. Lieben – Beziehungen und Interaktionen – werden ständig neu und vielfältig von uns reproduziert. Auf sensitive Weise finden wir uns in einem transitorischen Raum wieder, den alle so gerne kennenlernen, ihn oftmals aber auch schnell wieder verlassen möchten. Weil er eben unerklärlich grundehrlich im Auf und Ab ist. Jedoch: das/die 'Lieben' begleiten uns ein Leben lang. Als wesentlichstes Element der Beschäftigung mit sich selbst und anderen.
„Hier“ (2023) visualisiert unsere Seele auf eine bisher unvergleichliche Art und Weise. Auf der Oberfläche einer in die Jahre gekommenen Kindertafel, auf der normalerweise gekritzelt, gezeichnet, gerechnet und geschrieben wird, folgen wir einer mit weißer Kreide agierenden Hand, beobachten und hören fast distanzlos eine in allen Belangen einsetzende rieselnde Brüchigkeit. Nach einem vehementen Auftakt als Hinterlassenschaft des Schreibmaterials wird die Kaligraphie der Handschrift zum kulturellen Ausdruck, der geschriebene Text zum sensitiven Credo: “Das Traurige im Schönen. Das Entzückende im Schmerz.“
„inside out“ (2023) beginnt akustisch mit vermeintlich zerrenden Explosionen. Die anfangs unscharfen Bilder lassen etwas Dramatisches vermuten: Auseinandersetzung und Krieg. Doch nach einer halben Minute entzerren sich Szenerie und Sound zu etwas anderem: ein imposantes Feuerwerk erleuchtet virtuos, eine männliche Stimme atmet intensiv. Ursprünglich sollte Feuerwerk böse Geister und Ängste vertreiben oder bei Kampfhandlungen die Gegenseite einschüchtern. Heutzutage ist es in erster Linie Faszination und Unterhaltung. „Inside out“ überträgt diese historischen Ambivalenzen in sensitive, emotionale. Denn unser Gefühl deutet nicht per se auf unser äußeres Verhalten hin – und umgekehrt. Oftmals kämpfen beide Pole miteinander. Vielfach konterkarierend. Stets unmittelbar.
„Inside out“ 2023, Videostill
Zu den Highlights der Ausstellung gehört das kürzlich bei der ArtIstanbul Feshane präsentierte Werk „Tränen. Vergehen.“ (2023). Hier inszeniert auf affektive Weise die Ambivalenz von Schwermut und Wohlgefallen. Hierin werden wir Teil einer One-Shot-Videosequenz, die von einer eindringlichen Musik-Loop geleitet wird. 'Tränen. Vergehen.' gewährt einen ausschließlichen und uns eigentlich bekannten Blick von innen nach außen durch ein Flugzeugfenster. Wir erfahren in kurzer Zeit mehrere äußere physische und innere psychische Aggregatzustände. Das Aufsteigen wird zum Narrativ von Hoffnung und Veränderung, denn jedes Trübsal und jeder innere Kampf bedingen auch ein Aufklaren und Überleben. Dies gerät schnell in Vergessenheit. Manchmal scheint es wirklich nicht weiterzugehen oder nur über unerklärliche und kräftezehrende Umwege. Aber es geht weiter, es soll weitergehen. Einfach weiter. Und zuweilen wieder besser. Und das ist meistens gut so.
„Beaten“ (2024) inszeniert die Seele und das Herz – und die innere Zerrissenheit im Umgang mit beiden. Wie denke und wie fühle ich? Wie werde ich durch Einflüsse und Widerstände, auch von außen, durcheinandergewirbelt und kann doch mit eigener Überzeugung ein lebendiges inneres Gleichgewicht erlangen? Dies wird in einem sehr minimalistischen Setting auf eindrucksvolle Weise dargestellt. Mit einem schmalen, schwarzen Catsuit bekleidet, bewegt sich ein Performer in einem gelb changierenden warmen Spotlight. Ist er ruhig? Ist er zufrieden? Oder ist er einfach nur unfassbar erschöpft? Er beginnt mit seinen Händen unkontrolliert auf den Boden zu schlagen, manchmal weich und fast zärtlich, aber immer mehr auch sehr hart und ziemlich wütend. Er steigert sich immer mehr in diesen Zustand hinein. In seine Seele und sein Herz. Unruhig, kämpfend und ihn fast zerreißend. Sich innerlich geschlagen gebend. 'Beaten'. Ganz langsam wird sein Schlagen aber sehr viel gleichmäßiger. Beruhigung tritt ein, sehr viel Mut, Klarheit, ein harmonischer Beat, ein Rhythmus, der nun auch musikalisch immer intensiver und druckvoller wird – durch ausdrucksstarke Bewegungen und Virtuosität. Gleichgewicht, Stabilität, zumindest für eine Weile. Wir spüren den Körper des Performers, sehen förmlich, wie Seele und Herz Oberhand gewinnen, bis er zum letzten und finalen Schlag ausholt und in ihm verschwindet.
„Bonkers“ (2024) ist im wahrsten Sinne des Wortes verrückt. Eindringlich. Kraftvoll. Konterkarierend. Wir sind nah dran an der Silhouette einer langhaarigen Person, die ohne Furcht ihren Kopf maximal ungestüm zu einer Death Metal-Sequenz bewegt. Headbanging in Reinform. Wir spüren Anspannung, Kraft, Unordnung und Grenzenlosigkeit. Alles wird je gestoppt, als ein schriller Feedback-Sound der Gitarre einsetzt, das Headbanging selbst fast in Slow Motion einfriert und wir aus dem Off so bestimmend wie gelassen einen künstlich intelligenten Kommentar serviert bekommen. Als Aufforderung, Haltung oder Conclusio? Auf jeden Fall, bevor der finale Schlag den letzten Punkt setzt: ‚Look, if you are driving for excellence all hell breaks loose. I´m not kidding. You have to allow disorder and you personally have to foster a relationship with anxiety. With unpredictability. With constant struggle. That´s all.‘
„Dauerhaft“ (2024) fängt das Gefühl von permanenter Anspannung sehr sinnbildlich ein. Wir sehen ein hell ausgeleuchtetes Metronom (Ein Metronom, aus dem Griechischen von metron „Maß“ und nomos „Gesetz“, gibt durch akustische Impulse in gleichmäßigen Zeitintervallen ein konstantes Tempo vor). Das Pendel schwingt hin und her, aber der Sound dazu ist nicht das typische Klicken eines Pendels, sondern scharfes Schlagen und Peitschen im Takt. Dieses irritierende Zusammenspiel bereitet Unbehagen und trifft dabei einen Nerv: der Mensch funktioniert fast ohne Pause. Das Leben kann zu einer Art ruheloser Selbstkasteiung werden. Ein psychisches Gefängnis, in dem Hiebe und Einschläge drohen, immer stärker zu werden. 'Dauerhaft'. Lebenslang. Gibt es einen Ausweg? Vor allem die bewusste Entscheidung für ein Unterbrechen oder aber Festlegen kann schon etwas verändern.
„Dauerhaft“, 2024, Videostill
Und schließlich folgt „Synkope“ (2024) den in Negativaufnahme inszenierten Bewegungen eines Schlüssels, der vermeintlich eine Tür aufschließt, begleitet von einem repetitiven Klavierspiel und tief rollenden Geräuschen aus dem Inneren des Türschlosses. Optionen, etwas zu öffnen, sich zu öffnen, über eine Schwelle zu treten und vielfältig zu kommunizieren, sind überall präsent. Genauso wie das fast ohnmächtige Gefühl, sich vor etwas verschließen zu wollen oder etwas beenden zu müssen. Die Drehung des Schlüssels im Türschloss ist der sezierende Moment der Wahrheit und steht als Metapher für die menschliche Zerrissenheit darüber, was kommen mag. Gleichzeitig bietet die Möglichkeit des Auf- oder Zuschließens aber auch eine Sicherung dessen, was uns Kraft, Mut, Stabilität und Schutz gibt. Die eigentliche Transformation, die in ‚Synkope' zwar nicht explizit gezeigt wird, aber latent mitschwingt, ist die versinnbildlichte transkulturelle Emotion von Veränderung, die uns Menschen weltweit verbindet.
Clemens Wittkowski ist Gründungsmitglied (1995) und Creative Director des Kreativnetzwerks bauhouse. Er entdeckte früh seine Leidenschaft, als Videokünstler, Regisseur für Werbefilme und als DJ und Produzent im House- & Techno-Genre zu agieren. Eine Vielzahl an Ausstellungen, Videoarbeiten, Filmen und Veröffentlichungen (u.a. Kulturhuset Stockholm, Galerie der Gegenwart/Hamburger Kunsthalle, ICA London, Kampnagel Hamburg, Kunsthalle Baden-Baden, Stadtgalerie Kiel, ArtIstanbul Feshane) sowie bisher über 50 internationale Auszeichnungen und Kreativpreise (u.a. ADC of Europe Gold Award, Clio Gold Award, ADC Silver Award, New York Festivals Silver World Medal, Eurobest Silver Award) prägen sein Schaffen.
Clemens Wittkowski: Fragile Verhältnisse
Zu sehen bis 22. Februar 2025 im Kunsthaus Nexus (Kunsthalle), Am Postplatz 1, A-5760 Saalfelden/Österreich
Öffnungszeiten: Di.–Fr. 9–14 Uhr gegen Voranmeldung, Do.–Sa. 17–20 Uhr
Weitere Informationen (Kunsthaus Nexus)
Weitere Informationen (Clemens Wittkowski)
Lesen Sie mehr über den Künstler bei KulturPort.De:
- Clemens Wittkowski: DEMASKIERT (Geschrieben von Claus Friede, Clemens Wittkowski, Montag, 19. April 2021)
- bauhouse - ein Konzertprojekt der besonderen Art (Geschrieben von Clemens Wittkowski, Donnerstag, 02. April 2009)
Hinweis: Der Autor dieses Beitrags ist gleichzeitig der Kurator der Ausstellung und Kunstmanager des Künstlers.
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