Einen fast vergessenen Maler stellt in diesem Winter das Lübecker St. Annen-Museum vor – zusammen mit Arbeiten seines Lehrers Lucas Cranach werden 22 der 29 erhaltenen Werke Hans Kemmers präsentiert.
Hans Kemmer war ein gebürtiger Lübecker. Zwischen 1495 und 1500 geboren, lernte er in seiner Heimatstadt, um später als Geselle Lucas Cranachs Wittenberger Werkstatt anzugehören. Im Anschluss kehrte er an die Trave zurück, heiratete die Witwe des Malers Hermann Wickhorst und konnte sich dank dieser Verbindung selbstständig machen. Als Porträtist der Patrizier, aber auch mit seinen meist protestantisch ausgerichteten religiösen Bildern wurde er in der Folge so wohlhabend, dass er sich sogar ein Haus in der Königstraße leisten konnte. Jetzt – kaum 460 Jahre nach seinem Tod 1561 – erhält er seine allererste Einzelausstellung, die mit 42 Exponaten Cranachs sowie dessen Schülern und Nachfolgern ergänzt wird.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kam dem Porträt eine besondere Rolle zu. Dank der Bilder Cranachs wissen wir, wie Martin Luther ausgesehen hat, kennen aber auch das Aussehen von Katharina Bora, seines Mitstreiters Philipp Melanchthon oder der Fürsten seiner Zeit. Zwar gehören zur Geschichte der Reformation ikonoklastische Tendenzen, die in Wittenberg vor allem von Andreas Bodenstein von Karstadt vertreten wurden. Dieser später von Luther vertriebene Pastor hatte sich in seiner Schrift „Von abtuhung der Bylder“ für eine radikale Zerstörung der Kircheneinrichtungen ausgesprochen. Aber Luthers Sache war das nicht, und Cranachs selbstredend ebenso wenig. In dessen ganz der Reformation verpflichteten Bildern spiegelt sich lediglich die größere Bedeutung des Wortes wider, die den Protestantismus auszeichnet. Vor einigen Jahren wurde von dem amerikanischen Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner dieses veränderte Verständnis von Wort und Bild in einer ebenso minuziösen wie grundgelehrten Auslegung der Predella des „Reformationsaltars“ in der Wittenberger Stadtkirche herausgearbeitet.
Das Werk Kemmers ist Cranach in vielem verpflichtet – in der Thematik der Gemälde wie in deren Stil. Tatsächlich können sich seine Bilder neben denen des großen Meisters behaupten – das ist sehr viel. Aber natürlich war Cranach nicht, wie das Fernsehen ihn jetzt nannte, ein „Superstar“, noch, wie es in der örtlichen Presse hieß, ein „Super-Maler der Renaissance und Reformation“. Kemmer war Cranach natürlich auch nicht „ebenbürtig“, und ein „Champions-League-Maler“ war er schon einmal überhaupt nicht. Cranachs Werk ist nicht nur quantitativ bedeutend umfangreicher als das Kemmers, es ist dazu vielseitiger und durchdachter; und es war Cranach, der einen Weg wies, auf dem ihm Kemmer lediglich folgte.
Man muss immer bedenken, dass Cranach viele seiner großen Gemälde – so auch die erwähnte, von Koerner ausgedeutete Predella – nach intensiven Gesprächen mit Luther konzipierte. Kemmer, der einige Jahre in Cranachs Werkstatt gearbeitet hat, hat bei seinem Meister viel gelernt und von ihm manches übernommen – sowohl Motive als auch ihre Behandlung, und im Stile Cranachs hat er den Hintergrund vieler Gemälde gestaltet und eine weite Landschaft in grün-bläulich verschwimmenden Tönen gemalt, von der sich die Figuren im Vordergrund deutlich und dazu in kräftigeren Farben abheben. Aber ein zweiter Cranach, dem Rang nach gleichwertig?
Die Ausstellung ist in sieben Kapitel untergliedert. Zunächst erscheinen im Porträt „Die Protagonisten“, also prominente Reformatoren; von Kemmers Hand findet sich hier das „Porträt eines jungen Mannes“ von 1539 oder das Bildnis eines katholischen Domherrn, das erst kürzlich in Los Angeles aufgefunden und als Werk des Lübecker Meisters identifiziert wurde. In „Hans Kemmer und die Cranachwerkstatt“ werden einige Arbeiten Kemmers aus seiner Wittenberger Zeit gezeigt, die jetzt dank der erstmals durchgeführten Infrarotuntersuchungen der Vorzeichnungen als seine Beiträge erkannt werden konnten. Im dritten Kapitel, „Jesus – Gottessohn und Mensch“ überschrieben, ragt Cranachs Bild des Schmerzensmannes hervor, und von Kemmer findet sich hier ein besonders schönes Passionstryptychon aus dem schwedischen Nyköping.
In „Vorbildliche Frauen“ kann man sich an Marienbildnissen erfreuen, und von Cranach gibt es – eine Leihgabe aus Kopenhagen – „Das Urteil des Paris“. Rechts von den drei nackten Frauen lugt ein Pferd hinter einem Baum hervor – das ist ein Motiv, dem wir auch bei Kemmer begegnen, das er also von Cranach übernommen hat. Sonst finden sich in diesem Kapitel viele biblische Gestalten, etwa die blutige Salome oder auch Judith. Aus dem Katalog habe ich gelernt, dass die Darstellung „der sogenannten Weibermacht […] ein festes Motiv in Kunst und Literatur“ gewesen ist. Der Glanzpunkt dieses Kapitels ist aber wohl „Die Liebesgabe“, ein Gemälde Kemmers von 1529 aus dem Bestand des St. Annen-Museums, das erst kürzlich erworben wurde: ein außergewöhnlich schönes Bild.
In ihrem großen Buch über „Die Malerei der deutschen Renaissance“ (zusammen mit Anne-Marie Bonnet) hat Gabriele Kopp-Schmidt nicht von „vorbildlichen“, sondern von „gefährlichen“ Frauen gesprochen und damit die Misogynie der Zeit thematisiert – wohl einem Alleinstellungsmerkmal der deutschen Renaissance, denn in Italien und Frankreich scheint sie gefehlt zu haben. Dabei spielten verschiedene Motive oft unentwirrbar ineinander: die willkommene Gelegenheit, eine nackte Frau malen zu dürfen, der Hexenwahn (man denke an Baldung Grien!), oder das Nebeneinander von einer nackten Frau neben einem verwesenden Leichnam als dem Symbol des Todes. Kopp-Schmidt fasst zusammen: „Die bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannten Bildideen gehen einher mit einer mentalitätsgeschichtlichen Veränderung des Blicks auf das weibliche Geschlecht, einer nachdrücklich artikulierten und neu diskutierten Schuld an Sünde und Tod, die der Frau zugemessen wird.“
In „Das Wichtigste im Fokus“ kann man sich unter anderem „Christus und Maria“ anschauen – ein wunderbares Ölbild auf Pergament von der Hand Lucas Cranachs, das in seiner Art von allen anderen Gemälden dieser Ausstellung abweicht. Die anderen, teils derb karikierenden Bilder dieses Kapitels fallen dagegen deutlich ab. In dem vorletzten Kapitel, „Von Sünde und Erlösung“, finden sich etliche große, theologisch geradezu programmatische Bilder (der Kommentar des Kataloges spricht von „Lehrbildern“), darunter dreimal „Gesetz und Gnade“ als Veranschaulichung der protestantischen Rechtfertigungslehre. In ihrem Katalogbeitrag zeigt die Kuratorin Dagmar Täube, dass eben diese Thematik „gut zur Theologie und Frömmigkeit Martin Luthers“ passt. Immer wieder weist sie auf den „belehrenden, moralisierenden und didaktischen Zweck“ hin, auf den sich die reformatorische Kunst richtete, und Miriam Verena Fleck stellt im Katalog diese theologischen Aspekte unter dem Titel „Wier sind allzumal sünder. Glaubensallegorien im Kontext von Buße und Erlösung“ dar.
Es steht völlig außer Frage, dass die Einordnung der Kunst in die Propaganda tatsächlich bestand. Aber wie sollen wir uns heute dazu stellen? Sollen wir diese Bilder allein unter kulturhistorischen Gesichtspunkten anschauen? Sollen wir die Achseln zucken, wenn wir uns nicht zu der lutherischen Rechtfertigungslehre bekennen wollen? Tatsächlich besitzt doch selbst ein dogmatisches Lehrbild wie „Gesetz und Gnade“ einen hohen ästhetischen Reiz – aber ist es für uns nicht mehr als bloß reizvoll oder interessant?
In Anne-Marie Bonnets und Gabriele Kopp-Schmitts Buch über „Die Malerei der deutschen Renaissance“ hat Daniel Görres das in Lübeck ausgestellte Bild kommentiert. Der Gläubige, schreibt er (und spricht damit den Zusammenhang von Altem und Neuem Testament an), bedarf des „mosaischen Gesetzes, um sich seiner Sündhaftigkeit bewusst zu werden. Er muss erkennen, dass er an den Geboten des strafenden alttestamentarischen Gottes in jedem Fall scheitert und darüber verzweifeln wird. Diese Verzweiflung ist gleichsam Voraussetzung für die Errettung durch Christus und das Evangelium.“ Der dichotomische Aufbau des Bildes mit seinen korrespondierenden Elementen und Figuren in der linken und rechten Hälfte veranschaulicht diese Zusammenhänge; aber man muss schon sehr bibelfest sein, um alle diese Elemente zuordnen zu können.
Im letzten Kapitel schließlich – „Hans Kemmer im Kontext“ – werden die sehr intensiven Kontakte Lübecks zur niederländischen und niederrheinischen Kunst dokumentiert, über die sich im Katalog ein interessanter Beitrag von Barbara Welzel und Iris Wenderholm findet.
Sowohl der Katalog mit seinen substanziellen Beiträgen und schönen Abbildungen als auch die dicht gehängte und deshalb sehr intensive Ausstellung sind unbedingt zu empfehlen.
„Cranach – Kemmer – Lübeck. Meistermalere zwischen Renaissance und Reformation“
Zu sehen bis Sonntag, 6. Februar 2022
Im St. Annen-Museum, Lübeck
Eintrittszeiten:
Bis 31. 12. 10 – 17 Uhr
Ab 01.01. 11 – 17 Uhr
Kataloge:
Lucas Cranach der Ältere und Hans Kemmer. Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation.
Herausgegeben von Dagmar Täube in Zusammenarbeit mit Miriam Mayer und Julia Hartenstein.
Hirmer 2021
304 Seiten
978-3777437484
Joseph Leo Koerner: Die Reformation des Bildes. Aus dem Englischen von Rita Seuß.
Beck 2017
598 Seiten
978-3406712043
Anne-Marie Bonnet und Gabriele Kopp-Schmidt unter Mitarbeit von Daniel Görres: Die Malerei der deutschen Renaissance.
Schirmer-Mosel 2010
408 Seiten
978-3829606936
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