Christoph Spering musiziert ohne Dogma: Bach – Lutherkantaten
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Um die rechte Art, Johann Sebastian Bachs Kantaten aufzuführen, tobt seit Jahrzehnten fast ein Glaubenskrieg. Nun nimmt Christoph Spering den bevorstehenden 500. Jahrestag der protestantischen Reformation zum Anlass, um 13 Kantaten nach Worten des Glaubenserneuerers Luther neu einzuspielen. Unaufgeregt, schlank, in einer guten Mischung aus Tradition, historisch informierter Aufführungspraxis und Musizieren, das aus der Seele kommt.
Martin Luther, der Reformator, hatte schnell erkannt, dass neben einer Bibel in deutscher Sprache Kirchenlieder eines der wirksamsten Propagandamittel sind, seine Glaubenssätze im Volk zu verbreiten. Er schrieb mehr als 30 Kirchenlieder – die Texte und zu etlichen auch die Melodien; sie fanden Eingang in die evangelischen Kirchengesangbücher. Einige von ihnen sind schon so etwas wie feste Grundpfeiler der evangelischen Kirchenmusik geworden. Und waren das auch 200 Jahre später noch, als Johann Sebastian Bach 1723 seine Stelle als Thomaskantor antrat.
Zur wöchentlichen Produktion und Aufführung einer geistlichen Kantate verpflichtet, war klar, dass Bach sich Luthers Kirchenlieder nicht entgehen lassen konnte – gehörten zu ihnen doch Hits des Gesangbuchs – von „Nun komm der Heiden Heiland“ über „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ und „Christ lag in Todes Banden“ bis zum glaubensstarken „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Interessantes und populäres Material, aus dem Bach einen kleinen Kosmos von Stücken quer durch das Kirchenjahr komponiert hat. Vom Adventslied „Nun komm der Heiden Heiland“, das Luther als Neudichtung des altkirchlichen Hymnus „Veni redemptor gentium“ von Ambrosius von Mailand (339–397) geschaffen hat – eines der Stammlieder der protestantischen Adventszeit, das gleich in zwei Fassungen in der Kantatensammlung präsent ist, bis zum ebenfalls in die Adventszeit gehörenden „Schwingt freudig euch empor“, dem nach einer hübschen Karriere als Glückwunschkantate zu verschiedenen Anlässen Bach seinen Platz im Kreis des Kirchenjahres verschaffte.
Das Bach’sche Kantatenwerk ist lebendiger denn je in der Musizierpraxis, und über kaum eine andere Sparte seines Schaffens ist in den vergangenen Jahrzehnten so heftig gestritten worden wie über sie und die Aufführungskonventionen, die mit ihnen verbunden werden.
Großer Chor, kleiner Chor oder solistische Besetzung der Singstimmen? Knabenstimmen für Sopran und Alt oder Erwachsene? Wie groß darf das Orchester sein? Wollen wir die aufgeräumten, raschen Tempi mancher Alt-Musik-Neuerer, sollen die Rezitative mit kurzen Akkorden oder lang liegenden Tönen begleitet werden? Wie waren Bachs Ensembles aufgestellt? O-Ton Spering in einem Klassik.com-Interview vor Jahren: „...diese ganzen Alte-Musik-Ideologen können es einem schon verderben: Die endlosen Diskussionen darüber, wie die Chöre besetzt werden sollen… Solistisch, wie die Jünger von Wissenschaftlern wie Joshua Rifkin propagieren? Das ist doch Schwachsinn! Die Forschung hat doch belegt, dass es in Bachs Zeit vor allem eines nicht gab: eine Industrienorm.“
Einander ergänzende Sichtweisen auf dieselbe Musik
Für seine Einspielung der Lutherkantaten hat sich Christoph Spering mit seinem Chorus Musicus Köln und dem 1988 gegründeten Neuen Orchester ein ganz entspanntes Motto gesucht: „Kein Dogma“. Bach musste jede Woche neue improvisieren, mit besseren und schlechteren Sängern auskommen, von denen mal mehr und mal weniger zur Verfügung standen, und mit wechselnden Instrumentalbesetzungen. Die „einzig wahre“ Aufführungspraxis kann es schon deswegen nicht geben. Der Leipziger Musikwissenschaftler Andreas Glöckner zitiert in seinem Text den Thomasschulrektor Gesner, der davon ausgeht, das Bach im Normalfall 30, an hohen Feiertagen auch mal 40 Sänger und Musiker aufbieten konnte.
Spering kommt dem mit seinen Aufnahmen recht nahe, er setzt meist vier Sängerinnen/Sänger pro Stimme ein, bei zwei Kantaten allerdings („Christ lag in Todes Banden“ und „Nun komm der Heiden Heiland“ BWV 61) greift auch er auf ein Solistenquartett für die Chorpartien zurück und besetzt dann auch die Streicher schlank mit jeweils nur einem Instrumentalisten.
Seine Einspielungen, bei denen er auch die Solo-Partien mit frischen, jung klingenden Stimmen besetzt hat, sind erfreulich unaufgeregt, bevorzugen moderate Tempi, die in Relation zum menschlichen Pulsschlag stehen. Er lässt die Choräle langsam und mit Fermaten am Zeilenende singen (zum „Innehalten“ und „Bedenken“). Man hat die ultraschlanken, tief transparenten Aufnahmen von Sigiswald Kuijken noch im Ohr, die faszinierende Einblicke in Bachs Kompositionen erlauben – und ist doch fast mehr berührt von weicheren, fülligeren Chorklang dieser Lutherkantaten. Und möchte gar nicht entscheiden, welcher der Vorzug zu geben wäre – es sind konkurrierende, aber auch einander ergänzende Sichtweisen auf dieselbe grandiose Musik. Und ein guter Einstieg für Kantaten-Novizen.
Bach: Luther-Kantaten
Chorus Musicus Köln, Das Neue Orchester, Leitung: Christoph Spering.
Box mit 4 CDs,
deutsche harmonia mundi
8898 5320 832
Hörbeispiele
Abbildungsnachweis:
Header: Martin Luther und J.S. Bach
CD-Cover
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